Appell von Refugees in Libya für Gerechtigkeit und Menschenrechte

Tunesien führt illegale Massenabschiebungen in die Wüste durch. Dort verlieren immer wieder Menschen aufgrund von Durst und Hitze ihr Leben. Zu diesen Menschenrechtsverletzungen geführt haben auch die europäische Migrationspolitik und das millionenschwere Abkommen der Europäischen Union mit Tunesien.

Refugees in Libya – eine Organisation von Geflüchteten, Asylsuchenden und Migranten verschiedener Herkunft – wendet sich mit einem Appell an die tunesischen und europäischen Behörden. Sie verurteilen die Europäische Migrationspolitik, fordern Gerechtigkeit und eine möglichst schnelle Evakuierung aller in Tunesien gefangenen Menschen nach Europa, um die humanitäre Krise zu beenden.  



Weinstadt: Podiumsdiskussion Probleme und Lösungsansätze in der Flüchtlingsarbeit

Die Aufnahme geflüchteter Menschen bringt Herausforderungen und gleichzeitig vielfältige Potenziale mit sich. Wie steht es um die Verteilungsgerechtigkeit in der Asylpolitik, welche Hürden müssen beim Zugang zum Arbeitsmarkt, Sprachkursen und Unterstützungsmaßnahmen überwunden werden und was bedeutet die unterschiedliche Behandlung von Geflüchteten aus der Ukraine und aus anderen Ländern?

Die Podiumsdiskussion „Probleme und Lösungsansätze in der Flüchtlingsarbeit seit dem Frühjahr 2022“ wird sich unter anderem mit diesen Fragen befassen.

Durchgeführt wird die Veranstaltung vom Integrationsverein Weinstadt. Für den Flüchtlingsrat Baden-Württemberg sprechen wird Bärbel Mauch, 2. Vorsitzende des Flüchtlingsrats.

Ort: Stiftskeller in Weinstadt-Beutelsbach, Stiftsstraße 32, 71384 Weinstadt

Der Eintritt ist frei.

Um Anmeldung wird gebeten unter: monika.unbehau@outlook.de; Anmeldeschluss ist der 2. Oktober 2023


Interview: Brutaler Abschiebeversuch

Innocent A. erlebte im Juli einen brutalen Abschiebeversuch: Mit massiver Polizeigewalt wurde versucht, ihn in ein Flugzeug zu drängen. Am Ende scheiterte die Abschiebung aufgrund seiner Verletzungen und seines Widerstands.

Derzeit ist Innocent A. in Abschiebehaft in Pforzheim, ihm droht die baldige Abschiebung nach Ghana. In einem Interview mit dem Radio Dreyeckland berichtet er von dem Abschiebeversuch, der Abschiebehaft und seinem von Flucht geprägten Leben.



Vier gute Gründe für die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte

Empirische Erkenntnisse belegen, dass sich die Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte (eGK) für Asylsuchende positiv auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, auf ihre Gesundheit sowie auf Kosten und administrative Prozesse auswirkt. In Baden-Württemberg gibt es keine elektronische Gesundheitskarte für Asylsuchende und Geduldete, wenn sie noch keine 18 Monate in Deutschland leben oder ihre Leistungen eingeschränkt wurden. Ihre Gesundheitsversorgung ist stark begrenzt und zudem oft schwierig durchzusetzen. Eine eGK würde vieles erleichtern, wie sich aus einem Bericht der Sektion Health Equity Studies & Migration am Universitätsklinikum Heidelberg ergibt.

von Maren Schulz

Asylsuchende, geduldete und vollziehbar ausreisepflichtige Personen erhalten eingeschränkte Gesundheitsleistungen (Siehe Artikel »Krankheit im Kontext von Flucht«). Diese eingeschränkten Gesundheitsleistungen gelten auch weit über 18 Monate hinaus für Personen, die gekürzte Leistungen nach § 1a AsylbLG erhalten. Ist der Umfang der Gesundheitsleistungen sowieso schon stark eingeschränkt, so wird der Zugang zu den wenigen verbliebenen zusätzlich erschwert. Ein Grund dafür ist das System der Behandlungsscheine. In Baden-Württemberg scheint in den meisten Regionen pro Quartal in der Regel ein Behandlungsschein ausgegeben zu werden. Zusätzliche Behandlungsscheine müssen in diesem Fall gesondert beantragt werden. Kritisch ist, dass sich die Behandlung bis zur Ausstellung eines (weiteren) Behandlungsscheins oft verzögert.

Hinzu kommt ein erhöhtes Risiko der Stigmatisierung und Diskriminierung. Ganz besonders problematisch ist, so der Bericht, dass »in den zuständigen Behörden i.d.R. nicht-medizinisches Verwaltungspersonal über die Gewährung von Gesundheitsleistungen entscheidet. Verbunden mit dem durch das AsylbLG eingeräumten breiten Ermessensspielraum erhöht sich hierdurch das Risiko für unterschiedliche behördliche Entscheidungspraktiken, die nicht am medizinischen Bedarf orientiert sind.« Dabei gibt es mindestens vier gute Gründe für die Einführung einer eGK und die Abschaffung des Systems der Behandlungsscheine.

1. Bedarfsgerechte Inanspruchnahme von gesundheitlicher Versorgung

Laut der Sektion Health Equity Studies & Migration gibt es mit einer eGK im Vergleich zum Behandlungsscheinsystem weniger Hürden bei der Inanspruchnahme der hausärztlichen Versorgung. Dabei liegt die Inanspruchnahme auf dem Niveau des Bevölkerungsdurchschnitts oder darunter. Befürchtungen, dass durch die Einführung der eGK die medizinische Infrastruktur übermäßig in Anspruch genommen werden könnte, haben sich nicht bewahrheitet, wie die Erfahrungen in anderen Bundesländern gezeigt haben. Des Weiteren erleichtert die eGK den Zugang zur Gesundheitsversorgung, da sich Asylsuchende sowie Ehrenamtliche und Sozialarbeiter*innen nicht mit zwei unterschiedlichen Zugangssystemen (Behandlungsschein und eGK) und den jeweiligen Abläufen und Regelungen auskennen müssen. Letztendlich geht mit einem erleichterten Zugang zum Gesundheitssystem auch eine geringere Stigmatisierung bei der Inanspruchnahme der Gesundheitsleistungen einher.

