Fehlen verbindlicher Standards macht sich bemerkbar

Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg hat zwischen Oktober 2017 und Februar 2018 Geflüchtetenunterkünfte (vor allem Gemeinschaftsunterkünfte) im ganzen Land besucht, um sich ein Bild von der aktuellen Unterbringungssituation zu machen. Es wurden insgesamt 26 Unterkünfte in 13 Stadt- und Landkreisen besucht. Dabei wurde darauf geachtet, alle Regionen des Landes sowie Großstädte, Kleinstädte und kleine Gemeinden zu berücksichtigen. Auch wenn diese Untersuchung nicht den Anspruch erheben kann, repräsentativ zu sein, gehen aus Sicht des Flüchtlingsrats einige wichtige Erkenntnisse daraus hervor.

„Zum einen macht sich das Fehlen verbindlicher Mindeststandards in der Anschlussunterbringung bemerkbar. So sind die Geflüchteten ohne jegliche rechtliche Handhabe Verhältnissen ausgeliefert, in denen Sie in einigen Fällen nur wenige Quadratmeter zur Verfügung haben und sanitäre Anlagen mit viel zu vielen Personen teilen müssen. Es gibt keine Untergrenze dafür, was Gemeinden Menschen zumuten können“, erklärt Seán McGinley, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats. Deshalb ist der Flüchtlingsrat der Meinung, dass in der Anschlussunterbringung mindestens die gleichen Standards gelten sollten, wie sie im FlüAG für die vorläufige Unterbringung vorgesehen sind.

Allerdings zeigt der Bericht aus Sicht des Flüchtlingsrats, dass auch die gesetzlichen Standards in der vorläufigen Unterbringung in vielen Fällen wirkungslos sind, weil sie zu unkonkret sind, oder weil sie in der Praxis schlicht ignoriert werden. Der Bericht beinhaltet zahlreiche Beispiele für Unterkünfte an abgelegenen Standorten, in Industriegebieten, außerhalb von geschlossenen Ortschaften oder gar mitten in Wald – teilweise ohne regelmäßigen Anschluss an das ÖPNV. Es finden sich auch Beispiele für die scheinbar verbreitete Praxis, psychisch kranke Menschen in sogenannte „Problemunterkünfte“ unterzubringen, in denen gezielt Menschen mit komplexen Problemen oder auf irgendeine Weise auffällig Gewordene untergebracht werden. Dort herrschen besonders schlechte Standards und ein hohes Maß an Kontrolle durch Sicherheitsdienste. Dies ist nach Meinung der Flüchtlingsrats ein eklatanter Verstoß gegen die Bestimmungen der EU-Aufnahmerichtlinie und gegen das FlüAG, die beide eine angemessene Berücksichtigung der besonderen Belange der besonders Schutzbedürftigen – zu denen auch psychisch Kranke gehören – vorschreiben.

Ebenfalls zu den besonders Schutzbedürftigen gehören alleinreisende Frauen und LSBTTIQ*-Menschen. „Umso schockierter waren wir, als wir Fälle entdeckt haben, in denen alleinstehende Frauen in Unterkünften gelebt haben, in denen sonst nur Männer untergebracht waren. In diesem Zusammenhang muss noch erwähnt werden, dass die Umsetzung von Gewaltschutzkonzepten die absolute Ausnahme zu sein scheint – obwohl gleich mehrere entsprechende Konzepte und Initiativen vorliegen“, berichtet Volker Kahrau, der für den Flüchtlingsrat die „Lagertour“ ehrenamtlich durchführte.

„Zweieinhalb Jahre nach dem zwischenzeitlichen Höchststand der Zuzugszahlen gibt es aus Sicht des Flüchtlingsrats keinerlei Rechtfertigung für die Fortexistenz von Provisorien wie Sporthallen, für völlig überfüllte Unterkünfte mit teilweise weniger als fünf Quadratmeter Platz pro Person oder mit keinerlei Privatsphäre oder Schutz für vulnerable Menschen“, meint Seán McGinley.

