In einem an Bundesinnenministerin Nancy Faeser versandten Brief spricht sich Marion Gentges gegen die Aufnahme afghanischer Geflüchteter im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms aus. Damit revidiert die Ministerin die bisherige Position der Landesregierung und nimmt offen in Kauf, dass auch besonders schutzbedürftige Afghan*innen der Schreckensherrschaft der Taliban ausgesetzt bleiben.
Nach langem Zögern hatte die Bundesregierung diesen Oktober den Start des Bundesaufnahmeprogramms Afghanistan angekündigt, in dessen Rahmen 1000 Afghan*innen pro Monat aufgenommen werden sollen. Im Programm angelegte Hürden für Betroffene, sowie dessen intransparenter Auswahlmechanismus stehen aktuell stark in Kritik. In einem diesen November an Bundesinnenministerin Faeser adressierten Brief hat die baden-württembergische Justizministerin Gentges nun selbst diesem Bundesaufnahmeprogramm ihre Unterstützung entzogen. Eine Aufnahme afghanischer Geflüchteter sei aktuell „unverantwortlich“, verkündet sie wohl in dem Schreiben. „Die Aussagen, die Gentges in ihrem Brief getroffen hat, haben mich zutiefst bestürzt“, berichtet Lucia Braß, erste Vorsitzende des Flüchtlingsrats. „Sie zeugen von einer erschreckenden Gleichgültigkeit dem Schicksal unzähliger Afghan*innen gegenüber, die weiterhin unter Lebensgefahr im Taliban-Regime ausharren.“
Aus der Perspektive des Flüchtlingsrats ist Gentges Position umso schockierender, als dass das Justizministerium dem Verein gegenüber noch zu Beginn des Jahres versprochen hatte, in Kooperation mit dem Bund „schnelle und zufriedenstellende Lösungen für die Personen in Afghanistan“ finden zu wollen. Vorausgegangen war eine Petition, in der der Flüchtlingsrat zusammen mit 10 000 Unterzeichner*innen sichere Fluchtwege aus Afghanistan, aufenthaltsrechtliche Sicherheit für hier lebende Afghan*innen, sowie die Auflage eines Landesaufnahmeprogramms Afghanistan gefordert hatte. Diese Petition war dem für Migrationsfragen zuständigem Justizministerium im Dezember 2021 überreicht worden. Insbesondere die Forderung nach einem Landesaufnahmeprogramm Afghanistan hatte das Justizministerium allerdings mit Verweis auf das sich anbahnende Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan vehement zurückgewiesen.
Wie lässt sich die plötzliche Kehrtwende erklären? In ihrem Brief an die Bundesinnenministerin argumentiert Gentges wohl mit den hohen Zugangszahlen ukrainischer Geflüchteter, die zu einer Überbelastung der Aufnahmestruktur geführt hätten. Mit dieser Aussage bekräftigt Gentges nicht nur, dass es in ihren Augen Geflüchtete erster und zweiter Klasse gibt. Ihre Notstandsrhetorik schürt darüber hinaus eine flüchtlingspolitische Abwehrhaltung in der Bevölkerung. „Die Schutzbedürftigkeit von Afghan*innen wird faktisch durch die Aufnahme von Ukrainer*innen jedoch nicht relativiert“, kommentiert Anja Bartel vom Flüchtlingsrat.