2. Positive Auswirkung auf die (psychische) Gesundheit

Sehr positiv stellt der Bericht die Auswirkungen auf die psychische Gesundheit dar, denn »der Zugang zur eGK geht mit einer statistisch signifikanten Verbesserung in der psychischen Gesundheit bei Geflüchteten einher, verglichen mit jenen ohne eGK Berechtigung. Die Einführung einer eGK zeigt positive Effekte auf das generelle mentale Wohlbefinden und ist mit einem niedrigeren Risiko für Angst und Depression assoziiert«. Zudem bewerten Asylsuchende mit einer eGK ihren Gesundheitsstatus durchweg positiver. Unmittelbare Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit konnten noch nicht nachgewiesen werden. Dies wäre jedoch plausibel, denn durch eine eGK ist unter Umständen eine frühzeitigere Behandlung möglich, die Krankheitsverläufe positiv beeinflussen kann.

3. Niedrigere Kosten für Verwaltung und das Gesundheitssystem

Ganz eindeutig spricht für die Einführung einer eGK, dass die Kosten aufgrund eines geringeren Verwaltungsaufwands bei den zuständigen Behörden langfristig gesenkt werden. So konnte Hamburg Kosten in Höhe von rund 1,6 Millionen Euro pro Jahr einsparen. Auch wird das Gesundheitssystem finanziell entlastet. Daten des Statistischen Bundesamts zeigen, dass die Ausgaben pro Kopf für Asylsuchende mit Behandlungsschein höher sind im Vergleich zu Asylsuchenden mit einer eGK.

4. Erleichterung administrativer Prozesse

Gäbe es keine zwei Zugangssysteme mehr, würden die Abrechnungen der Leistungsträger vereinfacht werden, da mit einer eGK eine automatisierte Abrechnung über eine gesetzliche Krankenkasse erfolgen kann. Die komplexen, oft intransparenten und analogen Abrechnungen im Behandlungsscheinsystem könnten entfallen. Damit würden zeitliche und personelle Ressourcen in den Behörden freigesetzt werden. Der Wegfall der behördlichen Einzelfallprüfung würde zusätzliche Kapazitäten freigeben. Dies würde vor allem endlich, so der Bericht, die »sachliche Einschätzung der Behandlungsbedürftigkeit in das medizinische System« rückübertragen.

Fazit

In Baden-Württemberg ist die Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte seit 2016 kein Thema mehr. Zwar hatte die grün-rote Landesregierung 2015 vor, die eGK flächendeckend einzuführen. Die 2016 neu gewählte grün-schwarze Regierung setzte dieses Vorhaben jedoch nie um. Begründet wurde die Entscheidung mit organisatorischen, datenschutzrechtlichen und technischen Hindernissen sowie gesunkenen Zugangszahlen. Der Bericht zeigt jedoch, dass es sich in vielerlei Hinsicht lohnen würde, die Forderung wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen. Zwar ändert auch die eGK nichts an der kritikwürdigen eingeschränkten Gesundheitsversorgung in den ersten 18 Monaten des Aufenthalts, aber sie trägt zu einer erheblichen Entspannung aller Beteiligten im Versorgungskontext bei._



Dieser Artikel erschien in Ausgabe 1/2022 unseres Magazins Perspektive, das hier kostenlos bestellt und heruntergeladen werden kann.


Einblick ins syrische Eherecht

Angesichts der vielfältigen und diversen Gesellschaft in Deutschland, unter anderem auch mit Menschen aus Syrien, ist ein Überblick über einige der Regeln und Bestimmungen, welche die Rechtsverhältnisse syrischer Familien regeln, ebenso interessant wie hilfreich. Dies betrifft auch die offiziellen Dokumente, die im Zusammenhang mit einer Eheschließung in Syrien benötigt werden. Derzeit werden in Deutschland unterschiedliche Dokumente als Nachweis von Ehen, die in Syrien geschlossen wurden, geprüft. Je nachdem, ob die Eheschließungsabsicht dem Familiengericht vorab mitgeteilt wurde, ob eine außergerichtlich geschlossene Ehe nachträglich eingetragen wurde oder ob eine Feststellungsklage zum Bestehen der Ehe erhoben wurde, sind unterschiedliche Dokumente erforderlich. Der folgende Artikel wirft einen kurzen Blick ins syrische Eherecht.

von Yousef Mahfouz

Das Eherecht gehört zum syrischen Familien- und Erbrecht, das auf verschiedenen Personalstatutsgesetzen je nach Religion aufgeteilt ist. Familien- und Erbschaftsangelegenheiten für Muslim*innen, die die große Mehrheit der Gesamtbevölkerung ausmachen, sind im syrischen Personalstatutsgesetz (PSG), dem sogenannten qanun al-ahwal al-shakhsiya von 1953 geregelt. Aber auch alle syrischen Staatsangehörigen, die Glaubensgemeinschaften angehören, die nicht ausdrücklich von diesem Gesetz ausgenommen sind, wie zum Beispiel Jesiden*innen, sind an dieses Gesetz gebunden (Art. 306 PSG). Darüber hinaus haben die anderen drei großen Religionsgruppen, die nicht diesem Gesetz unterliegen – Christen, Juden und Drusen – ihre eigenen familien- und erbrechtlichen Bestimmungen.

Das syrische Personenstandsgesetz basiert zum großen Teil auf den rechtswissenschaftlichen Schulen der islamischen Scharia und die Bestimmungen zur Ehe sind in diesem Gesetz geregelt. Dies bedeutet, dass die Bestimmungen zur Ehe in Syrien denselben legalen Charakter wie andere Verträge haben. Daher ist die Eheschließung im syrischen Recht ein zivilrechtlicher Vertrag. Dieser kommt durch Angebot und Annahme dieses Angebots zustande (Art. 5 PSG). Die Ehefähigkeit setzt im syrischen Recht im Prinzip die geistige Gesundheit und das Erreichen der Pubertät voraus (Art. 15 Absatz 1 PSG). Die Gültigkeit des Ehevertrages setzt des Weiteren auch die Anwesenheit von zwei Zeug*innen und des Ehevormunds voraus (Art. 12 PSG).

