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Kommunalwahlen in Baden-Württemberg

Spielräume im Sinne geflüchteter Menschen nutzen

Am 9. Juni sind nicht nur Europawahlen, sondern auch Kommunalwahlen in Baden-Württemberg. Für die nächsten fünf Jahre werden Gemeinde- bzw. Ortschaftsräte, Kreisräte und Mitglieder der Regionalversammlung Stuttgart gewählt. Asylpolitik wird zwar zum großen Teil auf Europa- oder Bundesebene gemacht. Doch auch Kommunalpolitiker*innen treffen Entscheidungen, die Einfluss auf die Lebensbedingungen geflüchteter Menschen haben. Kommt daher jetzt mit Lokalpolitiker*innen bei euch vor Ort ins Gespräch. Setzt euch dafür ein, dass in eurer Stadt oder eurer Gemeinde Spielräume im Sinne geflüchteter Menschen genutzt werden. In diesem Artikel haben wir verschiedene Möglichkeiten gesammelt, wie Kommunalpolitiker*innen die Lebensbedingungen geflüchteter Menschen verbessern können.

Menschenwürdige Unterbringungsbedingungen schaffen

Im Jahr 2023 haben in Baden-Württemberg knapp über 36 000 Menschen (vor allem aus der Türkei, Syrien und Afghanistan) einen Asylantrag gestellt. Außerdem haben seit Beginn des Angriffskriegs Russlands im Februar 2022 über 190 000 Schutzsuchende aus der Ukraine ihren Weg nach Baden-Württemberg gefunden. Dass ein Anstieg der Zugangszahlen Kommunen vor Herausforderungen stellt, ist kein neues Phänomen. Dennoch sind die Versorgungslagen in den Kommunen weitaus heterogener, als das in der mit großer Vehemenz geführten öffentlichen Debatte zur Unterbringung und der damit verbundenen Forderung nach Aufnahmestopps suggeriert wurde: „Die Spanne reicht von öffentlich beklagtem Notstand, herausfordernden, aber dennoch leistbaren Anforderungen, bis hin zu relativ entspannten Situationen, weit entfernt von einer Überlastung“, heißt es in einer Expertise vom Mediendienst Integration aus dem Juli 2023. Diese zeigt auf, dass es Kommunen, die besonders aktiv, kommunikativ geschickt und flexibel vorgehen, gut gelingt, bei Bedarf zügig neue Unterkünfte zu akquirieren. Kommunen können zum Beispiel Reserveplätze in Unterkünften freihalten, sich gut mit Wohnungsbaugesellschaften vernetzen, sich um ein solides Datenmanagement bemühen und Auszugskonzepte erarbeiten. Auch in Zeiten sinkender Zugangszahlen muss das Thema Unterbringung konstruktiv angegangen werden und kurzfristige Notlösungen müssen durch menschenwürdige Unterbringungsformen ersetzt werden, die das Recht auf Privatsphäre und freie Entfaltung der Persönlichkeit ebenso gewährleisten wie den Schutz besonders vulnerabler Personengruppen. Um gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, ist es unerlässlich, dass Unterkünfte mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sind und dass es in den Unterkünften freies WLAN gibt.

