Mit Entsetzen verfolgt der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg die dramatischen Entwicklungen in Afghanistan, wo die Taliban die Macht übernommen haben und tausende Menschen versuchen, sich in Sicherheit zu bringen. Nicht minder entsetzt ist der Flüchtlingsrat über das beschämende und menschenfeindliche Verhalten der politisch Verantwortlichen in Deutschland, die bis wenige Tage vor der Eroberung Kabuls durch die Taliban in erster Linie darauf bedacht waren, die mittlerweile zusammengebrochene Regierung unter Druck zu setzen, um weitere Abschiebungen hinzunehmen. Zuletzt sollte am 10. August eine Sammelabschiebung stattfinden, an der sich auch Baden-Württemberg beteiligt hätte, wenn sie nicht kurzfristig storniert worden wäre.
Den Flüchtlingsrat erreichen Anfragen von verzweifelten Menschen, deren Familienangehörige sich noch in Afghanistan befinden. Teilweise geht es um Menschen die auf ein Visum zum Familiennachzug warten, teilweise um Personen, wegen ihrer Tätigkeiten hoch gefährdet sind. In anderen Fällen geht es um Afghan*innen, die ein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben, und sich gerade in Afghanistan aufhalten. Aktuell können sie sich von den deutschen Behörden nicht viel erwarten. Wie das Auswärtige Amt bei Anfragen mitteilt, werden bei der Evakuierung zurzeit nur Personen mit einer deutschen Staatsbürgerschaft berücksichtigt.
„Dass so viele gefährdete Menschen in Afghanistan gerade ihrem Schicksal überlassen werden, ist das direkte Ergebnis davon, dass die Bundesregierung praktisch bis zum Tag der Machtübernahme der Taliban darauf bedacht war, die Lage in Afghanistan schönzureden, um Asylanträge von Afghan*innen ablehnen und Abschiebungen rechtfertigen zu können. Dazu hat sie die Warnungen unzähliger Betroffener und Länderexpert*innen bewusst ignoriert. Das kann man eigentlich nur als politisch motivierte Ignoranz bezeichnen“, so Seán McGinley, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg.
Noch Ende Juni hatten Union die SPD im Bundestag einen Antrag im Bundestag auf erleichterte Aufnahme afghanischer Ortskräfte abgelehnt – aus Prinzip, wie mittlerweile eingeräumt wird. Bereits seit Wochen wird in der Praxis deutlich, dass die Evakuierung von Ortskräften in sehr vielen Fällen an hohen bürokratischen Hürden und politischem Unwillen scheitert. Unterdessen scheint für den Kanzlerkandidaten der Union, Armin Laschet, das oberste Ziel darin zu bestehen , dass möglichst wenige Menschen aus Afghanistan Zuflucht in Deutschland finden.
„Laschet spricht davon, dass sich ‚2015 nicht wiederholen darf‘, der Baden-Württembergische Fraktionschef Manuel Hagel weist scheinheilig darauf hin, dass man ‚nicht alle afghanischen Probleme in Deutschland lösen kann‘. Mit solchen unehrlichen Argumentationen, die wir aus Framing-Strategien der extremen Rechten kennen, machen Politiker der selbsternannten politischen Mitte Stimmung gegen schutzbedürftige Menschen, rechtfertigen die tödliche Abschottungspolitik an der Außengrenzen Europas und ignorieren vollkommen, dass Afghanistans Nachbarländern Iran und Pakistan schon vor der aktuellen Eskalation des Konflikts insgesamt über fünf Millionen Geflüchtete aus Afghanistan aufgenommen hatten – rund 20 Mal so viele wie Deutschland. Das entspricht dem weltweiten Status Quo, wonach die große Mehrheit der geflüchteten Menschen sich in den ärmsten Ländern der Welt aufhalten, weshalb das ‚Wir können nicht alle aufnehmen‘-Mantra absolut verlogen ist, weil davon überhaupt keine Rede sein kann“, so Seán McGinley.
Der Flüchtlingsrat fordert die Bundesregierung auf, sichere Fluchtwege für gefährdete Afghan*innen zu schaffen. Hierzu gehören nicht nur Ortskräfte, die für deutsche Institutionen und Einrichtungen gearbeitet haben, sondern auch zivilgesellschaftliche und politische Aktivist*innen, Familiennachzügler:innen und besonders vulnerable Personen und Gruppen. Es braucht jetzt sichere und legale Fluchtwege für alle Menschen in Afghanistan, die das Land verlassen wollen oder müssen. Es müssen alle deutsche Botschaften für Bearbeitungen von Visumsanträgen afghanischer Staatsangehöriger für zuständig erklärt werden. Da es jederzeit zu spät sein kann, um noch aus Afghanistan rauszukommen, ist es nicht zumutbar, dass Menschen, die in Afghanistan ausharren, ein langwieriges Visumsverfahren durchlaufen müssen. Deshalb muss für diese Personen von der gesetzlich vorgesehenen Möglichkeit ( § 6 IV iVm § 14 II AufenthG) Gebrauch gemacht werden, dass Ausnahme-Visa bei der Einreise nach Deutschland erteilt werden.
Baden-Württemberg ist aufgefordert, dem Beispiel Schleswig-Holsteins zu folgen und ein Landesaufnahmeprogramm auf dem Weg zu bringen. Afghan*innen die bereits in Deutschland sind und einen unsicheren Aufenthaltsstatus haben, müssen ein effektives Bleiberecht erhalten.
Am Samstag findet in Stuttgart (12.30 Uhr, Rotebühlplatz) eine von Angehörigen der afghanischen Community organisierte Kundgebung unter dem Motto „Solidarität mit der afghanischen Bevölkerung“ statt. Weitere Kundgebungen finden am Freitag, 18.30 Uhr auf dem Münsterplatz in Ulm, sowie am Samstag, 11 Uhr auf dem Münsterplatz in Weingarten statt. Der Flüchtlingsrat ruft alle Menschen, die über die aktuellen Entwicklungen in Bezug auf Afghanistan empört sind, zur Teilnahme auf.