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Im türkischen Rassismus vereint

Geflüchtete Menschen in der Türkei sind in Lebensgefahr

Das Leben in ständiger Angst ist leider eine Realität für alle geflüchteten Menschen in der Türkei. Sie sind von willkürlichen Festnahmen durch die Polizei, Abschiebungen und Gewaltwellen bedroht. Sie verheimlichen ihre sichtbaren Identitätsmerkmale, die möglicherweise auf ihre Herkunft hinweisen könnten. Frauen binden ihr Kopftuch auf türkische Art, um als Türkinnen gelesen zu werden. Geflüchtete vermeiden, auf den Straßen Arabisch, Persisch, Dari oder Kurdisch miteinander zu kommunizieren, um rassistische Blicke und Angriffe zu vermeiden. Nach zwölf Stunden körperlicher Arbeit, die ohne Sozial- und Krankenversicherung ausgeübt und gleichzeitig sehr schlecht bezahlt wird, möchten sie einfach nur sicher nach Hause kommen.  

In der Istanbuler Bahn fragte ich einen jungen Syrer, wie es ihm mit den rassistischen und diskriminierenden Vorfällen im Alltag geht. „Ich tue so, als ob ich nichts verstehe, so als wäre ich tot. In der Türkei sind wir in unserem inneren Wesen tot. Wir sind nur bewegliche Gestalten, die arbeiten müssen, um dieser Gestalt Futter zu bieten“, antwortete er. Er war 17 Jahre alt. Die Antwort von einem anderen syrischen Jugendlichen prägt mich bis heute. Er sagte „Die nichtgeflüchteten Menschen genießen ihr Leben und dafür danken sie Gott. Wir, geflüchtete Menschen in der Türkei, danken Gott, dass wir überhaupt leben“. Zwischen diesen zwei Lebensrealitäten liegen Welten. Die Familie meines Onkels lebt seit zehn Jahren in Izmir. Als ich sie besuchte, schlug ich meinem Cousin vor, gemeinsam in die kurdischen Gebiete zu reisen. Er reagierte mit einem Lächeln und sagte „Mit deinem roten deutschen Pass kannst du die ganze Türkei bereisen, aber wir dürfen unsere Region nicht verlassen. Falls wir außerhalb der zugelassenen Bewegungszone erwischt werden, werden wir sofort abgeschoben.“ Er setzte fort: „Innerhalb von zwei Monaten hast du Sehenswürdigkeiten gesehen, die ich in einem ganzen Leben nicht gesehen habe. Und das alles wegen eines Stück Papiers.“ Ich schämte mich für meinen deutschen Pass, für den ich einen langen Kampf mit den deutschen Behörden ausgetragen hatte.

Bei den letzten Wahlen in der Türkei spielte die „Flüchtlingsfrage“ aufgrund ihrer emotionalisierten und populistischen Mobilisierungswirkung eine wesentliche Rolle bei allen Parteien. Populistisch-rassistische Rhetorik, rechtsextremistische Narrative bis hin zu Vernichtungsphantasien prägen den türkischen Diskurs über geflüchtete Menschen. Der Vorsitzende der rechtsextremistischen Zafer Partisi (dt.: Partei des Sieges) Ümit Özdağ propagierte, dass er, wenn er an die Macht käme, an der syrischen Grenze Minen legen würde, um syrische Geflüchtete an der Einreise in die Türkei zu hindern. Im türkischen Diskurs wird die Schuld für die wachsende Inflation in der Wirtschaft, die steigenden Mieten, die Erhöhung der Preise sowie Arbeitslosigkeitsquote geflüchteten Menschen in die Schuhe geschoben. Der ausgeübte Rassismus in der Türkei hat eine lange Geschichte, in der die in der Türkei lebenden Minderheiten immer in Lebensgefahr und andauendem Diskriminierungszustand leben mussten bzw. immer noch müssen. Die Polarisierung der türkischen Gesellschaft wird durch das gemeinsam geteilte rassistische Gedankengut verwischt. So wird zu Lasten geflüchteter Menschen eine vereinte Türkei mit Nationalstolz konstruiert.     

Bei den Kommunalwahlen in diesem Jahr erlebte die seit 2002 regierende AKP eine schwere Niederlage. Erdogan versprach dem türkischen Volk, dass er und seine Partei ihre Fehler korrigieren und ihre Unzulänglichkeiten beseitigen würden. Dazu gehört seine Geflüchtetenpolitik. Nach langjähriger Feindschaft sucht Erdogan seit Monaten über Putin Kontakt zum syrischen Regimepräsidenten Bashar al-Assad, um drei türkische Interessen zu realisieren: die kurdische Identität in Syrien zu vernichten, die Wirtschaftsroute über Syrien zur „Arabischen Welt“ wieder zu aktivieren und die in der Türkei lebenden syrischen Geflüchteten nach Syrien zu remigrieren. Bis diese Ziele der türkischen Regierung vollständig realisiert werden, verfolgen radikale Teile der türkischen Zivilbevölkerung eine militarisierte Vorgehensweise gegen Geflüchtete.         

So eskaliert in den letzten Wochen und Monaten in mehreren türkischen Städten eine andauernde Welle der Gewalt gegen geflüchtete Menschen. Ultranationalistische und islamistische Menschengruppen gehen organisiert auf die Straße und verbreiten Angst und Terror gegen Geflüchteten. Sie zerstören ihr ganzes Hab und Gut, greifen sie mit Messern an, stiften Brände und präsentieren sich als Schützer türkischer Nationalsicherheit und befriedigen mit ihrem Terror ihre Nationalgefühle, die sie als Akt der Liebe zur Heimat definieren. Diese mit Stolz ausgeübte Gewalt lässt geflüchtete Menschen weder auf die Straße gehen noch ihre Kinder zur Schule schicken.

Geflüchtete Menschen in der Türkei befinden sich in Lebensgefahr. Sie sind zum Objekt einer politischen Debatte geworden, von der alle türkisch-nationalistischen Kräfte profitieren. Die Stimmen für eine humane Geflüchtetenpolitik werden als „dumm“ und als westliche Verschwörungstheorie zur Enttürkisierung türkischer Gesellschaft verstanden und somit zurückgedrängt. Eine stark verbreitete feindliche Atmosphäre gegen Geflüchtete ist in den letzten vier Jahren deutlich zu spüren. Während solche gewalttätigen Pogrome stattfinden, präsentiert sich die CDU als Retter Deutschlands, weil sie den EU-Türkei-Deal zustande brachte. Welche negativen Konsequenzen für geflüchtete Menschen in der Türkei dadurch entstehen, wird verschwiegen. Der Türkei-Deal hat deutlich gezeigt, dass Demokratie, Menschenrechte und wir als deutsche Gesellschaft erpressbar sind. Geflüchtete Menschen und Minderheiten leiden in der Türkei ständig unter Angst und Gewaltterror des Wolfgruß-Symboles, während wir in unserem privilegierten Deutschland leben.

Wir dürfen nicht schweigen und wegschauen. Es geht um uns alle. Es geht um die Menschlichkeit. Es geht um die Solidarität. Es geht um freies menschenwürdiges Leben für alle Menschen unseres Planeten.


Monzer Haider, Mitglied des Vorstands vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg