Das Bundessozialgericht (BSG) äußert in einer Mitte Februar veröffentlichten Entscheidung von September 2024 die Ansicht, dass die sozialrechtliche Zwangsverpartnerung für Alleinstehende in Gemeinschaftsunterkünften (Regelbedarfsstufe 2 statt 1) auch bei den AsylbLG-Grundleistungen nach § 3, 3a AsylbLG verfassungswidrig ist (BSG, Vorlagebeschluss vom 26.9.2024; B 8 AY 1/22 R). Es hat diese Frage daher dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.
Nachdem 2019 die Leistungssätze für Asylbewerber*innen neu festgesetzt wurden, erhalten Alleinstehende, die die ohnehin niedrigen Grundleistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG beziehen, weitere Leistungskürzungen. Statt Leistungen nach Regelstufe 1 zu bekommen, werden Alleinstehende der niedrigeren Regelstufe 2 zugeordnet. Diese ist eigentlich für Leistungsempfänger*innen gedacht, die sich in einer Ehe oder Lebenspartnerschaft befinden. Weil sie daher gemeinsam wirtschaften, erhalten sie 10 Prozent weniger Leistungen (§ 3a Abs. 1 Nr. 2a AsylbLG). Alleinstehenden in Gemeinschaftunterkünften wird unterstellt, ebenso gemeinsam mit anderen zu wirtschaften zu können. Mit der aktuellen Zuordnung der Sozialbehörden werden sie daher mit „verpartnerten“ Leistungsempfänger*innen gleichgestellt.
Das BVerfG stellte im Oktober 2022 fest, dass die Leistungskürzung für Alleinstehende bei Analogleistungen nach § 2 AsylbLG um 10 Prozent, die die niedrigere Regelbedarfsstufe 2 mit sich führt, gegen die Verfassung verstößt (BVerfG v. 19.10.2022 – 1 BvL 3/21). Auch andere Gerichte, wie das Sozialgericht (SG) Hannover oder das SG Landshut hatten bereits ähnlich entschieden. Diese Argumentation sollte laut BSG auch auf die Grundleistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG übertragen werden.
Für die Praxis verdeutlicht der BSG-Beschluss nun erneut, dass betroffene Alleinstehende, die von der Sozialbehörde zur Regelsatzstufe 2 statt 1 zugeordnet werden, dagegen Widerspruch einlegen und einen Eilantrag stellen sollten. Um sich einen Anspruch auf Nachzahlung zu sichern, sollten auch Überprüfungsanträge nach § 44 SGB X gestellt werden. Der Flüchtlingsrat Niedersachsen hat hierzu weitere Informationen zur Verfügung gestellt. Der Sächsische Flüchtlingsrat hat zudem einen Infoflyer mit Muster-Widerspruch veröffentlicht.
Hier der einschlägige Absatz aus dem Urteil:
„Der Senat ist nach alledem zu der Überzeugung gelangt, dass die Ausführungen des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit von § 2 Abs 1 Satz 4 Nr 1 AsylbLG in der Fassung des Art 1 Nr 3 des Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes vom 13.8.2019 (BGBl I 1290; BVerfG vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21 – BVerfGE 163, 254, 284, RdNr 69-94) bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Regelungen zum Grundleistungsbezug in § 3a Abs 1 Nr 2 Buchst b AsylbLG und § 3a Abs 2 Nr 2 Buchst b AsylbLG in gleicher Weise Beachtung finden müssen und zur Verfassungswidrigkeit der Normen führen. Dies entspricht offenbar auch der Auffassung im zuständigen Fachministerium. Der Gesetzgeber hat gleichwohl trotz viermaliger Änderung des AsylbLG seit Oktober 2022 in anderen Punkten keine weitere Begründung für die vorgenommene Differenzierung bei dem Leben in Sammelunterkünften aufgezeigt (vgl zu solchen Möglichkeiten BVerfG vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21 – BVerfGE 163, 254, 293, RdNr 88 ff) unabhängig davon, welche Bedeutung dies für zurückliegende Leistungszeiträume hätte. Er hat es weiterhin unterlassen, die tatsächlichen Grundlagen für die Gleichsetzung der in den Sammelunterkünften wohnenden alleinstehenden Grundleistungsberechtigten mit erwachsenen Leistungsberechtigten, die mit einem Ehegatten oder Lebenspartner oder in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft mit einem Partner zusammenleben, darzustellen und durch empirische Erkenntnisse zu belegen. Mit Art 3 Nr 2 des Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz) vom 21.2.2024 (BGBl I Nr 54) ist mit Wirkung vom 27.2.2024 vielmehr die Wartefrist für Analogleistungen in § 2 Abs 1 Satz 1 AsylbLG von 18 auf 36 Monate verlängert und damit die Belastung, die für alleinstehende Grundleistungsberechtigte in Sammelunterkünften durch die Absenkung auf die Bedarfsstufe 2 entsteht, deutlich vergrößert worden. Auch mit dieser Gesetzesänderung wird aber nach wie vor nicht begründet dargelegt, dass die in den Sammelunterkünften wohnenden alleinstehenden Grundleistungsberechtigten regelmäßig tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern erzielen, die einer Absenkung der Leistungshöhe um zehn Prozent gegenüber der Bedarfsstufe 1 entsprechen.“ (BSG v. 29.09.2024 – B 8 AY 1/22 R)
- BSG, Vorlagebeschluss v. 26.09.2024: B 8 AY 1/22 R
- BVerfG, Beschluss v. 19.10.2022: 1 BvL 3/21
- Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V., November 2023: AsylbLG-Leistungen für Alleinstehende in Unterkünften: Überprüfungsanträge bis zum 31.12.2023 stellen!
- Sächsischer Flüchtlingsrat, Februar 2025: Flyer mit Muster-Widerspruch: Zwangsverpartnerung im AsylbLG