Empirische Erkenntnisse belegen, dass sich die Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte (eGK) für Asylsuchende positiv auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, auf ihre Gesundheit sowie auf Kosten und administrative Prozesse auswirkt. In Baden-Württemberg gibt es keine elektronische Gesundheitskarte für Asylsuchende und Geduldete, wenn sie noch keine 18 Monate in Deutschland leben oder ihre Leistungen eingeschränkt wurden. Ihre Gesundheitsversorgung ist stark begrenzt und zudem oft schwierig durchzusetzen. Eine eGK würde vieles erleichtern, wie sich aus einem Bericht der Sektion Health Equity Studies & Migration am Universitätsklinikum Heidelberg ergibt.
von Maren Schulz
Asylsuchende, geduldete und vollziehbar ausreisepflichtige Personen erhalten eingeschränkte Gesundheitsleistungen (Siehe Artikel »Krankheit im Kontext von Flucht«). Diese eingeschränkten Gesundheitsleistungen gelten auch weit über 18 Monate hinaus für Personen, die gekürzte Leistungen nach § 1a AsylbLG erhalten. Ist der Umfang der Gesundheitsleistungen sowieso schon stark eingeschränkt, so wird der Zugang zu den wenigen verbliebenen zusätzlich erschwert. Ein Grund dafür ist das System der Behandlungsscheine. In Baden-Württemberg scheint in den meisten Regionen pro Quartal in der Regel ein Behandlungsschein ausgegeben zu werden. Zusätzliche Behandlungsscheine müssen in diesem Fall gesondert beantragt werden. Kritisch ist, dass sich die Behandlung bis zur Ausstellung eines (weiteren) Behandlungsscheins oft verzögert.
Hinzu kommt ein erhöhtes Risiko der Stigmatisierung und Diskriminierung. Ganz besonders problematisch ist, so der Bericht, dass »in den zuständigen Behörden i.d.R. nicht-medizinisches Verwaltungspersonal über die Gewährung von Gesundheitsleistungen entscheidet. Verbunden mit dem durch das AsylbLG eingeräumten breiten Ermessensspielraum erhöht sich hierdurch das Risiko für unterschiedliche behördliche Entscheidungspraktiken, die nicht am medizinischen Bedarf orientiert sind.« Dabei gibt es mindestens vier gute Gründe für die Einführung einer eGK und die Abschaffung des Systems der Behandlungsscheine.
1. Bedarfsgerechte Inanspruchnahme von gesundheitlicher Versorgung
Laut der Sektion Health Equity Studies & Migration gibt es mit einer eGK im Vergleich zum Behandlungsscheinsystem weniger Hürden bei der Inanspruchnahme der hausärztlichen Versorgung. Dabei liegt die Inanspruchnahme auf dem Niveau des Bevölkerungsdurchschnitts oder darunter. Befürchtungen, dass durch die Einführung der eGK die medizinische Infrastruktur übermäßig in Anspruch genommen werden könnte, haben sich nicht bewahrheitet, wie die Erfahrungen in anderen Bundesländern gezeigt haben. Des Weiteren erleichtert die eGK den Zugang zur Gesundheitsversorgung, da sich Asylsuchende sowie Ehrenamtliche und Sozialarbeiter*innen nicht mit zwei unterschiedlichen Zugangssystemen (Behandlungsschein und eGK) und den jeweiligen Abläufen und Regelungen auskennen müssen. Letztendlich geht mit einem erleichterten Zugang zum Gesundheitssystem auch eine geringere Stigmatisierung bei der Inanspruchnahme der Gesundheitsleistungen einher.
2. Positive Auswirkung auf die (psychische) Gesundheit
Sehr positiv stellt der Bericht die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit dar, denn »der Zugang zur eGK geht mit einer statistisch signifikanten Verbesserung in der psychischen Gesundheit bei Geflüchteten einher, verglichen mit jenen ohne eGK Berechtigung. Die Einführung einer eGK zeigt positive Effekte auf das generelle mentale Wohlbefinden und ist mit einem niedrigeren Risiko für Angst und Depression assoziiert«. Zudem bewerten Asylsuchende mit einer eGK ihren Gesundheitsstatus durchweg positiver. Unmittelbare Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit konnten noch nicht nachgewiesen werden. Dies wäre jedoch plausibel, denn durch eine eGK ist unter Umständen eine frühzeitigere Behandlung möglich, die Krankheitsverläufe positiv beeinflussen kann.
3. Niedrigere Kosten für Verwaltung und das Gesundheitssystem
Ganz eindeutig spricht für die Einführung einer eGK, dass die Kosten aufgrund eines geringeren Verwaltungsaufwands bei den zuständigen Behörden langfristig gesenkt werden. So konnte Hamburg Kosten in Höhe von rund 1,6 Millionen Euro pro Jahr einsparen. Auch wird das Gesundheitssystem finanziell entlastet. Daten des Statistischen Bundesamts zeigen, dass die Ausgaben pro Kopf für Asylsuchende mit Behandlungsschein höher sind im Vergleich zu Asylsuchenden mit einer eGK.
4. Erleichterung administrativer Prozesse
Gäbe es keine zwei Zugangssysteme mehr, würden die Abrechnungen der Leistungsträger vereinfacht werden, da mit einer eGK eine automatisierte Abrechnung über eine gesetzliche Krankenkasse erfolgen kann. Die komplexen, oft intransparenten und analogen Abrechnungen im Behandlungsscheinsystem könnten entfallen. Damit würden zeitliche und personelle Ressourcen in den Behörden freigesetzt werden. Der Wegfall der behördlichen Einzelfallprüfung würde zusätzliche Kapazitäten freigeben. Dies würde vor allem endlich, so der Bericht, die »sachliche Einschätzung der Behandlungsbedürftigkeit in das medizinische System« rückübertragen.
Fazit
In Baden-Württemberg ist die Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte seit 2016 kein Thema mehr. Zwar hatte die grün-rote Landesregierung 2015 vor, die eGK flächendeckend einzuführen. Die 2016 neu gewählte grün-schwarze Regierung setzte dieses Vorhaben jedoch nie um. Begründet wurde die Entscheidung mit organisatorischen, datenschutzrechtlichen und technischen Hindernissen sowie gesunkenen Zugangszahlen. Der Bericht zeigt jedoch, dass es sich in vielerlei Hinsicht lohnen würde, die Forderung wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen. Zwar ändert auch die eGK nichts an der kritikwürdigen eingeschränkten Gesundheitsversorgung in den ersten 18 Monaten des Aufenthalts, aber sie trägt zu einer erheblichen Entspannung aller Beteiligten im Versorgungskontext bei._
- Gold AW, Weis J, Janho L, Biddle L, Bozorgmehr K., Oktober 2021: Die elektronische Gesundheitskarte für Asylsuchende. Zusammenfassung der wissenschaftlichen Evidenz. Health Equity Studies & Migration – Report Series, 2021-02
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 1/2022 unseres Magazins Perspektive, das hier kostenlos bestellt und heruntergeladen werden kann.