Feiern und politisch sein
Ob in San Francisco, Belgrad, Straßburg, Waldkirch oder Mannheim – in aller Welt begehen viele Roma am 8. April den Internationalen Tag der Roma. Mancherorts organisieren Engagierte Kundgebungen, Gedenkveranstaltungen, Vorträge, Lesungen und Gesprächsrunden. Denn dieser Tag wird auch für eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Lebensumstände von Roma genutzt, gleichberechtigte Teilhabe wird eingefordert. Ein Rom erläuterte hierzu: „Wir wollen damit auch unsere Jugendlichen erreichen und die Leute aufwecken.“ Doch durch die Pandemie ist das Feiern und Abhalten von Kundgebungen nun sehr schwierig bis unmöglich geworden, Alternativen sind gefragt.
Von Adem Ademi und Manuel Werner vom Netzwerk Pro Sinti & Roma
Prägend für den Welt-Roma-Tag ist traditionell das Feiern, das eng verknüpft ist mit dem Bewusstsein, stolz zu sein auf das reiche kulturelle Erbe und die soziale Vielfalt der Roma. Daher konnte man in vorpandemischen Zeiten auch Poesie, Musik, Tänze oder Theateraufführungen aufführen oder erleben. Mancherorts legen Romnja und Roma Blumen oder Blütenblätter in Flüsse, Seen und Meere und lassen sie schwimmen. Symbolisch bringen sie damit am „Romano Dives“ – am Welt-Roma-Tag – die Verbundenheit und Solidarität mit Roma in allen Teilen der Welt zum Ausdruck.
Eine internationale Bewegung gegen Ausgrenzung und Benachteiligung
Schon dadurch wird klar: Der 8. April ist ein wichtiger Tag für viele Roma und Sinti, die in ihren Heimatstaaten jeweils nationale Minderheiten sind. Und er ist ein guter Tag der Erinnerung, im Gegensatz zum 2. August, dem Internationalen Gedenktag der Sinti und Roma an den Völkermord an ihnen in Auschwitz-Birkenau und anderswo. Denn am 8. April fand im Jahr 1971 der erste Internationale Roma-Kongress in Orpington bei London statt. Organisiert vom damals so genannten „Comité International Tsigane“ thematisierten Delegierte aus verschiedenen europäischen Ländern die benachteiligenden Bedingungen, unter denen die meisten Sinti und Roma im Nachkriegseuropa lebten. Adem Ademi vom Netzwerk Pro Sinti& Roma ist es wichtig, klar zu machen, dass der Romatag nicht nur dem Feiern dient: „Er steht in Zusammenhang mit einer internationalen Bewegung, einer politische Bewegung!“
Netzwerk Pro Sinti & Roma
Das Netzwerk Pro Sinti & Roma ist ein Austausch- und Hilfsnetzwerk, in dem unter der Leitung und Koordination von Kemal Ahmed (k.ahmed@ksew.de) mittlerweile Haupt- und Ehrenamtliche von Lörrach über Mannheim bis Nürtingen zusammenarbeiten. Kemal Ahmed: „Die Anlaufstellen bieten Beratung an. Neben der Koordination bin ich außer für Waldkirch auch für Breisgau und den Hochschwarzwald tätig, Adem Ademi für Lörrach/Rheinfelden, Slavica Husseini im Raum Mannheim/Karlsruhe sowie Michaela Saliari und Manuel Werner für Nürtingen und Umgebung. Wir sind interessiert daran, weitere Ansprechpartner und Anlaufstellen zu gewinnen.“ Das Netzwerk möchte auch gerne Synergieeffekte mit ähnlichen Initiativen, Verbänden und Organisationen zum Vorteil der Zielgruppe nutzen.
