Hinter jeder Fluchtgeschichte steht ein Mensch. Ein Mensch mit individuellen Eigenschaften, Erfahrungen und Bedürfnissen. „Den Flüchtling“ gibt es nicht, die einzige Gemeinsamkeit von Geflüchteten ist, dass sie in der Hoffnung auf Schutz und ein besseres Leben ihr Land verlassen haben. Entsprechend unterschiedlich und vor allem vielschichtig sind die Ursachen, die zur Flucht geführt haben. Laut Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist nur die Person ein Flüchtling, die ihr Land aus „Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ verlassen hat. Die GFK bezieht sich dabei explizit nicht auf Menschen, die vor Konflikten wie zum Beispiel Kriegen fliehen. Auch geschlechterspezifische Verfolgung, Hungersnöte, Verfolgung aufgrund der Sexualität, weibliche Genitalbeschneidung, Wehrdienstverweigerung oder Naturkatastrophen werden von der GFK nur teilweise umfasst. Allen Gründen gemein ist die Angst um das eigene Leben, um das Wohlergehen der Kinder und der Familie und die Hoffnung auf ein besseres Leben. Die allermeisten Menschen fliehen nicht aufgrund von einer Ursache, sondern wegen des Zusammenwirkens von mehreren Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über unterschiedliche Fluchtursachen und deren komplexes Zusammenwirken gegeben werden.
I. Krieg und Gewalt
Krieg ist weltweit die zentrale Fluchtursache. In fast jedem siebten Staat herrscht entweder Krieg oder eine bewaffnete Auseinandersetzung (medico international 2021). Gut 24 Millionen Menschen waren 2020 auf der Flucht vor gewaltsamen Auseinandersetzungen. Geflüchtete aus Ländern, in denen seit Jahrzehnten Krieg und Gewalt herrschen, wie Somalia, dem Sudan, Afghanistan aber auch Kolumbien, leben oftmals seit Generationen im Exil. Auch mehr als 70% der Menschen, die in Deutschland nach Asyl suchen, kommen aus akuten Krisen- und Kriegsgebieten (UNHCR 2021). Im Jahr 2021 gab es 204 gewaltsame Konflikte auf der Welt. Davon werden 20 als Kriege eingeordnet.
Jeder kriegerische Konflikt führt zu existenziellen Bedrohungen für die Bevölkerung: Menschen fliehen vor Kämpfen und Bombenhagel. Die Gewalt richtet sich oft auch gezielt gegen Zivilist*innen: Menschenrechtsverletzungen, Vergewaltigungen, Massenhinrichtungen, Verschleppung oder die zwangsweise Rekrutierung von jungen Männern oder auch Kindern sind in vielen Regionen zu Mitteln der Kriegsführung geworden. Ein normales Leben wird oftmals unmöglich, gewaltsame Konflikte und Kriege führen zu Tod und Verletzungen, Armut und Hunger. Auch die Lebensgrundlage wird zerstört: Felder können nicht mehr bestellt werden, Arbeitsplätze fallen weg, Lebensmittel werden knapp und Preise steigen. Weiterhin gibt es Angriffe auf die Infrastruktur: Straßen, Brücken, Strom- und Wasserversorgung, Schulen und Krankenhäuser werden beschädigt oder zerstört, Medikamente und medizinisches Gerät wird knapp.
An bestehenden Konflikten sind Deutschland und andere Nationen des Globalen Nordens (die neutralen Bezeichnungen Globaler Norden und Globaler Süden sind weniger geografisch zu verstehen, sondern zielen vor allem darauf ab, ein Land nach seinen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Charakteristiken im globalen Kontext einzuordnen) nicht unbeteiligt: Durch Waffenhandel tragen diese Staaten eine entscheidende Mitverantwortung für die gewaltsame Eskalation dieser Konflikte und den Tod tausender Zivilist*innen. So verkauft Deutschland jährlich Waffen und Rüstungsgüter für mehrere Milliarden Euro und gehört dadurch nach den USA, Russland, China und Frankreich zu den größten Waffenexporteuren weltweit.
