Erneut rügt der EuGH Deutschland wegen europarechtswidriger Handlungen in Flüchtlingsfragen. Das BAMF hatte während der Covid-Pandemie Überstellungsfristen nach der Dublin-Verordnung rechtswidrig ausgesetzt. Asylsuchenden drohte die Abschiebung in ein anderes EU-Land, obwohl die Zuständigkeit für ihr Asylverfahren auf Deutschland übergegangen war.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit seinem heutigen Urteil festgestellt, dass Geflüchtete nicht die Leidtragenden sein dürfen, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) pandemiebedingt keine Rückführungen in andere EU-Mitgliedstaaten durchführen kann. „Das ist ein wichtiges Urteil für den Flüchtlingsschutz in Europa, das den Betroffenen Rechtssicherheit gibt“, erklärt Wiebke Judith, rechtspolitische Referentin von PRO ASYL. „Die Luxemburger Richter und Richterinnen haben deutlich gemacht, dass ein Land nicht nach Belieben Fristen zur Überstellung von Geflüchteten in ein anderes EU-Land aussetzen darf, nur weil es aufgrund der Covid-19-Pandemie oder anderen Umständen Schwierigkeiten hat, schutzsuchende Menschen tatsächlich in ein anderes EU-Land zu bringen. Die betroffenen Menschen müssen jetzt endlich in Deutschland ein inhaltliches Asylverfahren bekommen, denn nun steht höchstgerichtlich fest, dass die vom BAMF betriebene Praxis europarechtswidrig war“, erläutert Judith.
Nach der Dublin-Verordnung werden Asylbewerber:innen in den europäischen Mitgliedsstaat zurückgeschickt, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten haben und registriert wurden. Am 18. März 2020 beschloss das BAMF jedoch, aufgrund der Corona-Pandemie keine Dublin-Überstellungen mehr durchzuführen. Bei einer nicht erfolgten Überstellung innerhalb von sechs Monaten wird eigentlich der Mitgliedstaat für die asylsuchende Person zuständig, der die Überstellung angefragt hat – in diesen Fällen also Deutschland. Um zu verhindern, dass die Verantwortung auf die Bundesrepublik übergeht, hatte das BAMF aber eine Aussetzung dieser Überstellungsfristen veranlasst. Mit diesem juristischen Trick sollte die Überstellungsfrist bei erneuter Aufnahme des Verfahrens komplett neu beginnen. So wollte sich das Bundesamt erneut sechs Monate Zeit verschaffen, um die Rückführung zu organisieren. Dieses Vorgehen kündigte das BAMF allen Personen im Dublin-Verfahren schriftlich an. Über 21.000 Asylsuchende erhielten laut Angaben der Bundesregierung ein entsprechendes Schreiben, bei vermutlich circa 9.000 Personen wurde an der Aussetzung der Frist festgehalten.
EuGH rügt Bundesregierung das dritte Mal binnen kurzer Zeit für europarechtswidriges Verhalten
„Das Bundesamt hat Tausende Schutzsuchende inmitten einer Pandemie, in der zu Beginn aufgrund von Kontaktbeschränkungen der Zugang zu Beratung und Anwälten kaum möglich war, mit ihren Schreiben zur Aussetzung der Dublin-Fristen massiv verunsichert. PRO ASYL hat von Anfang an auf die offensichtliche Europarechtswidrigkeit hingewiesen, die auch die Europäische Kommission in ihrer Mitteilung zu Asylverfahren während der Covid-Pandemie vom 17. April 2020 festgestellt hat. Es ist ein Skandal, dass es überhaupt notwendig war, einen solchen Fall bis vor den EuGH zu bringen. Leidtragende sind die Menschen, die durch das europarechtswidrige Handeln des Bundesamtes bis heute auf die Prüfung ihrer Verfolgungsgründe warten müssen“, kommentiert Judith.
PRO ASYL unterstützt gezielt entsprechende Klageverfahren, darunter auch eines der Verfahren, das dem EuGH vorgelegt wurde
Nachdem der EuGH bereits im August in zwei Urteilen zum Familiennachzug deutschen Behörden europarechtswidriges Verhalten bescheinigte, ist dies eine erneute Schlappe der Bundesregierung vor dem höchsten Gericht der EU. „Man fragt sich, warum deutsche Behörden immer wieder versuchen, geltendes Recht zum Nachteil von Geflüchteten auszulegen und anzuwenden. Die neue Bundesregierung muss den Behörden auf den Zahn fühlen und Konsequenzen ziehen. Es braucht ganz offensichtlich eine Änderung in der Behördenkultur, sodass der Schutz von Menschen im Zentrum steht – und nicht deren Abwehr“, so Judith.
Nach Fristablauf hat Deutschland die Pflicht zur Durchführung des Asylverfahrens
Für die Betroffenen hat eine Aussetzung der Fristen harsche Konsequenzen: Die reguläre Überstellungsfrist von sechs Monaten beginnt von vorne, selbst wenn sie eigentlich schon mehrere Monate der Frist hinter sich hatten. Während dieser Zeit haben die Asylbewerber*innen keinen Zugang zu einem inhaltlichen Asylverfahren und befinden sich in einem zermürbenden Schwebezustand. Dabei ist ein Kernanliegen der Dublin-Verordnung, genau einen solchen Schwebezustand zu verhindern und durch die Fristen für klare Zuständigkeiten zu sorgen.
Am 26. Januar 2021 legte das Bundesverwaltungsgericht dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens drei Rechtsfragen vor. Zusammengefasst geht es insbesondere um folgende Frage: Kann ein Mitgliedstaat aufgrund von Schwierigkeiten bei der rechtzeitigen Überstellung wegen der Corona-Pandemie die Dublin-Frist unterbrechen?
Mit dem heutigen Urteil macht der EuGH klar: Die Aussetzung der Fristen ist nicht rechtmäßig. Die Dublin-III-Verordnung sieht eine solche Aussetzung nur für klar umfasste Situationen vor, insbesondere um den Rechtsschutz der Betroffenen zu gewährleisten. Eine Fristaussetzung widerspricht dem Beschleunigungsgebot, das vorsieht, für Betroffene zügig Rechtssicherheit zu schaffen.
Im Ergebnis bedeutet das Urteil für die betroffenen Personen, dass ihre Überstellungsfristen je nach Einzelfall überschritten wurden. Nach der Dublin-III-Verordnung hat nach Fristablauf der Mitgliedstaat, in dem sich die Geflüchteten aufhalten – in diesem Fall Deutschland – die Pflicht zur Durchführung des Asylverfahrens.