Flüchtlingsrat fordert weitgehende Maßnahmen zum Schutz von Geflüchteten und Personal in Unterkünften und Behörden zur Eindämmung der Pandemie. Der Ausbruch des Corona-Virus betrifft die gesamte Gesellschaft, auch Geflüchtete. Diese sind aufgrund der sozial beengten Unterbringung in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften besonders von einer Infektion mit dem Coronavirus bedroht. Aufgrund der schnellen Verbreitung wird sich der Virus in solchen Unterkünften einfach zwischen den Bewohner*innen übertragen. Dort kann weder ein Sicherheitsabstand eingehalten werden, noch können soziale Kontakte vermieden werden. Wer sich Gemeinschaftsküchen teilt, in Mehrbettzimmern wohnt, aus derselben Kantine versorgt wird und die Sanitäranlagen gemeinsam nutzt, ist immer mit anderen Menschen in Kontakt. Zudem müssen Geflüchtete regelmäßige Termine bei Behörden wahrnehmen.
Überall treffen Geflüchtete auf eine große Zahl weiterer Geflüchtete, sowie auf Mitarbeiterinnen aus Behörden, Unterkunftsverwaltung, Sicherheitsdiensten, Richterinnen, Dolmetscher*innen, und sonstigem Personal. Deshalb setzt sich der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg für erhöhte Schutzmaßnahmen ein und fordert:
Gesundheitsversorgung
- Illegalisierten (Menschen ohne Papiere) muss der Zugang zum regulären Gesundheitssystem und zu Corona-Tests ermöglicht werden. Dies erscheint auch epidemiologisch sinnvoll! Voraussetzung dafür ist eine Zusage, dass Gesundheitsämter keine Informationen an Ausländerbehörden und Polizei weitergeben werden. Eine temporäre Gesundheitskarte einzuführen, wäre eine Lösung.
Unterbringung
- Das Land muss dringend in Kooperation mit den Kommunen die Anzahl der Personen in den Massenunterkünften deutlich reduzieren und möglichst viele Menschen dezentral unterbringen. Hierzu sind sämtliche freie Kapazitäten einzubeziehen, ggf. muss über die Anmietung von Hotels oder Pensionen nachgedacht werden, um die Belegungsdichte zu reduzieren.
- Sofortige Verteilung aller besonders gefährdeten Personen (Personen über 60, Personen mit Vorerkrankungen) aus Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften auf dezentrale Unterkünfte, in denen der gebotene Sicherheitsabstand eingehalten werden kann.
- Kostenfreie Tests für alle Bewohnerinnen von Massenunterkünften, in denen bereits Menschen positiv auf das Corona-Virus getestet wurden, mit anschließender Verteilung derjenigen, die negativ getestet wurden, aus Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften auf dezentrale Unterkünfte, in denen der gebotene Sicherheitsabstand eingehalten werden kann. Nur so kann eine schnelle Ausbreitung verhindert werden.
- In Unterkünften und Einrichtungen, in denen Bewohnerinnen positiv getestet wurden, muss für eine adäquate Betreuung gesorgt werden. Werden einfach nur Gebäudetrakte oder ganze Unterkünfte von Polizei und Sicherheitsdiensten abgeriegelt, wirkt das nicht wie eine Schutzmaßnahme, sondern wie Strafarrest. Die Verlegung der Gesunden erlaubt eine adäquate Betreuung der Erkrankten. Die Erkrankten sollten weiterhin für Freunde und Familie, Sozialarbeiterinnen, Ehrenamtliche und Behörden kontaktierbar sein, in dem ihnen Internetzugang gewährt wird und ggf. Telefone zur Verfügung gestellt werden.
- Menschen, die unter häuslicher Quarantäne in Erstaufnahmeeinrichtungen stehen, müssen sich entsprechend ihren Ernährungsgewohnheiten versorgen können und die dazu nötigen Lebensmittel erhalten. Auch muss bei Quarantäne die Auszahlung von Bargeld zur Deckung des persönlichen Bedarfs sichergestellt sein. Weiterhin sollten diese Personen für Freundinnen und Familie, Sozialarbeiterinnen, Ehrenamtliche und Behörden kontaktierbar sein, indem ihnen Internetzugang gewährt wird und ggf. Telefone zur Verfügung gestellt werden.