Ehevormund ist nach dem PSG in der Regel der Vater oder Großvater der Person, je nach Familienkonstellation können aber auch andere Personen Vormund sein. Art. 22 PSG setzt zudem voraus, dass der Vormund zurechnungsfähig und erwachsen ist. Zudem definiert das Personalstatutsgesetz nach den neuen Änderungen durch das Gesetz Nr. 4 aus dem Jahr 2019 ein grundsätzliches Ehemündigkeitsalter: Danach können Männer und Frauen mit Vollendung des 18. Lebensjahres die Ehe eingehen (Art. 16 PSG). Der Ehevertrag ist an keine bestimmte Formalität gebunden und in der Praxis ist die Beteiligung des Staates in Gestalt von Gerichten oder Behörden keine Voraussetzung für die Wirksamkeit der Ehe. Besteht jedoch beispielsweise die Absicht, die Ehe vor Erreichen des grundsätzlichen Ehemündigkeitsalters zu schließen, ist eine Zustimmung des Familiengerichts und des Ehevormunds erforderlich, wenn der Vormund Vater oder Großvater ist (Art. 18 PSG). Wenn ein minderjähriges Mädchen durch ihren Vormund ohne ihre Zustimmung verheiratet wird und sie davon Kenntnis erlangt, ist die rechtliche Wirksamkeit des Ehevertrags von ihrer ausdrücklichen Zustimmung abhängig (Art. 21 Absatz 2 PSG).

Der syrische Gesetzgeber erwähnt weitere Einschränkungen für Fälle, in denen das Gesetz trotz des erreichten Ehemündigkeitsalters der Eheleute dem Gericht Ermessensspielraum für die Erteilung der gerichtlichen Genehmigung lässt, beispielsweise Art. 19 PSG in Bezug auf die Altersproportionalität, also den Altersabstand, zwischen Ehegatten. Wenn das Gericht feststellt, dass zwischen den beiden Eheleuten keine Altersproportionalität besteht, liegt es in seinem Ermessen, die Erlaubnis nicht zu erteilen. Ein weiteres Beispiel liefert seit der Gesetzesänderung aus dem Jahr 2019 Artikel 20 PSG: Wenn eine Frau das 18. Lebensjahr vollendet hat und heiraten möchte, fordert der Richter ihren Vormund auf, innerhalb einer Frist von höchstens fünfzehn Tagen seine Meinung zu äußern. Erhebt er keine Einwände oder ist sein Einwand nicht erwägenswert, so genehmigt der Richter die Eheschließung unter der Bedingung der Gleichwertigkeit, welche die Eheleute, in der Praxis häufig die Frau, im Falle einer Scheidung absichern soll (rechtliche Möglichkeiten/Voraussetzungen im Fall einer Scheidung) und der Bedingung der Brautgabe (ähnlich einer Mitgift, die jedoch der Mann an die Frau zahlt).

Formen einer wirksamen Eheschließung nach klassischem syrischen Recht

1. Religiöse Eheschließung

In der Praxis werden Ehen auch informell (religionsrechtlich) ohne gerichtliche Mitwirkung abgeschlossen. Solche Eheschließungen werden im Folgenden als außergerichtliche Eheschließungen bezeichnet. Schriftstücke, die bei einer außergerichtlichen Eheschließung aufgesetzt werden, sind oft nicht standardisiert. Wenn man nach einer außergerichtlichen Eheschließung allerdings eine amtliche Heiratsurkunde benötigt, um zum Beispiel Rechte und Ansprüche aus der Ehe nachzuweisen, muss man beim Familiengericht eine nachträgliche Bestätigung der Eheschließung beantragen. Ist es der Person unzumutbar, die für die Bestätigung erforderlichen Unterlagen vorzuweisen oder wurde die Bestätigung der Ehe abgelehnt, besteht weiter die Möglichkeit, eine Feststellungsklage über das Bestehen der Ehe zu erheben.

2. Anzeige der Eheabsicht vor Gericht

Die Ehewilligen können den Weg der staatlichen Mitwirkung an der Ehe wählen, indem sie ihre Eheschließungsabsicht vorab dem Gericht mitteilen. Somit kann man die Rechte von Ehegatten und Kindern aus der Ehe (wie Abstammung, Mitgift, Unterhalt, Erbschaft) garantieren. Problematisch zurzeit und ein Ergebnis des Krieges ist, dass es keine einheitliche Anwendung des Familienrechts auf dem syrischen Staatsgebiet gibt. Auf Grund des seit Jahren fortwährenden Kriegs hat sich das syrische Staatsgebiet aufgespalten und es haben sich zum Teil eigene Verwaltungs- und Normensysteme in einigen Regionen des Landes etabliert. Dies betrifft vor allem den Norden des Landes, der von arabischen sowie kurdischen Oppositionellen kontrolliert wird. Daher kann zurzeit nicht mehr von einer landesweiten Anwendung des staatlichen syrischen Rechts ausgegangen werden._


Dieser Artikel erschien in Ausgabe 3/2022 unseres Magazins Perspektive, das hier kostenlos bestellt und heruntergeladen werden kann.


Was ist eigentlich eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)?

