Nachtrag: Wenige Tage nachdem die untenstehende Meldung veröffentlicht und von zahlreichen Medien aufgegriffen wurde, hat das Justizministerium klargestellt, dass die Familie O. nun doch den vorübergehenden Schutz erhalten kann. Die lokalen Behörden wurden angewiesen, Fiktionsbescheinigungen mit Beschäftigungserlaubnis auszustellen und Sozialleistungen zu bewilligen.
Darüber, dass eine großzügige und möglichst unkomplizierte Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine in der aktuellen Situation geboten ist, gibt es einen breiten Konsens aller relevanten gesellschaftlichen und politischen Akteur*innen. Die Landesflüchtlingsräte und Pro Asyl haben kürzlich kritisiert, dass die Solidarität und Hilfsbereitschaft nicht allen Geflüchteten aus der Ukraine zugute kommt, und dabei vor allem auf den Umgang mit Personen ohne ukrainische Staatsangehörigkeit hingewiesen. Doch auch für Ukrainer*innen läuft keinesfalls immer alles glatt, wie ein aktueller und besonders absurder Fall verdeutlicht, der von ehrenamtlichen Unterstützer*innen an den Flüchtlingsrat herangetragen wurde.
Sie berichten, dass die Ausländerbehörde des Landkreises Karlsruhe einer ukrainischen Familie das humanitäre Aufenthaltsrecht nach § 24 AufenthG und auch jegliche Sozialleistungen verweigert, weil diese zum Zeitpunkt der Invasion ihres Heimatlandes durch die russischen Streitkräfte zufällig im Urlaub in Ägypten war. Die über Polen eingereiste Großmutter der Familie erhielt problemlos den vorübergehenden Schutz nach § 24 AufenthG. Der Rest der Familie wird aufgefordert, Asylanträge zu stellen – obwohl die politisch Verantwortlichen von Bund und Ländern beteuern, dass Menschen aus der Ukraine keine Asylanträge in Deutschland stellen müssen. Im Gegensatz dazu hat eine andere ukrainische Familie, die im gleichen Hotel in Ägypten Urlaub gemacht hat, zum gleichen Zeitpunkt nach Deutschland eingereist ist und in Mannheim bei Unterstützer*innen aufgenommen wurde, von den dortigen Behörden Fiktionsbescheinigungen erhalten und wurde in den Leistungsbezug aufgenommen.
Seán McGinley, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg sagt zu diesem Fall: „Es ist offensichtlich absurd, dieser Familie den vorübergehenden Schutz vorzuenthalten mit der Begründung, sie seien über den „Drittstaat“ Ägypten eingereist. Erwarten die hiesigen Behörden ernsthaft, dass diese Familie dorthin zurückkehrt, nur weil sie zufällig gerade im Urlaub war, als der Krieg ausbrach? Ganz offensichtlich ist diese Familie in eine Regelungslücke gefallen, die schleunigst von den politisch Verantwortlichen zu schließen ist. Noch absurder wird die Situation, wenn man sich vor Augen führt, dass die Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums zu § 24 AufenthG explizit einen Anspruch auf Schutz in Deutschland vorsehen, wenn die betroffenen Ukrainer*innen zum Zeitpunkt der Invasion der Ukraine in einem anderen Staat der Europäischen Union im Urlaub waren oder wenn ein einzelne Familienmitglieder vorübergehend außer Landes war. Wo ist der grundsätzliche Unterschied bei einer Familie, die zusammen in einem Nicht-EU-Staat im Urlaub war? Kann es sein, dass die Wahl des Urlaubslandes darüber entscheidet, ob man Schutz erhält, wenn im Heimatland ein Krieg ausbricht? Die politisch Verantwortlichen auf Landes- und Bundesebene müssen schnellstmöglich klarstellen, dass der vorübergehende Schutz für alle gilt, die zum Zeitpunkt der russischen Invasion ihren Wohnsitz in der Ukraine hatten – auch wenn sie aus welchem Grund auch immer vorübergehend außer Landes waren. Die Verweigerung jeglicher Sozialleistungen ist im Übrigen eindeutig rechtswidrig und verstößt unter anderem gegen die Vorgaben des Justizministeriums, aus denen hervorgeht, dass selbst bei Personen, bei denen unklar ist, ob sie einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG haben, ein Schutzgesuch in jedem Fall einen Leistungsanspruch auslöst. Auch hier fordern wir die zuständigen Behörden auf, sofort Abhilfe zu schaffen und der Familie die ihnen zustehenden Leistungen rückwirkend zum Tag der ersten Vorsprache auszuzahlen.“
Im Folgenden dokumentieren wir den offenen Brief der Unterstützer*innen an verschiedene Entscheidungsträger*innen.
