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Pro Asyl: Zehn Jahre nach dem Völkermord

PRO ASYL und Wadi fordern Bleiberecht für Jesid*innen in Deutschland

Vor dem zehnten Jahrestag des Völkermords an den Jesid*innen im Irak fordern PRO ASYL und Wadi e.V. ein Bleiberecht für Jesid*innen in Deutschland. Die Opfer des vom Bundestag anerkannten Völkermords brauchen Sicherheit. Im ersten Schritt muss endlich ein bundesweiter Abschiebestopp beschlossen werden.

„Aus Deutschland dürfen keine Opfer des Völkermords abgeschoben werden. Die Jesid*innen brauchen Sicherheit und ein Bleiberecht hier. Statt den Überlebenden dieses vom Bundestag anerkannten Genozids diese Sicherheit zu gewähren, droht die Abschiebung an den Ort des Völkermords. Es muss endlich ein bundesweiter Abschiebestopp beschlossen werden“, sagt Karl Kopp, Geschäftsführer von PRO ASYL.

Auch wenn aktuell keine neuen Abschiebungen bekannt sind, wird Jesid*innen gezeigt, dass sie in Deutschland keine Perspektive bekommen sollen. In Bayern zum Beispiel wird irakischen Geflüchteten, darunter auch Jesid*innen, systematisch die Duldung entzogen oder als ungültig gestempelt. Damit verlieren sie ihre Arbeitserlaubnis und auch die Möglichkeit, in einer eigenen Wohnung zu leben. Und auch in anderen Bundesländern werden Jesid*innen behördlich unter Druck gesetzt und ihnen werden Sanktionen wie Arbeitsverbot und Leistungskürzungen angedroht.

Flüchtlingslager im Irak sollen geräumt werden 

Mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen im Irak ist ein Abschiebestopp längst überfällig: Die Lage für Jesid*innen hat sich in den letzten Wochen verschärft. Nach dem Willen der irakischen Regierung sollen Zehntausende Jesid*innen die Flüchtlingslager im Nordirak verlassen – ohne, dass es einen sicheren Ort für sie gibt.

Konkret bedeutet das: Genau zehn Jahre nach dem Beginn des Völkermords durch den IS stehen die Jesid*innen im Irak vor einer völlig ungewissen Zukunft. Es ist unklar, ob die Lager ab August noch eine Grundversorgung erhalten, ob die Schulen in den Camps nach den Sommerferien wieder öffnen werden. Die Entscheidungen Bagdads haben schon jetzt verheerende Auswirkungen auf die Menschen.

„Grundsätzlich wäre es gut, wenn die Jesidinnen und Jesiden endlich die Lager verlassen und ein normales Leben führen könnten. Doch genau das passiert nicht: Denn die Jesidinnen und Jesiden können in ihrer Herkunftsregion Sinjar im Irak nicht sicher leben – und auch in anderen Regionen im Irak nicht. Ohne diese Camps drohen sie obdachlos, mittellos und schutzlos zu werden, zudem verlieren sie ihre Schulen und ihre Gesundheitsversorgung“, betont Shokh Mohammed von Wadi e.V.

Auswärtiges Amt: Zukunftsaussichten bleiben schwierig 

Das sieht das Auswärtige Amt ähnlich. Im aktuellen Lagebericht zum Irak (Stand April 2024) heißt es: Ungeachtet von Bemühungen, die Lage der Jesid*innen zu verbessern, „bleiben die Zukunftsperspektiven in Sinjar angesichts herausfordernder Lebensbedingungen, der Präsenz von nicht-staatlichen Milizen sowie einer mangelnden Umsetzung des sog. Sinjar-Abkommen schwierig. Auch das kollektive Trauma des Völkermords stellt für Mitglieder der Gemeinschaft häufig ein Rückkehrhindernis dar, zumal in die traditionellen Siedlungsgebiete und Orte des IS-Verbrechens in Sinjar. Die geplante Schließung von IDP Camps [IDP=Internally displaced persons] in der Region Kurdistan Irak zum 30. Juli 2024 und damit verbundene Umsiedlung in ‚informelle Camps‘ mit mutmaßlich schlechterer Versorgung würde die Lage der mehrheitlich in Camps lebenden Jesid*innen zusätzlich verschärfen.“


Hintergrund: Die Lage für Jesid*innen im Irak 

Vor zehn Jahren, am 3. August 2014, begann die Terrororganisation IS damit, jesidische Frauen, Männer und Kinder zu verschleppen, zu versklaven, zu vergewaltigen und zu töten. Seit diesem Massaker und auch weiter nach dem Sieg über den IS 2017 leben die meisten Jesid*innen noch immer in Flüchtlingslagern, weil sie wegen der prekären Sicherheitslage in ihrer Heimatregion Sinjar (Shingal) keine Möglichkeit haben, in ihre früheren Orte und Häuser zurückzukehren.

Diese IDP-Camps (Internally Displaced Persons) für die Jesid*innen liegen in den von der kurdischen Regionalregierung verwalteten Gebieten des Irak, für ihren Unterhalt ist jedoch größtenteils die irakische Zentralregierung zuständig. Diese hat angekündigt, die Unterstützung für die Camps zum 31. Juli einzustellen. Die Regierung in Bagdad will, teils mit finanziellen Anreizen, teils mit Druck, die Jesid*innen dazu bewegen, in den Sinjar zurückzukehren.

Basma Aldikhi, Mitarbeiterin von Wadi e.V. und jesidische Aktivistin, die vom IS verschleppte und missbrauchte Frauen und Mädchen unterstützt, hat beobachtet: „Die Menschen in den Camps sind überall unerwünscht, sie haben das Gefühl, dass sie von überall vertrieben und weder von Kurdistan noch vom Irak akzeptiert werden.“

In diese völlig unsichere Situation dürfen deutsche Bundesländer keine Jesid*innen abschieben. Ihr Herkunftsgebiet Sinjar liegt im strategisch wichtigen Grenzgebiet zwischen Irak, Syrien, Türkei und Iran. Dort kämpfen verschiedene staatliche und nichtstaatliche Akteure, teils mit Waffengewalt, um die Macht. Aktuell läuft im Nordirak eine erneute Militäroffensive der türkischen Armee gegen Einheiten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Auch in andere Gebiete Iraks könnten Jesid*innen nicht ziehen, denn ohne ihre Gemeinschaft sind sie schutzlos Ausgrenzung, Diskriminierung und Angriffen ausgesetzt.

Ausführlich beschrieben ist die verfahrene Situation im Gutachten „Zehn Jahre nach dem Völkermord: Zur Lage der Jesidinnen und Jesiden im Irak“, das PRO ASYL und Wadi e.V. im April 2024 veröffentlicht haben. Das Ergebnis: Ohne relevante Sicherheitsgarantien, eine jesidische Selbstverwaltung, funktionierende Strafverfolgungsmaßnahmen und Entschädigungsprozesse sowie Klärung des Status der umstrittenen Gebiete und einer Demilitarisierung kann über eine Zukunft der Jesid*innen im Irak nicht einmal ansatzweise diskutiert werden.