Viele geflüchtete Menschen, die in Deutschland Asyl beantragen, haben in ihrem Herkunftsstaat Krieg, Vertreibung, Gefangenschaft, sexuelle Gewalt oder Folter erlebt oder wurden Zeug*innen von schweren Menschenrechtsverletzungen. Darüber hinaus ist die Flucht stets mit dem Verlust familiärer Strukturen und sozialer Netzwerke sowie mit lebensgefährlichen Erfahrungen auf riskanten Fluchtrouten verbunden. Das alles sind traumatische Erfahrungen, die Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit der Betroffenen haben. Daher leiden viele der in Deutschland lebenden Geflüchteten an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Aber was genau bedeutet das eigentlich?

von Meike Olszak & Ronja Olszak

Die PTBS bildet eine Unterkategorie der Traumafolgestörungen. Die Diagnose einer PTBS setzt also zunächst ein traumatisches Erlebnis voraus. Im Rahmen der psychologischen und psychiatrischen Diagnostik wird der Begriff »Trauma« als ein belastendes Ereignis oder eine kurz- oder langanhaltende Situation mit außergewöhnlicher Bedrohung oder von katastrophalem Ausmaß definiert, die bei fast jedem Menschen eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Hierunter fallen in erster Linie Situationen, in denen Menschen tatsächlichem oder drohendem Tod, schwerer Verletzung oder sexuellem Missbrauch als Opfer oder als Zeug*in ausgesetzt sind. Nicht jede*r, die*der ein Trauma erlebt, entwickelt im Anschluss eine PTBS. Von einer PTBS als einer äußerst komplexen und vielschichtigen Störung wird dann gesprochen, wenn zusätzlich Symptome in den folgenden drei Bereichen vorliegen:

Wiedererleben

Betroffene Personen leiden häufig unter anhaltenden, eindringlichen Erinnerungen an das traumatische Erlebnis und/oder sie erleiden sogenannte Flashbacks, in denen sie fühlen oder handeln, als ob sich die traumatische Situation gerade wiederholt. Unter das Kriterium der Wiedererinnerung fallen außerdem sich wiederholende und belastende Träume, die in Beziehung zu dem traumatischen Erlebnis stehen.

Vermeidung

Personen, die an PTBS leiden, vermeiden Reize, die mit dem Trauma verbunden sind. Sie versuchen entweder, entsprechende Erinnerungen, Gedanken oder Gefühle nicht zuzulassen, oder externen Reizen, wie bestimmten Personen, Plätzen, Unterhaltungen, Aktivitäten oder Situationen aus dem Weg zu gehen.

Erinnerungsverlust oder Übererregung

Betroffene Personen können sich außerdem entweder an wichtige Aspekte des Traumas nicht erinnern oder leiden an erhöhter psychischer Sensitivität und Erregung. Unter letzteres fallen zum Beispiel Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, erhöhte Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit oder Wutausbrüche. Die Symptome einer PTBS können direkt im Anschluss an das erlebte Trauma, aber auch erst viel später auftreten und phasenweise unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Im Falle einer komplexen PTBS treten sie hingegen chronisch auf und gehen mit einer andauernden Persönlichkeitsänderung einher. Posttraumatische Belastungsstörungen können am wirksamsten im Rahmen einer Psychotherapie behandelt werden. Durch Medikamente können bestimmte Symptome, zum Beispiel Schlafstörungen, gelindert werden._


Informationsbroschüren über PTBS inklusive einer Auswahl migrationsspezifischer Angebote in zehn Sprachen

Traumasensibler und empowernder Umgang mit Geflüchteten: Ein Praxisleitfaden


Dieser Artikel erschien in Ausgabe 1/2022 unseres Magazins Perspektive, das hier kostenlos bestellt und heruntergeladen werden kann.


Krankheit im Kontext von Flucht

Aufgrund von bewaffneten Konflikten, Verfolgung, Folter, unzureichender medizinischer Versorgung in den Herkunftsstaaten sowie häufig jahrelanger Fluchtwege verbunden mit Aufenthalten in Sammellagern mit unzureichender Wasser-, Hygiene- und Sanitärversorgung unterliegen geflüchtete Menschen einem erhöhten Risiko, psychisch oder physisch zu erkranken.
Aber wie hoch sind die Zahlen wirklich? Welche Auswirkungen können Erkrankungen auf das Asylverfahren oder auf den aufenthaltsrechtlichen Status haben? Welche Anforderungen müssen ärztliche Atteste berücksichtigen? Das Thema Krankheit wirft im Kontext Flucht zahlreiche Fragen auf.

von Meike Olszak

Wie steht es um den Gesundheitszustand nach Deutschland geflüchteter Menschen? Es ist tatsächlich kaum möglich, substantielle Aussagen darüber zu treffen, wie hoch der Anteil verschiedener Erkrankungen innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe ist. Grund dafür ist ein Mangel an bundesweiten und über Raum und Zeit vergleichbaren Daten. Der Erhebung relevanter Daten über die Gesundheit und Versorgung geflüchteter Menschen in Deutschland steht eine Reihe von Hürden entgegen. Repräsentative Gesundheitsstudien würden zum Beispiel eine sprachliche, kulturelle und kontextbezogene Anpassung von Befragungsinstrumenten erfordern. Routinedaten sind nicht einfach zugänglich und wenig vergleichbar, da sie in den Ambulanzen der Erstaufnahmeeinrichtungen unterschiedlich zusammengefasst werden. Das vorhandene Wissen fußt daher fast ausschließlich auf lokalen und zeitlich begrenzten Einzelstudien. Obwohl es dadurch schwierig ist, aussagekräftige Zahlen zu finden, ist die Tendenz eindeutig:

Erhöhtes Risiko psychischer und physischer Krankheit

Aufgrund der Erfahrungen vor, während und nach der Flucht sind geflüchtete Menschen einer Vielzahl von besonderen Gesundheitsrisiken ausgesetzt. Internationale Studien zeigen, dass sie eine höhere Krankheitslast aufweisen und häufiger an psychischen, Infektions- und nicht übertragbaren chronischen Erkrankungen sowie an Ernährungsstörungen leiden. Die Bundestherapeutenkammer sprach 2015 davon, dass mindestens die Hälfte der geflüchteten Menschen in Deutschland psychisch krank sei. Etwa 40 bis 50 Prozent der Erwachsenen würden unter posttraumatischen Belastungsstörungen und rund die Hälfte unter Depressionen leiden. Daher ist eine effiziente gesundheitliche Versorgung nach Ankunft in Deutschland von großer Bedeutung. Diese ist für eine Vielzahl geflüchteter Menschen jedoch stark eingeschränkt.

