Gegenüber der grün-schwarzen Landesregierung haben baden-württembergische Vertreter*innen vom Flüchtlingsrat, dem Paritätischen Landesverband, Seebrücke und dem Landesverband der Kommunalen Migrantenvertretungen (LAKA) im Rahmen einer Landespressekonferenz am Jahrestag der Vorstellung des Koalitionsvertrages Bilanz gezogen.
Die Verbände hatten vor einem Jahr allesamt im Koalitionsvertrag begrüßenswerte Vorhaben festgestellt, die heute allerdings immer noch fast alle auf ihre Umsetzung warteten.
So kritisierte Seán McGinley vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, es sei in der Realität nichts von der Ankündigung zu erkennen, alle Spielräume auszunutzen um gut integrierte Geduldete zu einem Bleiberecht zu verhelfen und über entsprechende Optionen zu beraten, bevor eine Abschiebung droht. „Es wirkt also eher so, als würden die Behörden alle gesetzlichen Spielräume konsequent nutzen, um Abschiebungen zu ermöglichen, bevor ein Bleiberecht ‚droht‘“, so McGinley. In diesem Sinne bewertete er auch den Umstand, dass Baden-Württemberg – anders als einige andere Bundesländer – keine Vorgriffsregelungen auf die von der Bundesregierung angekündigten ausgeweiteten Bleiberechtsoptionen einführen will, so dass die Personen, die von diesen Regelungen profitieren werden, in Baden-Württemberg Gefahr laufen, vor Einführung der neuen Regelungen abgeschoben zu werden.
Kritisiert hat der Geschäftsführer des Flüchtlingsrats auch das mangelnde Problembewusstsein und das Desinteresse der Opposition angesichts der gerichtlich festgestellten Grundrechtsverletzungen in Erstaufnahmeeinrichtungen und bezüglich der Abschiebungshaft, wo mit dem „Runden Tisch“ der Bürgerbeauftragten und der Einführung einer Sozial- und Verfahrensberatung gleich zwei Ankündigungen des Koalitionsvertrages auf ihre Umsetzung warten.
Die Verbände wiesen darauf hin, dass die aktuelle Hilfsbereitschaft gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine zeige, dass ein ganz anderer Umgang mit Geflüchteten möglich sei, wenn dies politisch erwünscht ist. In diesem Zusammenhang erinnerte Ulrich Bamann von der Seebrücke Baden-Württemberg an das im Koalitionsvertrag angekündigte Landesaufnahmeprogramm für Menschen an den Außengrenzen Europas: „Nachdem es im Februar ein Fachgespräch ‚Humanitäre Aufnahme‘ gab, in dem die Notwendigkeit, die Optionen und die Grundzüge einer Umsetzung diskutiert wurden, stagnierte der Umsetzungsprozess, obwohl sich die Situation von Geflüchteten an den Grenzen Europas weiter verschärft hat. Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs muss heute schon von den ‚Vergessenen‘ auf dem Mittelmeer, auf den griechischen Inseln und auf der Balkanroute gesprochen werden. Ein Landesaufnahmeprogramm ist notwendiger denn je.“
Angesichts der bevorstehenden Eingliederung ukrainischer Geflüchteter in die regulären Sozialsysteme erinnerte Feray Şahin, Leiterin des Bereichs Familie, Kinder, Migration beim Paritätischen Landesverband Baden-Württemberg daran, dass die Landesregierung im Koalitionsvertrag angekündigt hat, den Zugang zu Gesundheitsversorgung für alle Menschen in Baden-Württemberg unabhängig ihres Aufenthaltsstatus zu gewährleisten. Passiert sei in dieser Hinsicht aber nichts. „Wir fordern die Landesregierung auf, Flüchtlinge in unserem Land in der Gesundheitsversorgung gleichzustellen und ab Juni 2022 nicht nur ukrainischen, sondern allen Flüchtlingen den Zugang zu medizinischen Leistungen über das System der Grundsicherung zu ermöglichen“, so Feray Şahin. Beim Stichwort „Ungleichbehandlung” betonte Şahin die Wichtigkeit des angekündigten Landesantidiskriminierungsgesetzes und zeigte sich besorgt darüber, dass die Landesregierung die Zuständigkeit hierfür dem Innenministerium zugewiesen hat. Dies sei ein Zugeständnis gegenüber denen, die behauptet haben, das LADG sei ein „Anti-Polizeigesetz“ und stelle die Polizei unter Generalverdacht. „Fakt ist: Wir haben eklatante Schutzlücken im geltenden Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Bereiche wie Bildung, öffentliche Verwaltung sowie die Ausländer-, Ordnungs- und Polizeibehörden fallen unter Länderhoheit und werden vom AGG nicht berührt. Diese Schutzlücke muss endlich geschlossen werden”, so Feray Şahin.
Für den Landesverband der Kommunalen Migrantenvertretungen ist die Einführung muttersprachlichen Unterrichts in staatlicher Verantwortung ein wichtiges Anliegen. Doch auch diese Ankündigung des Koalitionsvertrages sei noch nicht in die Tat umgesetzt worden.
„Es dauert fünf bis sieben Jahre, bis eine zweite Sprache auf anspruchsvollem Niveau beherrscht wird. Diesen umfassenden Prozess des Deutschlernens müssen wir durch qualifizierte Sprachförderung sichern, in die alle Lehrer eingebunden sind. Um Bildungsgerechtigkeit – ein Ziel der Koalitionsregierung – herzustellen, brauchen wir zusätzlich zur qualifizierten Sprachförderung die Einführung von Herkunftssprachen als reguläres Fach, mit versetzungsrelevanten Noten und Abschlussprüfungen, um Schülerinnen und Schülern mit Migrationserfahrung bessere Bildungsabschlüsse zu ermöglichen. Ohne solche Anstrengungen werden wir auf urteilsfähige Bürger und Fachkräfte verzichten müssen. Darüberhinaus zwingt die Entwicklung vermehrt beide Eltern zur Vollerwerbstätigkeit, um Mieten und Lebenshaltungskosten zu finanzieren. Der flächendeckende Ausbau von Kitas, Ganztagsschulen/Gemeinschaftsschulen ist daher unverzichtbar, um Kindern und Jugendlichen ganzheitliche Bildung und soziale Entwicklung zu ermöglichen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu festigen.”, so LAKA-Vorstandsmitglied Helene Khuen-Belasi. Daher fordert der LAKA die Landesregierung auf, dem Ausbau der breiten Bildung als entscheidendem Standortvorteil Vorrang einzuräumen und Herkunftssprachen als schulische und Bildungsressource anzuerkennen, wie das in fast allen Bundesländern bereits erfolgt.
Die Vertreter*innen der Verbände rufen alle Bürger*innen Baden-Württembergs dazu auf, die Landesregierung an ihre Ankündigungen zu erinnern, sei es in Gesprächen mit ihren Landtagsabgeordneten, oder durch eine neue Postkartenaktion, die im Rahmen der Pressekonferenz vorgestellt wurde.