Ausländerbehörden entlasten

Mehrere Monate Wartezeit, nicht angetretene Jobs, die dauerhafte Angst vor der Abschiebung – unzählige Menschen in Deutschland leiden darunter, dass sich in den Ausländerbehörden die Anträge stapeln. Doch auch an dieser Stelle können die Kommunen eine zentrale Rolle spielen, indem sie unnötig komplizierte Abläufe vereinfachen. Nebenbei werden dadurch denjenigen die Argumente entzogen, die auf Überlastung verweisen, um ihren Forderungen nach noch mehr Abschottungspolitik Nachdruck zu verleihen. Untere Ausländerbehörden sind in Baden-Württemberg in den Landkreisen die Landratsämter bzw. die Gemeindeverwaltungen in den kreisangehörigen und kreisfreien Städten. Die Kommunen können verschiedene Maßnahmen zur kurzfristigen und langfristigen Entlastung der Ausländerbehörden vornehmen und so dafür sorgen, die Lebensrealitäten geflüchteter Menschen in Baden-Württemberg zu verbessern. So kann beispielsweise die Anzahl an Terminen bei der Ausländerbehörde reduziert werden, indem Duldungen und Aufenthaltserlaubnisse für eine im Rahmen der gesetzlichen Spielräume längstmögliche Gültigkeitsdauer ausgestellt werden. Auch bei der Wohnsitzauflage können Abläufe vereinfacht werden. Zum Beispiel ist eine Beteiligung von zwei Behörden, wenn gestattete oder geduldete Person mit Wohnsitzauflage umziehen möchten, anders als bei der Wohnsitzauflage nach § 12a AufenthG für Personen mit Aufenthaltserlaubnis, gesetzlich nicht vorgesehen und deshalb unzulässig. Dennoch wird in der aktuellen Praxis in der Regel sowohl die Ausländerbehörde am aktuellen Wohnort als auch die am Zuzugsort involviert. Außerdem können die Ausländerbehörden durch die Implementierung digitaler Akteneinsicht, den Gebrauch von einfacher Sprache in der Kommunikation mit Geflüchteten, sowie rassismuskritische und aufenthaltsrechtliche Schulungen für ihre Mitarbeitenden entlastet werden.

Schulbesuche und Kinderbetreuung sichern

Ähnlich wie beim Thema „Wohnen“ machen sich strukturelle Defizite und jahrelange Versäumnisse auch in der Kinderbetreuung bemerkbar und betreffen alle Menschen in Form von fehlenden Kapazitäten, die zu langen Wartezeiten führen. Ein mangelnder Ausbau der Schul- und Kinderbetreuungsplätze darf nicht zu Lasten geflüchteter Kinder gehen. Geflüchtete Kinder haben – wie alle anderen Kinder auch – ein Recht auf Bildung. Schulen und Kindergärten müssen zudem geschützte Orte für alle Kinder und Jugendlichen sein. Deshalb müssen sich die Kommunen dafür einsetzen, dass es keine Abschiebungen aus Bildungseinrichtungen geben wird. Vor allem im Interesse der Förderung der Teilhabe geflüchteter Eltern oder Alleinerziehender ist es wichtig, dass während der Integrations- und Sprachkurse Kinderbetreuung angeboten wird. Zudem müssen die Landkreise ausreichend Geld für psychosoziale Beratungsangebote sowie Kinder- und Jugendhilfe zur Verfügung stellen.

Ehrenamtliches Engagement fördern

Ehrenamtliche haben in den vergangenen Jahren enorm viel geleistet und damit auch die staatlichen Strukturen erheblich entlastet und teilweise vor dem Kollaps bewahrt. Es ist mehr als beachtlich, wie viele Menschen – mit oder ohne eigene Fluchterfahrung – weiterhin mit großem Engagement ehrenamtlich geflüchtete Menschen unterstützen. Viele Kommunen erkennen den Wert dieses Engagements an und sorgen dafür, dass die Ehrenamtlichen eingebunden und beteiligt werden und dass ihr Engagement unterstützt und gefördert wird. Sie stellen zum Beispiel Räume bereit, organisieren Fortbildungen und schaffen beziehungsweise erhalten Stellen für Koordinator*innen für ehrenamtliches Engagement. Andernorts haben Ehrenamtliche jedoch das Gefühl, dass die Städte, Gemeinden und Landkreise sie eher als lästig empfinden. Alle Kommunen sollten die Ehrenamtlichen als wichtige Akteur*innen sehen, ihr Engagement wertschätzen und vor allem auch praktisch unterstützen. Gleichzeitig sollten sie ihre Unabhängigkeit respektieren und ihnen Freiräume zur selbstbestimmten Entfaltung ihres Engagements lassen. Sie sollten sie auch nicht unter Druck setzen, wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt oder versuchen, sie zu Handlangern der Behörden zu machen.

