PRO ASYL zur EU-Kommission: Kotau vor den Asyl-Hardlinern

Presseerklärung

Die EU-Kommission hat Vorschläge zum Umgang mit Geflüchteten an den EU-Außengrenzen vorgelegt, denen der Rat zustimmen muss. Die EU-Kommission bietet Polen, Litauen und Lettland an, Schutzrechte von Asylsuchenden vorübergehend außer Kraft zu setzen.  PRO ASYL kritisiert das Brüsseler Notfallpaket als alarmierend für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.

Gestern hat die Europäische Kommission in Brüssel ein Notfallmaßnahmenpaket zur Situation an der europäischen Grenze zu Belarus vorgestellt. „Die Vorschläge der EU-Kommission sind ein Kotau vor den Regierungen, die systematisch Unionsrecht verletzen“, kommentiert  Karl Kopp, Leiter der Europa-Abteilung von PRO ASYL. „Nach Monaten des Schweigens zu den eklatanten Völkerrechtsbrüchen im Grenzgebiet der EU-Mitgliedsstaaten Polen, Litauen und Lettland bietet Brüssel den drei Grenzstaaten nun ein schäbiges Abwehrpaket an. Anstatt auf die Einhaltung von europäischem Recht zu pochen, eigentlich die Kernaufgabe der Kommission, schlägt sie vor, die Schutzrechte von Asylsuchenden ‚vorübergehend‘ außer Kraft zu setzen. Die Vorschläge zeigen, dass die Hardliner in Europa mittlerweile die Brüsseler Agenda bestimmen.“

Asylrecht ausgesetzt – Grenzverfahren unter Haftbedingungen

Die vorgestellten Maßnahmen sollen Lettland, Litauen und Polen die Möglichkeit geben, in zentralen Punkten von der EU-Asylgesetzgebung abzuweichen. Vorgesehen ist die Aussetzung des Asylrechts für vier Wochen, indem in dieser Zeit keine Asylanträge registriert werden müssen. Insbesondere soll es den Mitgliedsstaaten möglich sein, Grenzverfahren für Asylsuchende von vier Wochen auf bis zu vier Monate auszuweiten. PRO ASYL geht davon aus, dass solche Verfahren unter Haftbedingungen durchgeführt werden. Die Unterbringungsstandards sollen auf das absolute Minimum reduziert werden. Die Maßnahmen sollen zunächst auf sechs Monate befristet sein, können aber verlängert werden.

EU-Parlament ohne Mitentscheidungsrecht

Die EU-Kommission stützt das temporäre „Abwehrpaket“ auf Artikel 78 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Dieser sieht Notfallkompetenzen für den Rat außerhalb des regulären europäischen Gesetzgebungsverfahrens vor. Anders als im regulären Verfahren bleibt das Europäische Parlament außen vor – dabei werden dort aktuell ähnliche Vorschläge im Rahmen des Pacts on Asylum und Migration diskutiert und zum Teil vehement abgelehnt.

Begründet werden die Maßnahmen damit, dass eine Einhaltung der regulären Regeln angesichts des Konflikts mit Belarus nicht möglich wäre. „Es ist ein alarmierendes Signal für die Rechtsstaatlichkeit in Europa, wenn grundlegende Menschenrechte in vermeintlichen Krisensituationen massiv eingeschränkt werden und das EU-Parlament kein Mitentscheidungsrecht hat“, erklärt Karl Kopp. „Die Situation an der Ostgrenze ist für die notleidenden Geflüchteten dramatisch. Würde sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten an Völker- und Unionsrecht halten, wäre die humanitäre Katastrophe im Grenzgebiet zu Belarus beendet.“

Insbesondere an der polnisch-belarussischen Grenze ist es zu systematischen, völker- und europarechtswidrigen Zurückweisungen – Pushbacks – gekommen. Männer, Frauen und Kinder sind regelmäßig von polnischen Grenzbeamten gewaltsam über die Grenze nach Belarus gebracht worden, ihr Schutzgesuch wurde ignoriert.