- In vielen Unterkünften stehen Betten leer, regelmäßig werden deshalb einzelne Zimmer und ganze Gebäudetrakte geschlossen. Die leerstehenden Zimmer müssen geöffnet werden, um die Belegung der Unterkünfte zu entzerren und die Einhaltung eines Sicherheitsabstandes zwischen den Bewohnerinnen zu ermöglichen.
- Es muss sichergestellt werden, dass in allen Sanitärräumen und Küchen ausreichend Flüssigseife, Papierhandtücher, WC-Papier und ggf. Desinfektionsmittel zur Verfügung steht. Zusätzlich regen wir an, Mittel zur Desinfektion der Hände auf allen Etagen bereitzustellen.
- Die Reinigungsfrequenz der Sanitärräume, Küchen und übrigen Gemeinschaftsflächen sollte erhöht werden (mind. 2x täglich). Das durch angemessene Ausstattung zu schützende Reinigungspersonal sollte Türgriffe, Türflächen und -rahmen im Griffbereich sowie die Sanitärobjekte mit Desinfektionsmittel reinigen, soweit noch nicht der Fall.
- Um zum Infektionsschutz ein häufigeres Wäschewaschen zu ermöglichen, sollten die Unterkünfte mit mehr Waschmaschinen und Trocknern ausgestattet werden. Beschränkungen der Waschtemperatur auf 40 Grad sind ggf. aufzuheben.
- Für die Unterkünfte von Geflüchteten sollte das Gleiche gelten wie für jedes private Wohnhaus. Dies beinhaltet auch das Recht, nach eigenem Ermessen Besuch zu empfangen, so lange es keine allgemeine Ausgangs- und Kontaktsperre gibt. Pauschale Besuchsverbote in Unterkünften lehnen wir deshalb ab.
Umfassende Information
- Die Bevölkerung ist höchst verunsichert ob der Gefahren einer Coronainfektion. Das gilt umso mehr für Geflüchtete, die aufgrund fehlender oder geringer Deutschkenntnisse vom öffentlichen Informationsfluss abgeschnitten sind und auf informelle Kanäle zurückgreifen. In Zusammenarbeit mit den Gesundheitsbehörden müssen deshalb schnell offizielle Informationsmaterialen übersetzt und in den Unterkünften in den Sprachen der dort untergebrachten Geflüchteten zur Verfügung gestellt werden. Zudem sollten Telefon-Hotlines mit Dolmetscherinnen geschaltet werden für alle Geflüchteten und Migrantinnen, umdrängende Fragen direkt beantworten zu können.
Behördliche Verfahren
- Termine bei Behörden bergen ein unabsehbares Infektionsrisiko, weil sich hier besonders viele Geflüchtete in engen Wartebereichen über längere Zeit aufhalten müssen. Deshalb müssen alle nicht unbedingt notwendigen Termine zur persönlichen Vorsprache abgesagt werden, um Infektionsgefahren zu minimieren. Auch Delegationsvorführungen müssen sofort abgesagt werden. Es ist unverantwortlich, dass diese Woche in Karlsruhe gerade Vorführungen bei einer nigerianischen Delegation stattfinden.
- Das BAMF sollte keine, insbesondere keine nachteiligen, Entscheidungen mehr erlassen! Beratungsstellen und Kanzleien schließen nach und nach. Der Zugang zu einer effektiven Rechtsberatung ist nicht mehr gewährleistet.
- Es muss verhindert werden, dass Geflüchtete aus Angst vor ablaufenden Fristen trotz massiver Infektionsrisiken zu Rechtsanwältinnen, Behörden, Gerichten, Botschaften und Konsulaten fahren. Vorbildlich ist hierbei die Stadt Mannheim, die bekannt gegeben hat, dass niemandem ein rechtlicher Nachteil entstehen wird, wenn er oder sie aufgrund der Corona-Pandemie eine Behörde nicht aufsucht und deshalb eine Frist nicht einhalten kann. Wir fordern dieses Vorgehen von allen Behörden in Baden-Württemberg.