Größte ethnische Minderheit in Europa und EU
Ein wichtiges Anliegen des damaligen internationalen Roma-Kongresses war es, Fremdbezeichnungen wie „Zigeuner“, „Cigáni“, „Tsiganes“ oder „Gypsies“ als generelle Bezeichnung entschieden abzulehnen. Doch welcher Begriff sollte diese als diskriminierend empfundenen Fremdbezeichnungen ersetzen? Der Kongress entschied sich für die Selbstbezeichnung „Roma“. Darauf aufbauend wird das Wort „Roma“ seitdem von vielen als der Oberbegriff für Bevölkerungsgruppen gewählt, deren Sprache „Romanes“ beziehungsweise „Romani“ Bezüge einer lange zurückliegenden sprachlichen Herkunft aus dem indischen Subkontinent birgt, denn es gibt einige sprachliche Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten zwischen dem Sanskrit und der Roma-Sprache. Spätestens ab dem 14. Jahrhundert lebten Roma in Südosteuropa, die aus Kleinasien kamen. Das ist schon mehr als sechs Jahrhunderte her, Amerika war noch nicht von Christoph Kolumbus betreten. Wegen einer angenommenen „indischen Herkunft“ gibt es keinen Anlass, ein „Fremdsein“ aufzubauen, und dadurch zu verdecken, dass Roma seit vielen Jahrhunderten Mitbürger und ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Zivilisation und Kultur sind. Manuel Werner vom Netzwerk Pro Sinti & Roma veranschaulicht: „Daher ist es völlig verfehlt, wenn die dortige Dominanzbevölkerung beispielsweise eine von Roma mangels angemessener Perspektiven bewohnte Elendssiedlung bei Novi Sad in Serbien Bangladesch nennt, in dortiger Schreibweise „Bangladeš“!
Vielfalt – keine homogene Gruppe
Auch wenn sich der Begriff „Roma“ international gesehen bei vielen als stimmiger Oberbegriff etabliert hat, so gilt dies zwangsläufig nicht für alle. Zum Beispiel legen etliche Sinti Wert darauf, von anderen Roma-Gruppen oder von „Roma“ unterschieden zu werden. Im deutschsprachigen Raum ist daher „Sinti und Roma“ oder „Roma und Sinti“ ein übliches Begriffspaar, das ebenfalls dem Willen entspringt, diskriminierende Fremdbezeichnungen durch Eigenbezeichnungen zu ersetzen. Wie bei vergleichbaren Minderheiten ist es auch hier verfehlt, von einer homogenen Gruppe auszugehen. Auch deswegen ist es geradezu normal, dass es hierzu bei den nationalen Minderheiten – und innerhalb von ihnen – verschiedene Ansichten und Praktiken gibt.
Roma haben eine Flagge und eine Hymne
Als Ziel steckte der Roma-Kongress sich nichts weniger als die Emanzipation der Roma auf der lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Ebene. Er entschied sich für eine eigene Flagge. Das Blau in ihrer oberen Hälfte steht für den Himmel. Das Grün in deren unteren Hälfte repräsentiert die Erde mit ihren grünen Pflanzen. In der Mitte prangt ein rotes Chakra, das Rad, das auch in der indischen Flagge zu finden ist, dort allerdings in Blau. Als Hymne wählte der Roma-Kongress das Lied „Djelem, Djelem“. Die Melodie war schon vorhanden. Der Liedtext für die Hymne stammt von Žarko Jovanović. Manuel Werner: „Dieser Text erinnert auch an den Völkermord an hunderttausenden Roma und Sinti durch die – wie es dort wörtlich ins Deutsche übersetzt heißt – ‚Schwarze Legion‘, sei es durch die kroatische Terror-Miliz Ustascha, durch die SS oder die Wehrmacht. Denn das NS-Regime wütete in Europa außer in Deutschland in vielen weiteren Ländern wie zum Beispiel in Serbien. Aus damals und auch später sogenannten rassischen Gründen ermordeten die Nationalsozialisten Sinti und Roma genauso wie Juden, vom Baby bis zum Greis.“ Die letzte Strophe der Hymne endet – auf Romanes – mit: „Jetzt ist die Zeit, steht auf Roma, jetzt / Wir steigen hoch, wenn wir handeln.“
Gesellschaftliche und politische Selbstbefreiung