Zugang zur Gesundheitsversorgung

Asylsuchende, geduldete und ausreisepflichtige Personen ohne geregelten Aufenthalt, die sich seit weniger als 18 Monaten in Deutschland aufhalten, können nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nur bei akuter Erkrankung und Schmerzzuständen behandelt werden (§ 4 Absatz 1 AsylbLG). Ausnahmen gelten unter anderem für Schwangere. Die Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung variiert stark zwischen den Bundesländern. Während in einigen Bundesländern Asylsuchende mittlerweile eine elektronische Gesundheitskarte erhalten, müssen die Schutzsuchenden in anderen Bundesländern, unter anderem in Baden-Württemberg, weiterhin vor einer Behandlung bei der zuständigen Behörde einen Behandlungsschein beantragen. Dadurch entstehen zusätzliche bürokratische Hürden. Mit Zuerkennung eines Schutzstatus oder nach 18-monatigem Aufenthalt erhalten Geflüchtete Zugang zu den regulären Gesundheitsleistungen. Strukturelle, sprachliche, kulturelle und geografische Barrieren beim Zugang zu Versorgungsangeboten bestehen jedoch häufig fort.

Geltendmachung einer Krankheit während des Asylverfahrens

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Asylsuchende auf bestehende psychische und physische Krankheiten im Asylverfahren hinweisen und diese nach Möglichkeit mit aussagekräftigen (!) ärztlichen Bescheinigungen nachweisen. Gelegenheit dazu besteht in erster Linie im Rahmen der persönlichen Anhörung. Diese ist ein fundamentaler Bestandteil des Asylverfahrens. Sie wird von Mitarbeitenden des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) durchgeführt und kann bereits wenige Tage nach Asylantragstellung oder aber mehrere Monate später stattfinden. Die Anhörung beginnt in der Regel mit einem Katalog von Fragen zu den persönlichen Verhältnisse und zum Reiseweg. Anschließend können die Asylsuchenden ihre Fluchtgründe sowie besondere Umstände, wie zum Beispiel Erkrankungen, vortragen.

Da die Mitarbeitenden des BAMF in der Regel nicht explizit nachfragen werden, ist es wichtig, dass Asylsuchende eigenständig auf physische oder physische Erkrankungen hinweisen. Die anschließende Prüfung möglicher Schutzgründe basiert größtenteils auf diesen Darlegungen. Das BAMF prüft im Asylverfahren, ob die antragstellende Person die Voraussetzungen für die Asylberechtigung, die Flüchtlingsanerkennung, den subsidiären Schutz oder ein Abschiebungsverbot erfüllt. Die Geltendmachung einer Erkrankung kann unter Umständen zu einem Abschiebungsverbot führen, zum Beispiel, wenn eine Behandlung im Herkunftsstaat nicht möglich ist. Aber auch bei anderen Schutzgründen kann eine vorhandene Erkrankung eine Rolle spielen, etwa wenn es für eine inländische Fluchtalternative auf die Erwerbsfähigkeit der asylsuchenden Person ankommt.

Das BAMF erwartet, dass die Fluchtgründe der betroffenen Person möglichst detailliert und widerspruchsfrei dargelegt werden. Für traumatisierte Personen, die beispielsweise aufgrund von Verdrängung bestimmter Ereignisse Erinnerungslücken aufweisen, ist eine solche Darlegung unter Umständen unmöglich. Das BAMF schließt von mangelnder Detailliertheit und Widersprüchen in der Fluchtgeschichte regelmäßig auf die Unglaubhaftigkeit des Vorbringens. In solchen Fällen kann der Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden. Daher sollten psychische Erkrankungen, wie Traumafolgestörungen, frühzeitig diagnostiziert und durch entsprechende Atteste nachgewiesen werden. Gelingt dies nicht vor der Anhörung, sollten danach ausgestellte Atteste sofort beim BAMF oder – wenn schon ein gerichtliches Verfahren läuft – auch bei Gericht eingereicht werden. Auch nach abgeschlossenem Asylverfahren können psychische und physische Erkrankungen im Asylund Aufenthaltsrecht in ganz unterschiedlichen Kontexten von Bedeutung sein.

Krankheit als Abschiebungshindernis

Trotz negativem Abschluss des Asylverfahrens kann eine Abschiebung durch die Geltendmachung einer Krankheit unter Umständen verhindert werden, denn Erkrankungen können ein Abschiebungshindernis gemäß § 60a Absatz 2 Satz 1 AufenthG darstellen. Ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis tatsächlich durchzusetzen ist allerdings schwierig. In der Regel wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen (§ 60a Absatz 2c AufenthG). Die Anforderungen an die zur Entkräftung dieser Vermutung erforderlichen fachärztlichen Atteste sind hoch. Erforderlich ist eine fachärztliche Bescheinigung, die die »tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten« muss. Außerdem müssen die zur Behandlung der Erkrankung erforderlichen Medikamente mit der Angabe ihrer Wirkstoffe und diese mit ihrer international gebräuchlichen Bezeichnung aufgeführt sein. Fehlt nur eine der Anforderungen, wird das Attest nicht berücksichtigt. Das Attest muss so schnell wie möglich angefertigt und dem Regierungspräsidium Karlsruhe und der örtlichen Ausländerbehörde zur Kenntnis gegeben werden.