Offener Brief der Unterstützer*innen der Familie O. an Bundesinnenministerin Faeser, Ministerpräsident Kretschmann und Justizministerin Gentges
Wir sind tief besorgt und beschämt über die Art und Weise, wie von den Behörden hier in Karlsruhe mit einer ukrainischen Flüchtlingsfamilie umgegangen wird, die aus der ständigen Bombenangriffen ausgesetzten Stadt Charkiw in der Ostukraine stammt. Wir bitten dringend um Ihre Hilfe, damit das Leid dieser Familie, die ihre Heimat verloren hat und ständig Nachrichten neuer Zerstörungen erhält, nicht weiterhin unnötigerweise durch Unsicherheit und Angst vor Abschiebung noch weiter vergrößert wird. Der Familie wird die Fiktionsbescheinigung verweigert, sie wird zur Ausreise gedrängt und gleichzeitig von einer anderen Behörde aufgefordert, einen Asylantrag zu stellen. Das alles steht im krassen Widerspruch z B zu der Kommunikation des BAMF über den Umgang mit Flüchtlingen aus der Ukraine.
Der Situation stellt sich im Einzelnen wie folgt dar: Die Familie O. (Vater, Mutter, Sohn) war im Februar 2022 im Urlaub in Ägypten, als der Krieg in ihrer Heimat ausbrach. Sie konnte nicht in ihre Heimatstadt Charkiw zurück, es gab ja auch keine Rückflüge mehr. Wir, die Familie R., lernten sie in Ägypten in unserem Urlaub kennen. Wir organisierten in unserer Heimat Bad Schönborn eine private Spendensammlung, von der wir den verlängerten Aufenthalt der Familie im Hotel und die Flugtickets nach Frankfurt bezahlten. Am 04.03. landeten wir gemeinsam in Frankfurt und verbrachten das Wochenende in unserer privaten Wohnung. Wir kümmerten uns um die vielen Angelegenheiten, die jetzt zu regeln waren. Wir, die Familie V., boten ihnen ab dem 07.03. unsere Gästezimmer als vorübergehende Unterkunft an. Am 08.03. war die Mutter von Frau O. nach ihrer langen Flucht über Warschau in Mannheim angekommen, sodass die O.s nun zu viert bei uns wohnten. Wir, die Familie M., richteten in unserem Haus in Wochenend- und Nachtarbeit eine Wohnung her, in die die Familie O. am 01.04. einziehen konnte. Seit dieser Zeit sind wir Nachbarn und kümmern uns um die Familie. Alle Anträge sind gestellt, die Registrierung ist erfolgt, der Sohn geht in die Schule und in den Sportverein und die Erwachsenen haben Arbeit in Aussicht. Parallel dazu arbeitet Herr O. ehrenamtlich im Rathaus der Gemeinde Bad Schönborn, um die Hauptamtlichen dabei zu unterstützen, den vielen ukrainischen Flüchtlingen das Ankommen zu erleichtern. „Wir können und werden Ihnen helfen!“, haben Sie, Frau Faeser, allen Flüchtlingen versprochen, und in Bad Schönborn sind wir bemüht, Ihr Versprechen in die Tat umzusetzen. Das ist wie überall in Deutschland ganz selbstverständlich und das ist auch gut so.
Was hoffentlich nicht selbstverständlich ist, ist die aktuelle Situation der O.s: Derzeit bekommt die Familie keine Leistungen nach dem AsylbLG, die Fiktionsbescheinigung wird nicht ausgestellt ohne dass dies schriftlich begründet wird oder ein offizieller Bescheid erstellt wird und der Familie wurde bedeutet, dass sie wieder ausreisen müsse, da sie über das „sichere Drittland Ägypten“ eingereist sei. Bei der Registrierung der Familie im Landratsamt in Karlsruhe am 29.03. wurde von einer netten Kollegin gesagt: „Es ist alles in Ordnung!“ Leider ist nichts in Ordnung: O.s bekommen kein Geld, es gibt noch keinen gültigen Mietvertrag mit der Gemeinde (was das geringste Problem ist) – und zu allem Überfluss erreicht die Familie am 20.05. ein offizielles Schreiben des Landratsamtes mit der Aufforderung, einen Asylantrag zu stellen, im krassen Widerspruch zur Darstellung auf der Website des BAMF.
