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Ein Jahr »vorübergehender Schutz« für Ukrainer*innen

In einem Artikel zieht Marc Speer von bordermonitoring.eu eine Zwischenbilanz

Am 24. Februar 2022 überfällt Russland die Ukraine. In nur 11 Tage fliehen fast 2 Millionen Menschen, viele davon in die europäischen Nachbarstaaten. Nur wenige Tage später, am 4. März 2022, aktiviert der europäische Rat die sogenannte Massenzustroms-Richtlinie (2001/55/EG) und stellt damit das erste Mal in der Geschichte der Europäischen Union das Vorliegen eines Massenzustroms formal fest. Geflüchteten aus der Ukraine soll vorübergehender Schutz gewährt werden.

Massenzustroms-Richtlinie für schnelle und unbürokratische Aufnahme

Das Ziel der sogenannten Massenzustroms-Richtlinie ist die schnelle und unbürokratische Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine außerhalb langwieriger Asylverfahren, welche aufgrund von komplexen Einzelfallentscheidungen zeit- und ressourcenintensiv sind. Wären ukrainische Geflüchtete ins Asylverfahren gedrängt worden, wären langwierige Verfahren, Arbeitsverbote, überfüllte Lager und großer Streit um eine gerechte Verteilung innerhalb der EU wohl kaum zu vermeiden gewesen, so die Einschätzung von Marc Speer.

Freizügigkeit für Ukrainer*innen 

Obwohl die Europäische Asylpolitik in Bezug auf vergangene Fluchtbewegungen repressiv und auf Abwehr ausgerichtet war, einigten sich die Mitgliedstaaten darauf, Ukrainer*innen Freizügigkeit in der Union zu gewähren. Sie können somit ihren Aufnahmestaat frei wählen. Dies ist eine wichtige Entscheidung, die nach Art. 11 der Massenzustroms-Richtlinie eigentlich nicht vorgesehen ist.  Geflüchteten aus der Ukraine können damit dort Schutz beantragen, wo sich bereits Familie oder ein Unterstützer*innennetzwerk befindet, was das Ankommen ungemein erleichtert. Der Mythos, dass Geflüchtete sich in dem Staat niederlassen würden, welcher ihnen die höchsten Sozialleistungen zahlt, wurde spätestens im vergangenen Jahr widerlegt. Viel wichtiger als monetäre Leistungen sind kulturelle Nähe, Sprache, familiäre und freundschaftliche Bindungen und Chancen auf dem Arbeitsmarkt. So nahm Polen mit Abstand die meisten Ukrainer*innen nach Ausbruch des Krieges auf.

Vereinfachter Zugang zu Leistungen

Der Arbeitsmarkt in der EU stand Ukrainer*innen von Anfang an offen. Sie müssen nicht wie üblich auf die Entscheidung über ihren Asylantrag warten oder eine Arbeitserlaubnis bei der zuständige Ausländerbehörde beantragen. Sie haben vereinfachten Zugang zu Sozial- und Gesundheitsleistungen sowie zu Integrationsmaßnahmen wie Sprachkurse. Auch bei der Unterbringung wurden Verfahren vereinfacht und die private Aufnahme gezielt gefördert. Heute sind bereits 3 von 4 Ukrainer*innen privat untergebracht und gerade mal neun Prozent aller Ukrainer*innen leben in Sammelunterkünften, eine Wohnsituation, welche bewiesenermaßen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben verhindert.

Drittstaatenangehörige sind von Abschiebungen bedroht

Geflüchtete aus der Ukraine ohne ukrainische Staatsbürgerschaft sind in Deutschland von Abschiebungen bedroht, da sie nicht pauschal von der Massenzustroms-Richtlinie erfasst werden. Obwohl sie vor demselben Krieg wie ukrainische Staatsangehörige geflohen sind und Schutz suchen, ist ihre derzeitige Situation von Unsicherheit, Diskriminierung und Willkür geprägt. Pro Asyl und 50 weiter Verbände, wie auch der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, fordern die konsequente Anwendung der Massenzustroms-Richtlinie, und damit des § 24 AufenthG, für alle Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen

Zwischenbilanz „Ein Jahr vorübergehender Schutz“

Der vorübergehende Schutz hat sich das vergangene Jahr bewährt. Berichte von überfüllten Sammelunterkünften und überforderten Behörden blieben aus. Auch das Wort Flüchtlingskrise wie in den Jahren 2015 und 2016 kam nicht auf, obwohl die Fluchtbewegung 2022 aus der Ukraine in die EU deutlich größer war. „Es bleibt zu hoffen, dass aus der positiven Bilanz der Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine Lehren für ein gemeinsames europäisches Asylsystem gezogen werden“, so das Fazit von Marc Speer