Mit der Begründung, dass Atteste nur von Fachärzt*innen ausgestellt werden dürfen, werden Gutachten von psychologischen Psychotherapeut*innen häufig abgelehnt. Diese Anforderungen gelten (inzwischen) auch für die im Asylverfahren geprüften zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote (§ 60 Absatz 7 Satz 2 AufenthG). Sonderregelungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht Das Aufenthaltsgesetz verzichtet teilweise auf die Erfüllung bestimmter Erteilungsvoraussetzungen, sofern diese wegen einer Krankheit nicht erfüllt werden können. Beispielsweise wird bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bei nachhaltiger Integration von den Voraussetzungen der überwiegenden Lebensunterhaltssicherung und des Sprachnachweises abgesehen, wenn die geflüchtete Person sie wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit nicht erfüllen kann (§ 25b Absatz 3 AufenthG). Mit derselben Begründung kann eine Niederlassungserlaubnis gemäß § 9 Absatz 2 AufenthG ohne Nachweis von Deutschkenntnissen, Grundkenntnissen der Rechts- und Gesellschaftsordnung, der Lebensunterhaltssicherung und einer (ausreichenden) Altersvorsorge erteilt werden (§ 9 Absatz 2 Satz 3 AufenthG). Im Rahmen des Ehegattennachzugs ist der A1-Sprachnachweis entbehrlich, wenn dieser wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht erbracht werden kann (§ 30 Absatz 1 Satz 3 Nummer 2 AufenthG).

Ähnliche Ausnahmen existieren im Kontext der Niederlassungserlaubnis für Kinder (§ 35 Absatz 4 AufenthG) und der Einbürgerung (§ 10 Absatz 6 StAG). Auch im Rahmen des Familiennachzugs kann die Gesundheit der nachzugswilligen Person von Bedeutung sein. Ist die nachzugswillige Person (oder die Person in Deutschland) pflegebedürftig und auf familiäre Hilfe angewiesen, kann einem Familienangehörigen unter Umständen ein Visum zum Familiennachzug erteilt werden.

Die Geltendmachung einer Krankheit kann darüber hinaus relevant sein, wenn die geflüchtete Person zum Beispiel in die Nähe eines pflegebedürftigen Verwandten oder aufgrund von Krankheit in die Nähe eines bestimmten Behandlungsortes ziehen möchte. Solche Anliegen müssen sowohl bei der landesübergreifenden und landesinternen Verteilung (§ 51 Absatz 1 AsylG; § 50 Absatz 4 Satz 5 AsylG) als auch bei der Wohnsitzauflage für Geduldete (§ 61 Absatz 1d Satz 3 AufenthG) berücksichtigt werden.

Fazit

Insgesamt wird deutlich, dass der Forschungsbedarf hinsichtlich des Gesundheitszustands und der medizinischen Versorgung geflüchteter Menschen in Deutschland hoch ist. Existierende Studien lassen jedoch unstrittig darauf schließen, dass diese Personengruppe einem besonderen Risiko ausgesetzt ist. Vor allem psychische Erkrankungen treten im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung besonders häufig auf. Die Geltendmachung physischer und psychischer Erkrankungen kann sowohl während der Anhörung im Asylverfahren, als auch zu einem späteren Zeitpunkt von großer Bedeutung sein. Die Anforderungen an fachärztliche Atteste sind allerdings hoch. Um bürokratische, kulturelle und sprachliche Hürden zu verringern, ist ehrenamtliche Unterstützung bei der Geltendmachung von Erkrankungen für die Betroffenen daher häufig unentbehrlich._


Dieser Artikel erschien in Ausgabe 1/2022 unseres Magazins Perspektive, das kostenlos bestellt und heruntergeladen werden kann.


Sinsheim: Frauen auf der Flucht – Ursachen, Bedürfnisse und Folgen

Rund 50 Prozent aller geflüchteten Menschen weltweit sind Frauen und Mädchen. Viele von ihnen müssen ihre Herkunftsländer aufgrund von geschlechtsspezifischer Verfolgung verlassen. Sowohl auf der Flucht als auch bei der Ankunft in Deutschland stehen Frauen häufig vor ganz besonderen Herausforderungen.

Der Workshop wirft einerseits einen Blick auf besonders häufig vorkommende frauenspezifische Fluchtgründe und thematisiert die Herausforderungen ihrer asylrechtlichen Geltendmachung. Andererseits soll den Teilnehmenden ein Überblick über die besonderen Bedarfe von geflüchteten Frauen sowie eine Orientierung zu weiteren relevanten Aspekten des Asyl- und Aufenthaltsrechts geboten werden.

Die Veranstaltung findet im Rahmen der Tagung „Vielfalt öffnet Räume“ in Sinsheim statt.

Referentin: Meike Olszak, Flüchtlingsrat Baden-Württemberg

Ort: Dr.-Sieber-Halle, Friedrichstraße 17, 74889 Sinsheim

Die Anmeldung ist bis zum 24. September 2023 digital über folgenden Link möglich. Die Teilnahme ist kostenlos.

Der Workshop findet im Rahmen des Projekts „Perspektive durch Partizipation“ statt, das von der Aktion Mensch gefördert wird.


Deutschland hat mal wieder eine Abschiebungsdebatte…

Das Bundesinnenministerium hat einen „Diskussionsentwurf“ zu gesetzlichen Veränderungen zum Oberbegriff „Rückführungen“ vorgelegt. Dieser beinhaltet im Wesentlichen Verschärfungen des Asylrechts im Bereich Abschiebehaft und hat mal wieder eine Diskussion über Abschiebungen entfacht.

Was dabei außer Acht gelassen wird? 71% der Menschen, deren Asylgründe vom BAMF geprüft werden, erhalten zu Recht Schutz in Deutschland. Die Quote liegt damit auf Rekordniveau.

Statt realitätsferner Stimmungsmache sollte also mehr darüber gesprochen werden, wie wir ausreichend Unterkünfte schaffen, wie wir Plätze und Personal für Sprachkurse organisieren, wie wir die Menschen in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt einbinden können.

Statt Abschiebungen zu forcieren – die schon jetzt mit einer unmenschlichen Praxis einhergehen – sollten daher Bleiberechtsmöglichkeiten besser genutzt werden.



Macht und Ohnmacht der Integrationskurse

Als Reaktion auf das Eingeständnis Deutschlands, ein Einwanderungsland zu sein, wurde erstmals die Notwendigkeit für staatliche Maßnahmen der Integrationsförderung anerkannt. Die in der Folge von der Bundesregierung eingeführten Integrations- und Orientierungskurse, die aus einem Sprachkurs, sowie einem wertevermittelnden Orientierungskurs bestehen, stellen seit der Einführung im Jahr 2005 das Kerninstrument deutscher Integrationspolitik dar. Doch inwiefern werden auch durch Integrationskurse Machtasymmetrien reproduziert?

von Iris Trauner

Sobald von Einwanderung die Rede ist, kann man sich fast sicher sein, dass der Begriff Integration fällt und es dabei ein vermeintlich klares Verständnis über die Bedeutung des Begriffs gibt, wie die Aussage Volker Bouffiers exemplarisch veranschaulicht: »Die, die hierbleiben, müssen gut integriert werden. Wer in unser Land kommt, muss nach den Werten und Normen dieses Landes leben. Da dürfen wir keinen Rabatt geben. Wir werden kein islamisches Land. Wir bekommen keine Verhältnisse wie in den arabischen Staaten1

Integration wird oftmals im Sinne einer Forderung nach einseitiger kultureller Anpassung der Migrant*innen – also einer Bringschuld – verwendet. Eng damit verbunden ist die implizite Forderung nach Spracherwerb. Aufgrund dieses weit verbreiteten Verständnisses von Integration ist es umso wichtiger, das Kerninstrument der deutschen Integrationspolitik, die Integrationskurse, kritisch zu hinterfragen. Hierbei spielen die machtkritischen Perspektiven des sogenannten Otherings, der soziokulturellen Hegemonie und der Umgang mit Differenzen eine Rolle.

Othering beschreibt die Aufteilung sozialer Gruppen in Zugehörige und Nicht-Zugehörige – also in ein Wir und ein Ihr. Othering beschäftigt sich also mit dem Prozess des Fremdmachens und hat zum Ziel, ein Fremdbild und dadurch auch ein Selbstbild zu erschaffen und zu erhalten.

Dabei wird häufig das Bild von Nationen als Containern verwendet: Menschen werden nach Nationalitäten und Ethnien unterschieden, wobei ihnen jeweils einheitliche Werte und Eigenschaften zugeschrieben werden. Elementar dabei ist, dass die Einteilung von Individuen basierend auf Nationalitäten nicht folgenlos bleibt, denn sie zieht reale Konsequenzen nach sich: die Annahme einer westlichen Überlegenheit durch soziokulturelle Hegemonie. Denn in Fortsetzung der Unterscheidung in Wir und Ihr wird mit dem Begriff der soziokulturellen Hegemonie die Vorstellung von höher- beziehungsweise minderwertigen Kulturen beschrieben. Im einfachen Sinne bedeutet Hegemonie Vorherrschaft und erklärt die auf der Vorstellung von homogenen Kulturen basierende Annahme der kulturellen Überlegenheit beziehungsweise Rückständigkeit. Spannend ist daher auch ein Blick darauf, wie sich der Umgang mit vermeintlicher Differenz gestaltet. Durch die Einteilung von Individuen in Gruppen und die Bewertung dieser wird eine gewisse Norm geschaffen, wobei Abweichungen und Differenzen davon oft negativ bewertet werden. Was bedeutet das mit Blick auf Integrationskurse?

Zielsetzung von Integrationskursen

Bereits in der Formulierung der Zielsetzung der Integrationskurse lässt sich eine auf Herkunft basierende Einteilung in homogene Gruppen erkennen. Dass »den Ausländern die Sprache, die Rechtsordnung, die Kultur und die Geschichte2« Deutschlands nähergebracht werden sollen, zeigt: Aus Migrant*innen wird eine homogene Masse der Anderen gemacht, wodurch sie von der vermeintlich ebenfalls homogenen Masse der deutschen Dominanzgesellschaft unterschieden werden. Nicht zuletzt darin, wer ein Mitspracherecht bei der Bedarfsermittlung und Konzeption der Kurse hat – nämlich zumeist nicht die Teilnehmenden selbst –, zeigt sich eine klare Machtasymmetrie zwischen Migrant*innen und Dominanzgesellschaft. Zwar wird kulturelle Differenz oftmals als bereichernd dargestellt; jedoch suggeriert die Forderung nach einer einseitigen Anpassung die Annahme eines Bildungsdefizits auf Seiten der Migrant*innen. Das Ziel von Integrationskursen scheint es demnach zu sein, diesen Defiziten Herr zu werden und die zwischen Migrant*innen und Deutschen angenommene Differenz aufzuheben. So soll der Normalzustand wiederhergestellt werden.

Teilnahmeberechtigung und -verpflichtung

Abgesehen von der Art des Aufenthaltstitels entscheiden in der Praxis zumindest für die Dauer des Asylverfahrens auch das Einreisedatum sowie die Herkunft darüber, wer an einem Integrationskurs teilnehmen darf oder gar muss. Neben der Teilnahmeberechtigung gibt es unter bestimmten Voraussetzungen nämlich auch eine Teilnahmeverpflichtung. Verpflichtet wird unter anderem, wer nach Meinung der Behörden vermeintlich besonderen Integrationsbedarf aufweist. Besonders die Verpflichtung zur Teilnahme – gewissermaßen ein Zwang zur Anpassung – stellt dabei ein im Aufenthaltsgesetz verankertes Machtinstrument dar. Wer der Verpflichtung nicht nachkommt, hat durchaus mit relevanten aufenthaltsrechtlichen und finanziellen Sanktionen zu rechnen – so können beispielsweise die Sozialleistungen gekürzt werden3. Damit wird erneut suggeriert, dass Differenzen als problematisch bewertet werden und der Integrationskurs als Kontrollinstrument dazu dienen soll, diese Differenzen einseitig aufzuheben.

Inhalt von Integrationskursen

Auch bei genauerer Betrachtung des Inhalts, dessen Festlegung dem BAMF obliegt, lässt sich vielfach die Verwendung eines nationalen Narrativs beobachten: »die Deutschen«, »die Ausländer«, »unsere Regeln und Werte«– Beispiele lassen sich zuhauf in den zugelassenen Kurswerken4 finden. Auch die ausgewählten Themen des wertevermittelnden Orientierungskurses konstruieren sowohl die Deutschen als auch die Anderen als homogene Gruppen. So wird durch Zuschreibungen von positiven deutschen Eigenschaften wie Pünktlichkeit und Gleichberechtigung ein positives Selbstbild geschaffen – mit der Folge einer indirekten Abwertung Nicht-Deutscher, die etwa unpünktlich und paternalistisch erscheinen.