Lucia Braß, 1. Vorsitzende des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg, ergänzt: „Auch wenn vielerorts guter Wille herrscht, viele Kreise und Gemeinden sich um eine menschenwürdige Unterbringung bemühen und es auch positive Beispiele gibt, läuft offensichtlich auch in vielen Fällen einigesschief, wenn die Behörden vor Ort vollkommen freie Hand bezüglich der Standards in den Unterbringungen haben.“

Angesichts der bereits angelaufenen Diskussion um eine Neuordnung der Unterbringung in Baden-Württemberg ist es aus Sicht des Flüchtlingsrats dringend geboten, dass verbindliche Standards festgelegt, und auch eingehalten werden. Zudem bräuchten die Geflüchteten eine unabhängige Beschwerdestelle, die allgemein bekannt und niederschwellig erreichbar ist. Der Flüchtlingsrat hofft, dass das Sozialministerium sich der in diesem Bericht verdeutlichten Missstände annimmt und sich für eine zügige Verbesserung – auch struktureller Art – einsetzen wird.

Der Bericht wurde bereits einige Wochen vor der Veröffentlichung an das Sozialministerium als zuständiges Ministerium verschickt, sowie an die Stadt- und Landkreise, die im Zuge des Projekts kontaktiert wurden.


Diskriminierungsopfer zum Umzug gezwungen

Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg beobachtet mit großer Sorge, wie Flüchtlinge aus Westbalkanstaaten immer wieder zum Ziel von Diskriminierung und Antiziganismus werden. Wie die Baden-Württembergische Beratungsstelle für Betroffene von rechter Gewalt „Leuchtlinie“ in den vergangenen Tagen berichtet, wurde eine fünfköpfige Flüchtlingsfamilie aus Serbien systematisch aus der Anschlussunterbringung in einem Wohnhaus in Langenargen am Bodensee vertrieben.

Die Stuttgarter Beratungsstelle stellte vor Ort fest, dass Nachbarn aus dem gleichen Haus bei jeglichem Anlass Streit vom Zaun gebrochen haben. Dabei wurden auch gezielt antiziganistische Beleidigungen ausgesprochen und selbst vor Drohungen nicht Halt gemacht. Die landesweite Fach- und Koordinationsstelle von „Leuchtlinie “ nahm den Fall in ihr Monitoring rechtsmotivierter Gewalttaten in Baden-Württemberg auf.

Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg beklagt einen deutlichen humanitären Klimawandel für Roma-Flüchtlinge seit der Einstufung der Westbalkanstaaten als so genannte „Sichere Herkunftsstaaten“. Nicht zuletzt tragen jene Politikerinnen und Politiker Mitverantwortung, die in „gute“ und „schlechte“ Flüchtlinge einteilen und Asylsuchende aus „Sicheren Herkunftsstaaten“ als „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder Ähnliches diffamieren.

„Jede und jeder Geflüchtete hat das Recht auf ein faires und unvoreingenommenes Asylverfahren“, betont Jürgen Weber, Sprecherratsmitglied des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg. In diesem Zusammenhang kritisiert der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg das Amt für Migration und Integration des Bodenseekreises. Dieses hatte mit Schreiben vom 18. Juli 2016 versucht, bei der Entscheidung über das Asylverfahren Einfluss auf das Verwaltungsgericht Sigmaringen zu nehmen. „Damit Spannungen und Probleme gelöst werden können“, zitiert Dr. Jochen Kramer von „Leuchtlinie“ aus dem Brief aus dem Landratsamt.

Seit Montag, 29. August 2016, wurden die Diskriminierungen gegen die Familie von der Gemeinde Langenargen durch Umsiedlung der Roma-Familie aus dem Wohnhaus in eine Notunterkunft für Obdachlose beendet. Unter den Gesichtspunkten der Integration stellt dieser Umzug jedoch ein deutlicher Rückschritt für die betroffene Familie dar, wie der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg findet.

„Dass die Verfolgung, Diskriminierung und Ausgrenzung von Roma in den Balkan-Staaten, die ihnen jegliche Zukunftsperspektive verbauen, hierzulande nicht als Asylgründe anerkannt werden, ist an sich schon ein Skandal. Absolut beschämend ist, dass Menschen, die vor antiziganistischer Diskriminierung fliehen, auch hierzulande diskriminiert und angefeindet werden. Dieser Staat und diese Gesellschaft haben einen blinden Fleck beim Thema Antiziganismus, und darunter leiden Menschen wie diese Familie in Langenargen. Alle staatlichen Stellen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene müssen Probleme dieser Art ernst nehmen“, so Seán McGinley, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg.