Am 15. Juni 2023 entschied das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig über zwei zu einem Verfahren verbundene Klagen (BVerwG 1 CN 1.22, BVerwG 1 C 10.22). In beiden ging es um die Frage des grundrechtlichen Schutzes von Zimmern in Sammelunterkünften von Geflüchteten. Geklagt hatten zwei ehemalige Bewohner von Erstaufnahmeeinrichtungen in Ellwangen und Freiburg.
Hintergrund der ersten Klage (Az: 1 C 10.22) war ein Polizeieinsatz im Juni 2018 in der Erstaufnahmeeinrichtung in Ellwangen. Der Kläger Alassa Mfouapon sollte nach Italien abgeschoben werden, weil er dort zuerst seinen Asylantrag gestellt hatte und damit Italien nach der Dublin III-Verordnung für seinen Asylantrag zuständig war. Mehrere Polizist*innen begleitet von Polizeihunden, drangen in das Zimmer des Klägers ein – einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss hatten sie dafür jedoch nicht. Die Richter*innen des Bundesverwaltungsgerichts stellten zwar ausdrücklich klar, dass der Schutzbereich des Grundrechts der Unverletzlichkeit der Wohnung auch in Geflüchtetenunterkünften uneingeschränkt gilt, sie kamen aber zum dem Schluss, dass die Polizei das Zimmer des Kläger rechtmäßig „betreten“ – nicht „durchsucht“ – hatte. Dies sei „zur Verhütung einer dringenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ nach Artikel 13 Absatz 7 GG erforderlich gewesen, weil es galt, den Kläger noch am selben Tag nach Italien zu überstellen. Aufgrund der geringen Größe des Zimmers sei es möglich gewesen, alles im Zimmer auf einem Blick zu erfassen, ohne dass gezielt nach etwas Verborgenem hätte gesucht werden müssen. Daher sei von einem „Betreten“ und nicht von einer „Durchsuchung“ auszugehen, so das Gericht. Die Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen ist entscheidend für die Zulässigkeit der konkreten Maßnahme, weil das „Betreten“ zum Zweck der Durchführung einer Abschiebung nach § 58 Abs. 5 AufenthG auch ohne Anordnung durch ein Gericht stattfinden kann. Das „Durchsuchen“ einer Wohnung zum selben Zweck (nach § 58 Abs. 6 AufenthG) erfordert hingegen grundsätzlich eine richterliche Anordnung (vgl zu den Begriffen auch den Beitrag von Julian Seidl und Verena Veeckman aus dem Asylmagazin 6/2021, S. 193–197) .
Im zweiten Fall (Az: 1 CN 1.22) hatten Bewohner der Landeserstaufnahmeeinrichtung Freiburg gegen bestimmte Punkte der Hausordnung der Einrichtung geklagt. Unter anderem ging es um Zimmerkontrollen und Zugangs- bzw. Taschenkontrollen beim Betreten des Geländes. Während der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg den Klägern noch in einigen Punkten Recht gegeben hatte, wies das Bundesverwaltungsgericht die Klage als unzulässig ab, da das Rechtsschutzbedürfnis der Kläger nicht mehr gegeben sei, da sie nicht mehr in der Einrichtung untergebracht sind. Die Grundsatzfrage, ob derartige Vorgaben in der Hausordnung einer Aufnahmeeinrichtung die Grundrechte der Betroffenen verletzen, wurde somit vom BVerwG nicht beantwortet.
Beide Klageverfahren wurden von einem Bündnis von Organisationen unterstützt, dem die Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF), PRO ASYL, die Aktion Bleiberecht Freiburg und der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg angehören. Das Bündnis sieht in dem Urteil die Bestätigung der anhaltenden Praxis, die Rechte von Geflüchteten unzulässig zu beschneiden, um migrationspolitische Zeichen zu setzen. Es plant nun den Gang zum Bundesverfassungsgericht.
- PRO ASYL, 19.6.2023: Urteil des Bundesverwaltungsgerichts: Grundrechtsschutz light in Erstaufnahmeeinrichtungen
- Informationsverbund Asyl & Migration, 19.6.2023: BVerwG: Betreten zum Zweck der Überstellung rechtmäßig/Klage gegen Hausordnung unzulässig