Durch die Annahme, dass die Behandlung von Themen wie Gleichberechtigung, Erziehung und Rollenverteilung notwendig wäre, wird Migrant*innen ein flächendeckendes Unwissen bezüglich dieser vermeintlich deutschen Werte unterstellt. Dies setzt voraus, dass Gleichberechtigung als ein westliches Monopol angesehen wird und den nicht-westlichen Teilnehmenden deshalb erklärt werden müsse. Die Behandlung dieser und ähnlicher Themen ist demnach als Zeichen der Annahme der kulturellen Überlegenheit des zivilisierten Westens zu werten. Nur so lässt sich erklären, warum sich die deutsche Integrationspolitik anmaßt, Migrant*innen – ungeachtet ihrer Heterogenität – im Sinne der Integration Themen wie Erziehungsstile, Gleichberechtigung und Familienformen beibringen zu wollen. Aufgrund der durch die Inhalte des Orientierungskurses geschaffenen Selbst- und Fremdbilder von Deutschen und Migrant*innen wird Differenz problematisiert. Die Belehrung über Verhaltensweisen zeigt eine gewisse Anspruchshaltung gegenüber Migrant*innen im Sinne einer Umerziehung und zielt auf die Angleichung an die »Norm« der Dominanzkultur ab.

Plädoyer

Die Einführung bundesweiter Sprachkurse wird gemeinhin als Bereicherung aufgefasst. Trotz der – durchaus berechtigten – positiven Stimmen zur Einführung der Integrations- und Orientierungskurse schließt dies keineswegs aus, ebendiese in Bezug auf die Reproduktion von Machtasymmetrien als problematisch zu betrachten. Denn: Sprache stellt denjenigen Bereich dar, in welchem Machtverhältnisse am wenigsten hinterfragt werden. Was wäre also eine alternative Herangehensweise? Ein dringend notwendiges Aufbrechen von Machtasymmetrien in Integrations- und Orientierungskursen lässt sich zweifelsohne nicht mithilfe einer einzigen Veränderung erreichen. Ein guter Start für eine Reform könnte jedoch die Aushandlung des gesellschaftlichen Miteinanders zum Ziel machen. Keinesfalls besteht nämlich in Anspruch auf ein Aufgeben der eigenen kulturellen Praxen, lediglich weil sie im (deutschen) Handlungsraum nicht vorherrschend sind. Vielmehr kann die Aufnahmegesellschaft durch den Orientierungskurs Angebote schaffen, zusätzliche Kenntnisse zu erlangen, um die Handlungsfähigkeit von Migrant*innen zu erhöhen. Wo Zwang ausgeübt wird, regt sich Widerstand. Sanktionen und Verpflichtungen werden nicht nur als kontraproduktiv, sondern auch als überflüssig erachtet, denn Spracherwerb und Integration lassen sich nicht erzwingen – stattdessen sollte Freiwilligkeit die Basis darstellen.

Eine intrinsische (von innen kommende) Motivation könnte dadurch erreicht werden, Teilnehmende bei der Konzeption der Kurse einzubinden. Hierzu gehört nicht nur die Einbindung in die entscheidenden Gremien, sondern auch die individuelle, flexible und der Heterogenität der Zielgruppe Rechnung tragende Anpassung der Inhalte. Dies würde beispielsweise bedeuten, nicht mehr nur diejenigen Inhalte zu thematisieren, die von Seiten der Aufnahmegesellschaft gewünscht sind. Einzig und allein die Teilnehmenden können ihre Ziele festlegen – und sie müssen endlich als Expert*innen für sich selbst und ihren individuellen Integrationsprozess verstanden werden. Denn die Frage der Zielsetzung, Konzeption und Teilnahmeregelung von Integrationskursen wirft im Kern die Frage auf: wer darf dazugehören? – Womit aus machtkritischer Perspektive gleich noch eine zweite Frage hinzukommt: Wer entscheidet darüber, wer dazugehören darf und was dazu notwendig ist?

Dazu müsste jedoch zunächst das hegemoniale Selbstverständnis der deutschen Dominanzgesellschaft aufgegeben werden. »Solange aber Integration in Deutschland vorrangig als ein Instrument zur Sicherstellung des Vorrechtes der Mehrheitsgemeinschaft begriffen wird« – so Politikwissenschaftler Ha und Schmitz – »bleibt eine Kritik notwendig, die […] eine Gegenbewegung […] unterstützt: Die Kunst nicht auf diese Weise, nicht um diesen Preis, nicht dermaßen integriert zu werden5.«_


1 Zitiert nach Kammholz, Karsten und Vitzthum, Thomas (2015): Wir werden kein islamisches Land. Online verfügbar unter: https://www.welt.de/politik/deutschland/article147745313/Wir-werden-kein-islamisches-Land.html

2 Siehe § 43 Absatz 2 Satz 2 AufenthG (Hervorhebungen durch Autorin)

3 Siehe unter anderem § 44a Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 AufenthG in Verbindung mit §§ 15 und 31 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe b SGB II; § 9 Absatz 2 Satz 2 AufenthG; § 98 Absatz 2 Nummer 4 AufenthG; § 10 Absatz 3 StAG.

4 Beispiele zitiert nach Buchwald-Wargenau, Isabel (2018): Mein Leben in Deutschland. Der Orientierungskurs.

5 Siehe Ha, Kien Nghi und Schmitz, Markus (2006): Der nationalpädagogische Impetus der deutschen Integrations(dis)kurse im Spiegel post-/kolonialer Kritik.


Dieser Artikel erschien in Ausgabe 3/2021 unseres Magazins Perspektive, das hier kostenlos bestellt und heruntergeladen werden kann.