Geflüchtete Kinder warten jahrelang auf Väter und Mütter, Eltern auf ihre Mädchen und Jungen, Kinder auf ihre Geschwister: Zum Internationalen Tag der Kinderrechte (20. November) fordert PRO ASYL die Bundesregierung dazu auf, endlich die Verbesserungen beim Familiennachzug umzusetzen, die sie vor einem Jahr im Koalitionsvertrag angekündigt hat.
„Der Koalitionsvertrag war für viele auf der Flucht getrennte Familien ein Hoffnungsschimmer. Doch ein Jahr später hat sich für die meisten nichts geändert – die Verfahren ziehen sich weiterhin über Jahre, Termine bei den Botschaften sind schwer zu bekommen. Selbst die vergleichsweise einfachen Gesetzesänderungen, die mehr Menschen einen Anspruch auf Familiennachzug verleihen würden, wurden noch immer nicht auf den Weg gebracht. Dazu gehören die Gleichstellung von subsidiär Schutzberechtigen und die Einführung eines Geschwisternachzugs“, sagt Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.
„Seit Jahren verhindern das langsame Handeln der Behörden und der deutsche Paragrafendschungel, dass Familien, die auf der Flucht getrennt wurden, schnell wieder zusammenfinden. Weder die in der UN-Kinderrechtskonvention verbrieften Rechte der Kinder noch der besondere grundrechtliche Schutz von Ehe und Familie stehen in der deutschen Praxis beim Familiennachzug im Mittelpunkt. Die Bundesregierung muss ihre Versprechen aus dem Koalitionsvertrag umsetzen und Familiennachzug erleichtern und beschleunigen“, kritisiert Wiebke Judith weiter
Verbesserungen werden bislang nur durch Klagen erreicht
Die einzige Verbesserung, die es bislang unter der Ampel-Regierung gab, wurde nur durch Klagen erreicht, über die in letzter Instanz der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) entschied. Dieser entschied am 1. August 2022 in zwei wegweisenden Urteilen, dass Eltern beziehungsweise Kindern der Familiennachzug auch dann nicht verwehrt werden darf, wenn die Kinder im Verlauf des Verfahrens volljährig geworden sind. Bislang war der Familiennachzug oft ein Wettlauf gegen die Zeit: Wenn die Kinder während der langwierigen Asyl- und Nachzugsverfahren volljährig wurden, hielten die deutschen Behörden das Recht auf Familie quasi für „abgelaufen“.
Damit ein Anspruch auf Familiennachzug nicht durch langsames Behördenhandeln verloren gehen kann, ist laut EuGH entscheidend, dass die Kinder zu dem Zeitpunkt minderjährig waren, als sie den Asylantrag stellten. Damit ist deutlich: Die Erteilungspraxis der deutschen Behörden in den vergangenen Jahre war rechtswidrig. Neu war diese Rechtsauffassung nicht: Schon im April 2018 hatte der EuGH in einem Fall aus den Niederlanden klargestellt, dass der Anspruch auf Familiennachzug nicht verfällt, wenn die Kinder während des Nachzugsverfahrens volljährig werden.
Nach Urteil: Regierung muss kulante Regelungen finden und Urteil konsequent umsetzen
Wie die Bundesregierung im Oktober 2022 in einer Antwort auf eine Anfrage der Partei Die Linke bekannt gab, wurden die Auslandsvertretungen angewiesen, die Urteile umzusetzen. „Eine schnelle Umsetzung der EuGH-Urteile zum Familiennachzug ist notwendig und europarechtlich vorgeschrieben. Doch damit ist es nicht getan. Denn viele Familien, deren Zusammenführung durch das Ignorieren der früheren EuGH-Rechtsprechung verhindert wurde, werden weiterhin von der Bundesregierung im Stich gelassen. Von der Ampel-Regierung, die sich eine humanitäre und progressive Flüchtlingspolitik auf die Fahnen geschrieben hat, erwarten wir, dass sie kulante Lösungen für solche Fälle findet“, fordert Judith.
Die EuGH-Urteile beziehen sich aus europarechtlichen Gründen nur auf die Flüchtlinge, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt wurden. Wenn die Ampel-Regierung nun, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, subsidiär Schutzberechtigte – zu denen viele Syrer*innen und Eritreer*innen gehören – mit Flüchtlingen gleichstellt, dann muss sie die beiden Gruppen auch in Bezug auf das EuGH-Urteil zur Fristenregelung gleichsetzen. Sonst würde für viele Familien der Wettlauf gegen die Zeit weitergehen.
Auch Geschwister müssen nachziehen dürfen
Zusammen mit terre des hommes Deutschland und vielen weiteren Wohlfahrts- und Menschenrechtsorganisationen fordert PRO ASYL zum Internationalen Tag der Kinderrechte auch, besonders den Nachzug von Geschwistern unbürokratisch zu ermöglichen: #GeschwisterGehörenZusammen.
Im September hatten mehr als 20 Organisationen zudem die Bundesregierung in einem Aufruf an ihren Koalitionsvertrag erinnert und Forderungen zum Familiennachzug aufgestellt. An diesen seit Jahren immer wieder wiederholten Forderungen hat sich nichts geändert:
- Den Rechtsanspruch auf Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten wiederherstellen.
- Den Rechtsanspruch für Geschwister beim Elternnachzug zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten verankern.
- Die aktuellen EuGH-Urteile bezüglich des Zeitpunkts der Minderjährigkeit für volljährig werdende und bereits im Verfahren volljährig gewordene Minderjährige umsetzen.
- Administrative Hürden im Visumsverfahren abbauen durch digitale Antragstellung und ausreichende Finanzierung.
- Das Erfordernis von Sprachkenntnissen vor der Einreise generell abschaffen.