Das Asylrecht steht zur Disposition

Was die EU-Kommission macht, ist eine toxische Kombination aus dem Modell Griechenland und dem Model Ungarn. In Griechenland hat die Kommission die Aussetzung des Asylrechts akzeptiert und der Regierung eine carte blanche für brutale Grenzabwehr gewährt. Ungarn hat  Transitzonen eingerichtet, in denen Schutzsuchende rechtswidrig inhaftiert und pauschal abgeschoben werden, ohne dass ihr Schutzgesuch im Einzelnen geprüft wird. Im Falle von Ungarn kam es im Dezember 2020 zu einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg.

Im Verfahren hat die EU-Kommission noch klipp und klar festgestellt: „Überdies sei der Fall, dass eine große Zahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz beantrage, vom Unionsgesetzgeber berücksichtigt worden.“ Das bedeutet: Das geltende Recht reicht aus. Diese Feststellung der EU-Kommission im Ungarn- Verfahren gilt heute genauso an der EU-Ostgrenze.

Der Brüsseler Versuch, nun Europarechtsbrecher zu „resozialisieren“, indem man Schutzstandards aushöhlt und bei eklatanten Völkerrechtsbrüchen tatenlos bleibt, ist fatal. Die Beschwichtigungstaktik der Kommission gegenüber Polen ist nicht nur verfehlt, sie funktioniert auch nicht – laut Medienberichten hat Polen das Paket bereits abgelehnt, weil das Land überhaupt keine Asylanträge mehr annehmen will.

Bewährungsprobe für die Ampel-Koalition

Der Vorschlag der Kommission muss nach Anhörung – nicht Mitsprache – des Europäischen Parlaments vom Rat mit Mehrheitsbeschluss angenommen werden. Der nächste Rat der Innenminister*innen  tagt am 9. Dezember 2021 – und wäre damit einer der ersten Termine eines neu besetzten deutschen Innenministeriums. Im Koalitionsvertrag steht: „Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden.“ Die Abstimmung über den Vorschlag der Kommission wird ein erster Stresstest sein, wie ernsthaft sie für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Europa eintritt.


Umfassende Bleiberechtsregelungen sind erforderlich!

PRO ASYL, die Landesflüchtlingsräte und „Jugendliche ohne Grenzen“ fordern anlässlich der Innenministerkonferenz vom 1. bis 3. Dezember einen umfassenden Abschiebestopp sowie die sofortige Fortsetzung der Aufnahme Schutzsuchender aus Afghanistan.

Aufgrund der grassierenden Pandemie müssen die Innenminister*innen auf ihrer Konferenz einen generellen Abschiebestopp verhängen. Abschiebungen während der Pandemie sind unverantwortlich und gefährden Menschenleben. Insbesondere nach Syrien, Afghanistan und Äthiopien kann wegen der anhaltend katastrophalen politischen und wirtschaftlichen Lage nicht abgeschoben werden – in diesen Ländern herrschen Krieg und Terror.

Bleiberechtsregelungen umsetzen

Die Ampel-Koalition hat erfreulicherweise beschlossen, eine Bleiberechtsregelung zu schaffen. Das neue „Chancen-Aufenthaltsrecht“ will „Menschen, die am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland leben, nicht straffällig geworden sind und sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen“ eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe ermöglichen, „um in dieser Zeit die übrigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen“ (Seite 138 Koalitionsvertrag). Aber: „Wir befürchten eine Abschieberitis einzelner Ausländerbehörden und Bundesländer, die ungeachtet der Pandemie und der kommenden Regelungen Fakten schaffen, wo immer möglich. Dazu darf es nicht kommen“, sagt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL. „Deshalb sollten sich die Länder auf der Innenministerkonferenz auf eine Vorgriffsregelung einigen, die dafür sorgt, dass niemand abgeschoben wird, bevor die neue Bleiberechtsregelung in Kraft tritt.“ Die Menschenrechtsorganisationen appellieren an Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius und an Joachim Stamp, stellvertretender Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, ihre Kolleg*innen von einer solchen Vorgriffsregelung zu überzeugen. Beide haben den Koalitionsvertrag mitausgearbeitet.