Menschen über ihre aufenthaltsrechtlichen Möglichkeiten informieren

Anträge auf Asyl werden natürlich nicht auf kommunaler Ebene entschieden und für Duldungen ist zentral das Regierungspräsidium Karlsruhe zuständig. Doch lokale Ausländerbehörden entscheiden über Anträge auf Aufenthaltserlaubnisse, was zentral ist, wenn es zum Beispiel um Bleiberechtsregelungen geht. Ein großes Problem ist, dass viele derjenigen, die möglicherweise von diesen Regelungen profitieren könnten, nicht hinreichend informiert sind. Seit Anfang 2023 gibt es das Chancenaufenthaltsrecht (§ 104c AufenthG) – eine einmalige und befristete Aufenthaltserlaubnis für am 31.10.2022 seit fünf Jahren in Deutschland lebende und geduldete Personen, welche auch viele Menschen in Baden-Württemberg bereits erfolgreich beantragt haben. Doch um nach 18 Monaten nicht wieder in den prekären Status einer Duldung zurückzufallen, müssen Betroffene rechtzeitig über anschließende Bleiberechtsoptionen nach § 25a und § 25b AufenthG informiert werden. Die Kommunen sollen darauf achten, dass die Ausländerbehörden potenziell Betroffene in einer Art und Weise informieren, dass Informationen auch tatsächlich ankommen und verstanden werden können.

Rassistische Strukturen bekämpfen und Diversität fördern

Kommunen müssen das Signal aussenden, dass sie für alle Einwohner*innen da sind. Hierzu gehört die Förderung von rassismuskritischer Kompetenz des Personals in kommunalen Einrichtungen und Behörden, die mit entsprechenden Fortbildungen sensibilisiert und aufgeklärt werden müssen. Kommunen müssen auf einen respektvollen und wertschätzenden Umgang ihres Personals mit allen Menschen bestehen und Diskriminierung bekämpfen. Kommunen sollten sich auch als Arbeitgeber öffnen und bei Einstellungen darauf achten, die gesellschaftliche Diversität widerzuspiegeln. Mit verschiedenen Maßnahmen wie Praktika, Einstiegsqualifizierungen und Ausbildungen können Kommunen geflüchtete Menschen in ihren Bemühungen um gesellschaftliche Teilhabe im Bereich der Arbeit unterstützen. Die Organisation von Dolmetscher*innenpools auf lokaler Ebene ist ebenfalls eine wichtige Aufgabe. Ein weiteres Beispiel dafür, wie Kommunen ein Zeichen der Offenheit an Geflüchtete und neu Hinzugezogene aussenden können, sind mehrsprachige lokale Wegweiser, wie es sie an einigen Orten gibt.

Kommunalwahlen 2024: Wo ist die Stimme der Engagierten?

Für die am 9. Juni stattfindenden Kommunalwahlen werben Politiker*innen auf kommunaler Ebene um Stimmen. Alle, die mehr Einsatz für eine menschliche Geflüchtetenpolitik auf lokaler Ebene fordern, sollten diese Gelegenheit nutzen: Fragt eure Kandidat*innen, wie sie die in dieser Mail genannten Spielräume nutzen möchten. Überlegt euch, welche Kommunalpolitiker*innen und Bewerber*innen in den letzten Jahren dazu beigetragen haben, die Lebensbedingungen geflüchteter Menschen in Baden-Württemberg zu verbessern. Ermutigt andere Engagierte und Personen aus eurem Umfeld, das Gleiche zu tun! Tragt so dazu bei, dass in den kommenden fünf Jahren in den Gemeinderäten und Kreistagen Baden-Württembergs eine starke Stimme für eine menschliche Geflüchtetenpolitik vertreten ist!