- Auf persönliche Vorsprachen bei Ausländerbehörden sollte verzichtet werden. Aufenthaltsgestattungen, Aufenthaltserlaubnisse und Duldungen müssen vorübergehend unbürokratisch von Amts wegen verlängert und am besten mit der Post zugestellt werden. Sämtliche öffentliche Stellen wie Jobcenter, Sozialämter, Polizei, Zoll sowie Arbeitgeberverbände, Immobilieneigentümerinnen sollten darüber informiert werden, dass für in Baden-Württemberg wohnhafte ausländische Personen befristete Dokumente zum Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet als fortbestehend gelten, solange die Landes- und Bundesregierung die Corona-Maßnahmen aufrecht erhalten.
- Es muss vermieden werden, dass Geflüchtete die ihnen zustehenden Sozialleistungen nicht erhalten, weil die Sozialämter nicht mehr für den Publikumsverkehr geöffnet sind. Die Auszahlung des menschenwürdigen Existenzminimums muss gewährleistet werden, notfalls vor Ort in den Unterkünften oder per Überweisung.
- Es muss ermöglicht werden, Arbeitserlaubnisverfahren für Asylsuchende und Geduldete online zu erledigen und alle Infos zum Verfahren auf der Website der jeweiligen Behörden zur Verfügung zu stellen.
- Im Rahmen des Familiennachzugs gebuchte Flüge und Visa verfallen, da nicht-Europäer*innen nicht mehr einreisen dürfen. Die Botschaften müssen Visa unkompliziert und ohne erneute Überprüfung verlängern, gerade deshalb, weil viele Familien schon jahrelang getrennt sind und der Nachzug unverschuldet nicht stattfinden kann. Die Länder sollten finanzielle Unterstützungsleistungen bereitstellen, sodass die Familienangehörigen zeitnah nach einer Corona Entwarnung Tickets buchen und einreisen können.
Abschiebungen und Abschiebungshaft aussetzen!
- Abschiebungen innerhalb Europas finden nur noch eingeschränkt statt, da der Luftverkehr und grenzüberschreitender Verkehr deutlich reduziert sind. Soweit es immer noch zu Abschiebungen kommt, sind diese unverzüglich einzustellen, da sie sowohl für die abzuschiebenden Geflüchteten als auch die Landes- und Bundespolizeibeamt*innen und das Flugpersonal ein inakzeptables Infektionsrisiko bergen. Zudem besteht die Gefahr, dass der Coronavirus in andere Länder weitergetragen wird. Abschiebungen müssen deshalb generell ausgesetzt werden.
- Immer noch befinden sich Menschen in der Abschiebungshafteinrichtung Pforzheim, obwohl davon auszugehen ist, dass ihre Abschiebungen nicht in absehbarer Zeit durchgeführt werden können. Die inhaftierten Menschen müssen sofort entlassen werden!
Solidarität mit Wohnungslosen!
- Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg schließt sich weiterhin den Initiativen an, die den Zugang für Wohnungslose zu geschützten Räumen, weg von Notunterkünften, fordern und zur Prävention von Wohnungslosigkeit einen Stopp von Zwangsräumungen und dergleichen fordern.
Aufenthaltsrechtliche Konsequenzen
- Es ist absehbar, dass sich aufgrund der Corona-Pandemie die wirtschaftliche Lage vieler Betriebe verschlechtern wird. Infolge dessen werden wahrscheinlich auch Menschen ihre Arbeit verlieren. Hiervon sind erfahrungsgemäß überproportional prekäre Beschäftigungsverhältnisse betroffen, die häufig von Menschen mit Migrationshintergrund ausgeübt werden. Gerade bei Regelungen wie der Bleiberechtsregelung oder der neuen Beschäftigungsduldung hängt der Aufenthalt davon ab, dass man den Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit sichert. Hier sollte per Erlass klargestellt werden, dass Unterbrechungen der Lebensunterhaltssicherung infolge der Corona-Pandemie keine negativen aufenthaltsrechtlichen Auswirkungen haben. Entsprechende Aufenthaltserlaubnisse und Ermessensduldungen zur Arbeitssuche sollten großzügig und über einen mindestens neunmonatigen Zeitraum ausgestellt werden.