Die ersten Versuche der Roma-Emanzipation begannen in den osteuropäischen Ländern, zum Beispiel in Bulgarien bereits 1949. Der Roma-Kongress von 1971 war ein internationaler Meilenstein und löste weiteres bürgerrechtliches Engagement aus. Unter dem Motto „Opre Roma!“ – auf Deutsch: „Erhebt Euch, Roma!“ – begann ein Ringen um soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, wobei dies genauso wie das Abbauen des Antiziganismus auch Aufgabe der Dominanzbevölkerung ist. Es kam zur Gründung weiterer politisch aktiver Roma-Organisationen innerhalb und außerhalb Europas. Am 2. Roma-Weltkongress in Genf 1978 nahmen bereits fünfzig Roma-Organisationen aus ganz Europa, den Vereinigten Staaten, Indien und Pakistan teil. Die internationale Anerkennung der Roma-Bewegung gewann durch die Unterstützung Indiens neue Impulse. Der 3. Roma-Weltkongress fand 1981 in Göttingen statt. In Deutschland war die Anerkennung des NS-Völkermords als staatlich organisierter Gewaltakt an den Sinti und Roma wie auch die Anerkennung als nationale Minderheit ein langwieriger Prozess. Der NS-Völkermord an Sinti und Roma wurde erst 1982 unter Kanzler Helmut Schmidt als solcher anerkannt. Seit 1989 sind Roma in mehreren osteuropäischen Ländern zunehmend in kommunalen und nationalen politischen Gremien vertreten. Der 4. Welt-Roma-Kongress, der 1990 in Serock, Polen, stattfand, führte den internationalen Aktionstag der Roma ein. Inwiefern sind die Ziele dieser Kongresse und Aktionen aktuell erreicht? Zahlreiche Empfehlungen des Europarats und der Europäischen Union sind bislang nicht in wichtige Maßnahmen umgesetzt worden! Adem Ademi führt hierzu aus: „Gerne feiern Roma das im Jahr 1971 Erreichte und das bisherige Engagement. Gab es jedoch innerhalb des nun halben Jahrhunderts seitdem irgendeinen Fortschritt, den man feiern könnte? Ein reflektierender Blick zurück zeigt, dass sich am Ende des letzten Jahrhunderts das politische Engagement in ein kulturelles Engagement entwickelte. Eine zivilgesellschaftliche Bewegung und eine Zusammenarbeit mit Behörden erfolgte sehr spät und nicht überall, nur sporadisch in einigen wenigen Ländern. In allen möglichen Bereichen herrschen immer noch tradierte Vorurteile, negative Stereotype und Diskriminierung vor. Statt Integration der Roma in die Gesellschaft haben wir Integration von Rassismus in Behörden, Antiziganismus – eine virulente Form des Rassismus gegen Roma – und starke Ressentiments.
Von 2008 bis 2020 haben sich politische Verpflichtungen mit unterschiedlichen Strategien und
Aktionspläne entwickelt, die einigen Roma Hoffnung gab, während Rechtsextremisten die Hassrate gegenüber der am stärksten marginalisierten Gruppe in Europa erhöhten.
Leider blieben alle Strategien deklarativ, da keine signifikanten Veränderungen im Leben der durchschnittlichen Roma festzustellen sind. Auffällig ist die zunehmende Zahl gebildeter Roma und eine stärker organisierte Bewegung der Zivilgesellschaft. Politische Partizipation kann als dekorativ oder fast gar nicht vorhanden bezeichnet werden, weil keine oder kaum politische Veränderungen zu sehen sind, die von Roma initiiert wurden, sondern eher Diskussionen und Debatten. Fünfzig Jahre nach dem ersten Roma-Kongress wird die Hoffnung auf Anerkennung und Akzeptanz stärker. Die Roma-Sprache wird wegen der Assimilation weniger gesprochen, die Roma-Kultur verschwindet oder passt sich dem Zeitgeist an.“
Stellungnahme und Einsatz auch für geflüchtete Roma
