Nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg zu Abschiebungen nach Afghanistan fordert der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg die Landesregierung auf, sich nicht mehr an Sammelabschiebungen in das Krisenland zu beteiligen und alle Fälle von Personen, die zur Abschiebung nach Afghanistan vorgesehen sind, im Lichte dieser Entscheidung neu zu prüfen, wie dies ein Sprecher des IM gegenüber Legal Tribune Online angekündigt hat. Diesen Worten sollten allerdings möglichst schnell auch Taten folgen: Nach Kenntnis des Flüchtlingsrats will Baden-Württemberg sich offenbar an der nächsten Sammelabschiebung nach Afghanistan beteiligen. Zumindest sind aktuell mehrere Afghanen in der Abschiebungshaft in Pforzheim inhaftiert und sollen demnächst nach Afghanistan abgeschoben werden.
In einer erst jetzt veröffentlichten Entscheidung hatte der VGH am 17. Dezember entschieden, dass angesichts der verheerenden Auswirkungen der Covid-19-Pandemie in Afghanistan selbst alleinstehende, gesunde Männer im arbeitsfähigen Alter dort voraussichtlich nicht in der Lage sein werden, auf legaler Weise ihre elementaren Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene zu befriedigen. Abschiebungen sind nach Auffassung des VGH allenfalls bei Personen vertretbar, die entweder ein „tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk“ haben, nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte“ erfahren, oder über ausreichendes Vermögen verfügen. „Diese Voraussetzungen treffen auf die Allerwenigsten zu. Das heißt, die Anzahl der Personen, die in diese Kategorien fallen und abgeschoben werden dürfen, ist nach unserer Erfahrung sehr überschaubar“, sagt Sprecher*innenratsmitglied Manfred Weidmann, der als Rechtsanwalt viele afghanische Geflüchtete vertritt
Der Flüchtlingsrat kritisiert, dass die Landesregierung einen Tag vor der VGH-Entscheidung vier Personen nach Afghanistan abgeschoben hat, und im Januar erneut fünf Personen. „Angesichts der strengen Maßstäbe, die der VGH vorgegeben hat, die nur wenige erfüllen dürften, ist davon auszugehen, dass hier auch Personen abgeschoben wurden, die nach Auffassung des VGH nicht hätten abgeschoben werden dürfen“, befürchtet Lucia Braß, Erste Vorsitzende des Flüchtlingsrats.
Nach Auffassung des Flüchtlingsrats wäre es angesichts der bevorstehenden Entscheidung angebracht gewesen, wenn Baden-Württemberg sich nicht an der Sammelabschiebung im Dezember beteiligt hätte, und auch nicht an der im Januar, als der Tenor der Entscheidung und das Gutachten, auf das es maßgeblich stützte, bereits bekannt waren.
„Es hat etwas von Torschlusspanik, wie die Baden-Württembergischen Behörden in den letzten Monaten schnell noch Abschiebungen durchgeführt haben, die nach Auffassung des höchsten Verwaltungsgerichts im Land nicht durchgeführt werden sollten“, findet Seán McGinley, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats und ergänzt: „Diejenigen, die sonst so gerne für sich in Anspruch nehmen, rechtsstaatliche Prinzipien hochzuhalten, offenbaren hier ihr instrumentales Verhältnis zum Rechtsstaat. Der Rechtsstaat interessiert sie nur, wenn er ihnen Argumente liefert, um das, was sie aus politischen Gründen durchsetzen wollen, als alternativlos hinzustellen.
Aktuell sitzen in Pforzheim Personen in Abschiebungshaft, denen die baldige Abschiebung nach Afghanistan droht. Falls unter ihnen Personen sind, die nach Auffassung des VGH nicht abgeschoben werden dürfen, sind sie auf rechtliche Unterstützung angewiesen, um dies geltend zu machen. Der Flüchtlingsrat weist darauf hin, dass es erfahrungsgemäß extrem schwer ist für Personen, die in Abschiebungshaft genommen werden, kurzfristig eine qualifizierte anwaltliche Vertretung zu organisieren – nicht zuletzt deshalb, weil vielen von ihnen das Geld hierzu fehlt. Eine Pflichtverteidigung gibt es für Personen in Abschiebungshaft nicht, und in Baden-Württemberg gibt es – anders als in fast allen anderen Bundesländern – nicht einmal eine offene und unabhängige Beratung in der Abschiebungshaft. „Es ist dem Zufall überlassen, ob jemand die Möglichkeit hat, sein Recht durchzusetzen. Hier wird ganz bewusst durch den Staat ein rechtsfreier Raum geschaffen, um Menschen von ihrem Recht fernzuhalten. Eine Regierung, die wirklich Wert auf rechtsstaatliche Korrektheit legt, müsste alle potenziellen Afghanistan-Abschiebungsfälle im Licht der VGH-Entscheidung nochmal überprüfen und zumindest bis dahin die Abschiebungen aussetzen“, so Seán McGinley abschließend.