Können Sie verstehen, dass die Familie tief verunsichert ist? Sie erlebt die Verwaltung in Deutschland oft von ihrer bürokratischen und abweisenden Seite. Und wir ehrenamtlichen Unterstützer sind enttäuscht über die Unfähigkeit der Verwaltung, die Angelegenheiten der Flüchtlinge schnell und vernünftig zu regeln. Warum kann in Behörden nicht gelten, was für uns selbstverständlich ist: „Wir können und werden Ihnen helfen!“? Warum gibt es bis heute keine Fiktionsbescheinigung, obwohl Sie, liebe Frau Faeser, in Ihrem Video versprochen haben: „Nach Registrierung können Sie sofort in Deutschland arbeiten.“? Warum wird im Landratsamt Karlsruhe auf ein „sicheres Drittland Ägypten“ verwiesen, wenn im Landratsamt Mannheim ein Ehepaar, das ebenfalls durch die Vermittlung von uns, der Familie R., aus Ägypten (gleiches Hotel) zunächst in Bad Schönborn und dann in Mannheim untergekommen ist, eine Fiktionsbescheinigung erhält? Warum gelingt es in Polen, 3,4 Mio. Ukrainer aufzunehmen und wir in Deutschland scheinen mit 650.000 Menschen schon überfordert?
Wir schämen uns für unser Land und für all das, was die Familie O. hier von Behörden erlebt. Wir sind fassungslos über die bürokratischen Hürden in vielen Behörden. Wir sind verärgert darüber, wie schwer es ist, Verantwortliche ans Telefon zu bekommen, Antworten auf E-Mails zu erhalten, um dann auf andere Behörden verwiesen zu werden, die dann ebenfalls nicht erreichbar sind.
Wir erwarten von den Behörden und Verwaltungen, dass sie Kompetenz, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit an den Tag legen. Es liegt durchaus nahe, anzunehmen, dass all diese Fehlleistungen nicht den einzelnen ausführenden Beamten im Landratsamt, Ausländeramt , Integrationsstelle etc. anzulasten sind. Wir vermuten eher, dass diese Kollegen, die sicher auch helfen wollen, wo immer es geht, es mit irreführenden oder widersprüchlichen Vorgaben übergeordneter Stellen zu tun haben. Daher bitten wir Sie, hier dringend tätig zu werden.
Unsere Befürchtung ist, dass das Ergehen der Familie O. in Bad Schönborn kein Einzelfall ist. Die Familie hat alles richtig gemacht: Sie hat sich um Arbeit bemüht, hat eine Wohnung und hat Arbeit in Aussicht. Wir haben mit vielen anderen dazu beigetragen, dass das möglich ist. Warum gibt es für diese Familie kein Geld, keine Fiktionsbescheinigung, keine Sprachkurse, sondern stattdessen die behördliche Aussage zum „sicheren Drittstaat Ägypten“ (die als Drohung der Abschiebung empfunden wird) und die amtliche Aufforderung, beim BAMF einen Asylantrag zu stellen?
Eine Familie, deren Heimatstadt zerbombt ist, die sich Sorgen um das Leben der Freunde und Verwandten in der Ukraine macht, ist zu uns nach Deutschland gekommen. Viele Menschen haben viel investiert, damit sie hier zunächst bleiben können. Und heute bekommen sie weder staatliche finanzielle Unterstützung noch können sie die Arbeit aufnehmen, die sie sich gesucht haben und es wird ihnen sogar gesagt, dass sie Deutschland Ende Mai wieder verlassen müssen.
Verstehen Sie unsere Empörung? Wir bitten Sie alle – im Bund, in Baden-Württemberg und im Landratsamt Karlsruhe, dafür zu sorgen, dass die Familie O. ihre Fiktionsbescheinigung bekommt und dass das ihnen zugesagte Geld zügig überwiesen wird. Und wir bitten Sie, dafür zu sorgen, dass dieser Fall ein Einzelfall bleibt und dass wir unser Versprechen tatsächlich einhalten, das wir den ukrainischen Geflüchteten gegeben haben.
Herzliche Grüße
Familie R. Familie V. Familie M.