Abschiebestopp nach Afghanistan, Syrien und Äthiopien

Gemeinsam mit den Landesflüchtlingsräten und „Jugendliche ohne Grenzen“ appelliert PRO ASYL anlässlich der IMK an die Länder, parteiübergreifend die Realitäten in Afghanistan, Syrien und Äthiopien anzuerkennen. Es ist angesichts der Machtübernahme der Taliban unerlässlich, dass die Innenminister*innen einen Abschiebestopp für Afghanistan erlassen. „Es reicht nicht aus, dass Abschiebungen nach Afghanistan derzeit lediglich ausgesetzt sind. Es ist unabsehbar, wie lange die Taliban an der Macht sein werden und ihre als „verwestlich“ geltenden Landsleute, die nach Afghanistan abgeschoben werden, bei einer Rückkehr verfolgen“, betont Seán McGinley vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg. Die Menschenrechtsorganisationen fordern einen offiziellen Abschiebestopp im Sinne von § 60a Abs. 1 AufenthG, um Ausreisepflichtigen Sicherheit zu vermitteln.

„Die rund 30.000 afghanischen Staatsangehörigen, die hier leben und die in früheren Asylverfahren keinen Schutz zugesprochen bekommen haben, brauchen jetzt ein gesichertes Bleiberecht“, ergänzt Jassin Akhlaqi von „Jugendliche ohne Grenzen“. „Nur mit einer langfristigen Perspektive können diese Menschen, unter denen viele junge Männer und Frauen sind, in Ruhe Arbeit finden, studieren oder eine Ausbildung absolvieren ohne die ständige Angst und Ungewissheit, die mit einer drohenden Abschiebung einhergehen.“

Auch die Lage in Syrien ist weiterhin dramatisch, wie Berichte von Menschenrechtsorganisationen verdeutlichen. Amnesty International hat zahlreiche Fälle von Männern, Frauen und Kindern dokumentiert, die nach einer Rückkehr nach Syrien schwerste Menschenrechtsverletzungen durch den syrischen Geheimdienst erfuhren. Auch Human Rights Watch legt dar, dass Syrer*innen, die in ihre Heimat zurückkehren (müssen), willkürlich inhaftiert, gefoltert oder vergewaltigt werden. Es widerspricht dem Völkerrecht, in solche Staaten abzuschieben. Das zeigt eindeutig, dass das Auslaufen des Abschiebestopps für Syrien im letzten Jahr falsch war und ein solcher Stopp menschenrechtlich geboten ist.

In Äthiopien droht der Konflikt in Tigray das ganze Land in einen Bürgerkrieg zu stürzen; die Kampfhandlungen weiten sich auf immer mehr Provinzen aus, und Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. Dennoch schiebt Deutschland weiterhin Menschen in das Bürgerkriegsland ab. Allein in Bayern und Hessen leben derzeit knapp 3000 ausreisepflichtige Äthiopier*innen. Die Innenminister*innen müssen dringend auch für Äthiopien einen Abschiebestopp beschließen.

Aufnahme aus Afghanistan fortsetzen

Es ist zu begrüßen, dass die künftige Regierung Bundesaufnahmeprogramme für besonders gefährdete Afghan*innen vorsieht. In Gefahr sind auch Afghan*innen mit familiären Bindungen nach Deutschland. Es ist unverständlich, dass bisher ein großer Teil der Bundesländer nicht bereit ist, ein Landesaufnahmeprogramm zu realisieren, um diesen Familienangehörigen von in Deutschland lebenden Afghan*innen Schutz zu bieten.

PRO ASYL, Landesflüchtlingsräte und Jugendliche ohne Grenzen fordern: Die im Koalitionsvertrag beschlossenen Gesetzesänderungen müssen jetzt in einem 100 Tage-Programm gesetzlich auf den Weg gebracht werden, ebenso eine Fortsetzung der Aufnahme besonders schutzbedürftiger Afghan*innen und ihrer Familien.

Weitere Forderungen von PRO ASYL finden Sie hier; eine Stellungnahme zur IMK, die unter anderem von Jugendliche ohne Grenzen und den Flüchtlingsräten getragen wird, hier.