Kemal Ahmed, der Leiter und Koordinator des Netzwerks Pro Sinti& Roma gibt zu bedenken: „Für unsere Organisation, das Netzwerk Pro Sinti & Roma, ist es wichtig, dass wir auch für die geflüchteten Roma Stellung beziehen. Auf die wegweisende erste Anhörung sind viele geflüchtete Roma nicht vorbereitet und erhalten dafür keinerlei Unterstützung. Am laufenden Band werden sie anschließend mit vorgefertigten Textbausteinen in den Schreiben abgelehnt, auf Fluchthintergründe wird dort in der Regel nicht eingegangen.“ Michaela Saliari vom Netzwerk Pro Sinti& Roma veranschaulicht: „Ein Beispiel für eine unmenschliche Abschiebepolitik unseres Landes Baden-Württemberg ist der Tod des Rom Sali Krasniqi fünf Monate nach seiner Abschiebung aus Deutschland in den Kosovo. Ich war kürzlich in Biberach auf der für ihn abgehaltenen Trauerfeier. Dieser Tod hat auf tragische Weise verdeutlicht, wie dringend die Forderung nach einem Abschiebungsstopp in der Pandemie und nach wirksamen Bleiberechtsregelungen ist, gerade für Personen, die seit vielen Jahren oder gar Jahrzehnten hier leben. Sali Krasniqi floh mit seiner Frau Mire vor über 28 Jahren nach Deutschland vor dem Krieg in Jugoslawien. Sie suchten nach einem friedlichen Leben, ohne Angst für ihre damals fünf Kinder. Nach über 28 Jahren Leben in Deutschland wurde er aus Oberschwaben mit seiner Frau ‚zurück‘ in ein ihnen fremd gewordenes Land abgeschoben. Und das in der gegenwärtigen Pandemie und trotz lebensgefährdender Erkrankungen!“ In Deutschland hatten sie sich während der Pandemie in eine warme und trockene Wohnung zurückziehen können, im Kosovo waren die Wohnbedingungen nicht so. Sali Krasniqi lag im Kosivo mit Corona-Infizierten im selben Krankenhaus-Zimmer. Dort gab es nicht einmal Schutzmasken. Er starb. Solidarische Aktionen von lokalen wie überregionalen Unterstützenden haben bewirkt, dass seine Frau Mire G. wieder einreisen darf, nachdem eine Petition gestartet wurde, die bis heute über 40.000 Menschen unterstützen. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie wirksam eine breite Öffentlichkeitsarbeit sein kann. „Wir steigen hoch, wenn wir handeln!“ So unterstützt das Netzwerk Pro Sinti & Roma, die geflüchtet sind, zum Beispiel mit Dolmetschen wie dies Slavica Husseini vom Netzwerk Pro Sinti & Roma auch jetzt über Videoschaltungen macht: „Gerade wenn ich wie jetzt wegen des Lockdowns nicht in die Unterkünfte der Geflüchteten gehen kann, ist dies eine gute verbleibende Hilfestellung, die ich von zu Hause ausüben kann!“, so Slavica Husseini.
Leben im Verborgenen, aber auch Selbstbewusstsein
Doch das Netzwerk Pro Sinti & Roma ist genauso für diejenigen Roma und Sinti da, die schon seit Jahrhunderten hier leben oder seit den 60er und 70er Jahren, als hierzulande händeringend Arbeitskräfte gesucht wurden – falls diese Beratungsbedarf haben. Adem Ademi schätzt: „Neunzig Prozent der Roma in Deutschland wollen nicht sagen, dass sie Roma sind, auch wenn sie zum Beispiel Ingenieure sind!“ Slavica Husseini bestätigt dies: „Mein Vater wirkte während meiner Kindheit stark auf mich ein, dass ich ja nie sage, dass ich Romni bin und ja nirgends in der Öffentlichkeit Romanes rede. Er hatte begründete Angst davor, dass ich deswegen benachteiligt werde. So etwas kann das ganze Leben lang prägen. Doch heutzutage oute ich mich als Romni und wem das nicht passt, dass ich Romni bin, so stehe ich voller Stolz drüber . Und ich setze mich aktiv für gleichberechtigte Teilhabe ein – auch für geflüchtete Romnja und Roma.“
Weithin ausgegrenzt auch in europäischen Staaten
Kemal Ahmed: „Das Netzwerk Pro Sinti & Roma weist auch auf die Lage von Roma in anderen europäischen Staaten hin, die teils ohne Wasser und Strom leben müssen und weithin diskriminiert und ausgegrenzt, ja teils auch verfolgt werden.“
Der Internationale Tag der Roma bietet Chancen, einen Zugewinn an Freiheit und Gleichheit bewusst zu machen und weiter daran zu arbeiten. „Es war ein schönes Gefühl, auch mal unter ganz vielen Roma zu sein und das nicht verstecken zu müssen“, sagte eine Romni auf einem Roma-Tag in Düsseldorf vor Jahren – als die Pandemie hierbei noch keine Einschränkungen nötig machte. Somit ist noch viel zu tun.
Rückfragen zum Netzwerk Pro Sinti & Roma:
Kemal Ahmed, Kirchplatz 9, 79183 Waldkirch (Zentrale Koordination Waldkirch), k.ahmed@ksew.de