Seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 verschlimmert sich die Lage in Afghanistan dramatisch. Das Land versinkt im Chaos, während die Taliban zunehmend brutal gegen Frauen, Mädchen und Oppositionelle vorgehen. Begrüßenswert war die Entscheidung der Bundesregierung, ein Bundesaufnahmeprogramm für akut gefährdete Afghan*innen einzurichten. Doch sechs Monate nach dessen Einführung weist das Programm eine traurige Bilanz auf: Bislang ist in dessen Rahmen nicht eine einzige Einreise nach Deutschland erfolgt. Im Oktober 2022 hatte die Bundesregierung verkündet, das im Koalitionsvertrag angekündigte Bundesaufnahmeprogramm für bedrohte Afghan*innen endlich umzusetzen. Zusätzlich zum Ortskräfteverfahren, dem humanitären Visa-Verfahren sowie dem Familiennachzug sollte damit eine Möglichkeit geschaffen werden, bedrohte Menschen in Deutschland aufzunehmen. Von Beginn an kritisierten Menschenrechtsorganisationen, zum Beispiel Pro Asyl, insbesondere das Verfahren der Bundesregierung zur Auswahl der Menschen nach einem automatisierten Algorithmus-Verfahren, die Intransparenz der Auswahlkriterien und die Bedingung der Antragstellung für die Betroffenen. Vor allem wurden Afghan*innen, die sich in einem Drittstaat befinden, vom Programm ausgeschlossen. Auch können sich Schutzsuchende nicht selbst für das Aufnahmeprogramm bewerben und ihre Daten eigenständig eintragen. Dies dürfen nur ausgewählte Organisationen in Deutschland tun, die sich als „meldeberechtigte Stellen“ für das Bundesaufnahmeprogramm registrieren lassen. Nicht alle „meldeberechtigten Stellen“ werden öffentlich bekannt gegeben, sodass Schutzsuchende aus Afghanistan häufig nicht wissen, an wen sie sich wenden müssen.
Am 30. März kam außerdem die überraschende Ankündigung des Auswärtigen Amtes, man würde vorerst alle Visaverfahren für afghanische Menschen aussetzen. Grund wäre eine Optimierung der Sicherheitsprozesse. Sogar Menschen, die bereits ein Visum erhalten haben, sollen nicht einreisen dürfen. Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg kritisiert die Aussetzung des Visaverfahrens und die Verhinderung der Einreise trotz bereits erhaltenen Visa aufs Schärfste. Eine Optimierung von Prozessen kann nicht zu Lasten von Menschen gehen, die sich in Lebensgefahr befinden. PRO ASYL hält die Verhinderung der Einreise von Menschen mit Visum für rechtswidrig. Wenn ein Visum erteilt wurde, haben bereits alle erforderlichen Prüfungen stattgefunden, es darf dann nicht einfach, ohne jegliche Rechtsgrundlage, die Einreise verhindert werden.
Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg fordert die Bundesregierung dazu auf, das Bundesaufnahmeprogramm so zu überarbeiten, dass gefährdete Afghan*innen tatsächlich aufgenommen werden können. Es ist ein Skandal, dass bis heute nicht eine Person im Rahmen des Programms nach Deutschland gelangt ist. „Bedrohte Afghaninnen und Afghanen dürfen nicht im Stich gelassen werden!“, so Sadiq Zartila vom Flüchtlingsrat.