Weitere Informationen:
- UNHCR: Krieg und Gewalt als Fluchtgrund
- Amnesty International: Länderberichte
- Medico International: Fluchtursache Krieg und Gewalt
- Weiterführende Artikel zum Thema Waffenhandel und Rüstungsexporte: Homepage Jürgen Grässlin
II. Menschenrechtsverletzungen
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“
Die ersten drei Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sind glasklar formuliert. Sie sind universell, unveräußerlich und unteilbar. In der Realität sieht es jedoch ganz anders aus.
Häufig macht die stumme Gewalt der Lebensverhältnisse ein Leben in Würde, Freiheit und Sicherheit unmöglich: Kein Zugang zu sauberem Wasser, ausreichender Nahrung, einem Dach über dem Kopf, zu Bildung und Gesundheit. Darüber hinaus ist die Beschneidung von Rechten durch Gesetze und staatliches Handeln in vielen Ländern gang und gäbe: Drei von vier Regierungen schränken die Meinungsfreiheit ein. In mehr als drei von fünf Ländern werden Menschen gefoltert oder anderweitig misshandelt. Beispielsweise gibt es in 69 Ländern Gesetze, die gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Strafe stellen (ILGA World: Homophobia Report). Das sind nur einige Beispiele, die zeigen, dass die Verfolgung von politischen Meinungen und von der Mehrheit abweichenden Lebensweisen auf der Welt nicht die Ausnahme, sondern die Regel darstellt und zu Flucht führt.
Obwohl Deutschland alle internationalen Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte unterzeichnet hat, vergibt die EU Milliarden an Staaten wie Eritrea, den Sudan, Marokko oder die Türkei, die Menschenrechte systematisch missachten, damit diese Staaten Menschen von der Flucht in Richtung Europa abhalten.
Weitere Informationen:
- Amnesty International Report 20/21: Zur weltweiten Lage der Menschenrechte
- Menschenrechtsverletzungen als Fluchtgrund: UNO Flüchtlingshilfe
III. Klimawandel/Naturkatastrophen
Naturkatastrophen und die Auswirkungen des Klimawandels zwingen Menschen zur Flucht. Naturkatastrophen mit fatalen Folgen gab es schon immer. Jedoch werden sie durch die globale Klimaerwärmung um ein Vielfaches verschärft und entstehen auch häufiger. Das Weltklima ändert sich deutlich schneller als angenommen und verursacht in vielen Regionen der Welt Dürre, Überschwemmungen und schwere Stürme. Betroffen sind vor allem krisengeschüttelte Länder des Globalen Südens. Diese haben meist nicht die Ressourcen, um die Auswirkungen zu verhindern oder sich an die zunehmend unwirtliche Umwelt und die erschwerten Lebensbedingungen anzupassen. Seit 2008 wurden pro Jahr durchschnittlich mehr als 26 Millionen Menschen aufgrund extremen Klimas aus ihrer Heimat vertrieben, die Zahl ist klar steigend. In Deutschland und Europa ist dies jedoch kaum sichtbar, da zum einen die Folgen des Klimawandels hier nur bedingt spürbar sind und zum anderen der Großteil der betroffenen Menschen Zuflucht in den angrenzenden Regionen sucht und somit häufig das Land nicht verlässt.
Klimawandel, Konflikte, Armut, Ernährungsunsicherheit und Vertreibung überschneiden sich zunehmend, so dass immer mehr Menschen auf der Suche nach Sicherheit fliehen müssen. Prognosen von Klimaforscher*innen zeigen ganz klar, dass sich die bestehenden Probleme zukünftig vervielfachen werden: Begrenzte natürliche Ressourcen wie Trinkwasser werden noch knapper. Land- und Viehwirtschaft werden in vielen Gebieten aufgrund von Hitze und Trockenheit nicht mehr möglich sein. Die bereits kritische Situation und die bestehenden Konflikte um Ressourcen werden sich deutlich verschärfen.
Weitere Informationen:
- UNHCR: „Klimawandel als Fluchtgrund“
- Bundeszentrale für politische Bildung: Zusammenhang zwischen Klimawandel und Migration
- IDMC: Internal Displacement 2020
- Medico: „Fluchtursache. Umweltzerstörung und Klimawandel“
Weitere Fluchtursachen: