Pro Asyl: Am dritten Jahrestag der Machtergreifung der Taliban gilt mehr denn je: Afghanistan ist nicht sicher

PRO ASYL und die Landesflüchtlingsräte fordern am morgigen dritten Jahrestag der Machtübernahme in Afghanistan die Bundesregierung auf, ihr Schutzversprechen zu erfüllen und das Bundesaufnahmeprogramm endlich zu realisieren. Zudem fordern die Organisationen einen bundesweiten Abschiebestopp nach Afghanistan, ein Bleiberecht für geduldeten Afghan*innen und die Einstellung jeglicher Kooperationsgespräche mit dem Taliban-Regime zu Rücknahmeabkommen.

Seit der Machtübernahme der Taliban ist die Lage im Land katastrophal und für viele Menschen lebensbedrohlich. Die Taliban haben die Rechte von Frauen und Mädchen in Afghanistan massiv beschränkt. Angehörige der LGTBIQ* Die Communities werden öffentlich ausgepeitscht, im ganzen Land herrscht ein brutales Strafsystem. Taliban verschleppen, inhaftieren, vergewaltigen und bedrohen Menschen, die für die internationalen Kräfte gearbeitet haben. Durch die humanitäre Krise in Afghanistan sind zudem Millionen von Kindern von schwerer Unterernährung und lebensgefährlichen Krankheiten bedroht.

Hochproblematische Entscheidungspraxis im Asylverfahren

Obwohl die menschenrechtliche und humanitäre Katastrophe in Afghanistan dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bekannt ist, gibt es zunehmend mehr Ablehnungen von Asylanträgen afghanischer Geflüchteter. Das BAMF sieht zum Beispiel auch bei vorheriger Arbeit für die ehemalige afghanische Regierung nicht unbedingt eine Gefahr für die Betroffenen, selbst wenn Kolleg*innen verschleppt oder getötet wurden.

Zudem prüft das Bundesinnenministerium, nach Forderungen von Bund und Ländern, die Möglichkeit der Abschiebungen nach Afghanistan und führt konkrete Gespräche zum Beispiel mit Usbekistan, einem direkten Nachbarstaat, und auch mit den Taliban selbst.

“Abschiebungen nach Afghanistan bedeuten zwangsläufig eine Kooperation mit den Taliban, die Menschen‑, Frauen- und Kinderrechte mit Füßen treten, foltern, vergewaltigen und morden. Kriminellen Regimen wie den Taliban darf man nicht die Hand reichen, sie anerkennen oder mit ihnen zusammenarbeiten. Das widerspricht allen Grundprinzipien des Rechtsstaats und ist ein unumkehrbarer Tabubruch“, so Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher von PRO ASYL.

PRO ASYL und die Landesflüchtlingsräte fordern einen bundesweiten Abschiebestopp nach Afghanistan und ein Bleiberecht für geduldeten Afghan*innen.

Bundesaufnahmeprogramm vor dem Aus

Obwohl die Lage eindeutig ist und Deutschland Schutz für gefährdete Afghan*innen versprochen hat, steht das Bundesaufnahmeprogramm für gefährdete Afghan*innen nur drei Jahre nach dem chaotischen Abzug der internationalen Streitkräfte im Sommer 2021 vor dem Aus. Dies ist im aktuellen Haushaltsplan der Regierung erkennbar. Gerade jetzt wird dieser Schutz jedoch dringend benötigt, da die Taliban Kabul vor drei Jahren blitzartig zurückerobert haben und viele gefährdete Personen weiterhin in Gefahr sind.

Für PRO ASYL und die Landesflüchtlingsräte steht diese katastrophale Entwicklung des Bundesaufnahmeprogramms auch im Zusammenhang mit den flüchtlingsfeindlichen Debatten der letzten Monate.

“Es kann nicht sein, dass ein von rechts getriebener Diskurs dazu führt, dass die Bundesregierung Verbündete im Stich lässt. Dies ist nicht nur fatal für die bedrohten Menschen, sondern macht auch deutsche Außenpolitik vor der Welt unglaubwürdig”, so Dave Schmidtke vom Sächsischen Flüchtlingsrat e.V.

PRO ASYL, Flüchtlingsräte und viele weitere Organisationen fordern in einem gemeinsamen Statement den Erhalt und die tatsächliche Realisierung des Bundesaufnahmeprogramms Afghanistan und die Einhaltung der Schutzversprechen Deutschlands.


Pro Asyl, 14.08.24: Am dritten Jahrestag der Machtergreifung der Taliban gilt mehr denn je: Afghanistan ist nicht sicher


Im türkischen Rassismus vereint

Das Leben in ständiger Angst ist leider eine Realität für alle geflüchteten Menschen in der Türkei. Sie sind von willkürlichen Festnahmen durch die Polizei, Abschiebungen und Gewaltwellen bedroht. Sie verheimlichen ihre sichtbaren Identitätsmerkmale, die möglicherweise auf ihre Herkunft hinweisen könnten. Frauen binden ihr Kopftuch auf türkische Art, um als Türkinnen gelesen zu werden. Geflüchtete vermeiden, auf den Straßen Arabisch, Persisch, Dari oder Kurdisch miteinander zu kommunizieren, um rassistische Blicke und Angriffe zu vermeiden. Nach zwölf Stunden körperlicher Arbeit, die ohne Sozial- und Krankenversicherung ausgeübt und gleichzeitig sehr schlecht bezahlt wird, möchten sie einfach nur sicher nach Hause kommen.  

In der Istanbuler Bahn fragte ich einen jungen Syrer, wie es ihm mit den rassistischen und diskriminierenden Vorfällen im Alltag geht. „Ich tue so, als ob ich nichts verstehe, so als wäre ich tot. In der Türkei sind wir in unserem inneren Wesen tot. Wir sind nur bewegliche Gestalten, die arbeiten müssen, um dieser Gestalt Futter zu bieten“, antwortete er. Er war 17 Jahre alt. Die Antwort von einem anderen syrischen Jugendlichen prägt mich bis heute. Er sagte „Die nichtgeflüchteten Menschen genießen ihr Leben und dafür danken sie Gott. Wir, geflüchtete Menschen in der Türkei, danken Gott, dass wir überhaupt leben“. Zwischen diesen zwei Lebensrealitäten liegen Welten. Die Familie meines Onkels lebt seit zehn Jahren in Izmir. Als ich sie besuchte, schlug ich meinem Cousin vor, gemeinsam in die kurdischen Gebiete zu reisen. Er reagierte mit einem Lächeln und sagte „Mit deinem roten deutschen Pass kannst du die ganze Türkei bereisen, aber wir dürfen unsere Region nicht verlassen. Falls wir außerhalb der zugelassenen Bewegungszone erwischt werden, werden wir sofort abgeschoben.“ Er setzte fort: „Innerhalb von zwei Monaten hast du Sehenswürdigkeiten gesehen, die ich in einem ganzen Leben nicht gesehen habe. Und das alles wegen eines Stück Papiers.“ Ich schämte mich für meinen deutschen Pass, für den ich einen langen Kampf mit den deutschen Behörden ausgetragen hatte.

Bei den letzten Wahlen in der Türkei spielte die „Flüchtlingsfrage“ aufgrund ihrer emotionalisierten und populistischen Mobilisierungswirkung eine wesentliche Rolle bei allen Parteien. Populistisch-rassistische Rhetorik, rechtsextremistische Narrative bis hin zu Vernichtungsphantasien prägen den türkischen Diskurs über geflüchtete Menschen. Der Vorsitzende der rechtsextremistischen Zafer Partisi (dt.: Partei des Sieges) Ümit Özdağ propagierte, dass er, wenn er an die Macht käme, an der syrischen Grenze Minen legen würde, um syrische Geflüchtete an der Einreise in die Türkei zu hindern. Im türkischen Diskurs wird die Schuld für die wachsende Inflation in der Wirtschaft, die steigenden Mieten, die Erhöhung der Preise sowie Arbeitslosigkeitsquote geflüchteten Menschen in die Schuhe geschoben. Der ausgeübte Rassismus in der Türkei hat eine lange Geschichte, in der die in der Türkei lebenden Minderheiten immer in Lebensgefahr und andauendem Diskriminierungszustand leben mussten bzw. immer noch müssen. Die Polarisierung der türkischen Gesellschaft wird durch das gemeinsam geteilte rassistische Gedankengut verwischt. So wird zu Lasten geflüchteter Menschen eine vereinte Türkei mit Nationalstolz konstruiert.     

Bei den Kommunalwahlen in diesem Jahr erlebte die seit 2002 regierende AKP eine schwere Niederlage. Erdogan versprach dem türkischen Volk, dass er und seine Partei ihre Fehler korrigieren und ihre Unzulänglichkeiten beseitigen würden. Dazu gehört seine Geflüchtetenpolitik. Nach langjähriger Feindschaft sucht Erdogan seit Monaten über Putin Kontakt zum syrischen Regimepräsidenten Bashar al-Assad, um drei türkische Interessen zu realisieren: die kurdische Identität in Syrien zu vernichten, die Wirtschaftsroute über Syrien zur „Arabischen Welt“ wieder zu aktivieren und die in der Türkei lebenden syrischen Geflüchteten nach Syrien zu remigrieren. Bis diese Ziele der türkischen Regierung vollständig realisiert werden, verfolgen radikale Teile der türkischen Zivilbevölkerung eine militarisierte Vorgehensweise gegen Geflüchtete.         

So eskaliert in den letzten Wochen und Monaten in mehreren türkischen Städten eine andauernde Welle der Gewalt gegen geflüchtete Menschen. Ultranationalistische und islamistische Menschengruppen gehen organisiert auf die Straße und verbreiten Angst und Terror gegen Geflüchteten. Sie zerstören ihr ganzes Hab und Gut, greifen sie mit Messern an, stiften Brände und präsentieren sich als Schützer türkischer Nationalsicherheit und befriedigen mit ihrem Terror ihre Nationalgefühle, die sie als Akt der Liebe zur Heimat definieren. Diese mit Stolz ausgeübte Gewalt lässt geflüchtete Menschen weder auf die Straße gehen noch ihre Kinder zur Schule schicken.

Geflüchtete Menschen in der Türkei befinden sich in Lebensgefahr. Sie sind zum Objekt einer politischen Debatte geworden, von der alle türkisch-nationalistischen Kräfte profitieren. Die Stimmen für eine humane Geflüchtetenpolitik werden als „dumm“ und als westliche Verschwörungstheorie zur Enttürkisierung türkischer Gesellschaft verstanden und somit zurückgedrängt. Eine stark verbreitete feindliche Atmosphäre gegen Geflüchtete ist in den letzten vier Jahren deutlich zu spüren. Während solche gewalttätigen Pogrome stattfinden, präsentiert sich die CDU als Retter Deutschlands, weil sie den EU-Türkei-Deal zustande brachte. Welche negativen Konsequenzen für geflüchtete Menschen in der Türkei dadurch entstehen, wird verschwiegen. Der Türkei-Deal hat deutlich gezeigt, dass Demokratie, Menschenrechte und wir als deutsche Gesellschaft erpressbar sind. Geflüchtete Menschen und Minderheiten leiden in der Türkei ständig unter Angst und Gewaltterror des Wolfgruß-Symboles, während wir in unserem privilegierten Deutschland leben.

Wir dürfen nicht schweigen und wegschauen. Es geht um uns alle. Es geht um die Menschlichkeit. Es geht um die Solidarität. Es geht um freies menschenwürdiges Leben für alle Menschen unseres Planeten.


Monzer Haider, Mitglied des Vorstands vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg


Online Seminarreihe: Know Your Rights 2024

Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg führt dieses erneut Jahr gemeinsam mit der international tätigen Kanzlei DLA Piper eine Vortragsreihe für Migrant*innen in Deutschland durch. In insgesamt sechs Terminen werden Ihnen von hoch qualifizierten Fachanwält*innen von DLA Piper die wichtigsten Grundlagen des deutschen Rechts verständlich und praxisorientiert nähergebracht.
Sie möchten mehr über Ihre Rechte erfahren? Sie verfügen über fundierte Deutschkenntnisse (ca. B2) und über die technische Ausrüstung, von zu Hause aus an Online-Kursen teilzunehmen? Dann ist Know Your Rights genau das Richtige für Sie.

Das Programm ist kostenlos und die einzelnen Sitzungen werden zu den unten aufgeführten Terminen jeweils online über die Plattform Teams stattfinden.

Thema der SitzungDatum/Uhrzeit 
Wohn- und Mietrecht:
Wohnrecht in Deutschland, Wohnungsverträge und Rechte von Mieter*innen von öffentlichem und privatem Wohnraum. Tipps für Wohnungssuche.
02/10/2024
17:00 – 18:30
Arbeitsrecht:
Grundtypen von Arbeitsverträgen nach deutschem Recht, Grundlagen des Arbeitsrechts und von Arbeitnehmer*innenrechten in Deutschland.
09/10/2024
17:00 – 18:30
Das deutsche Justizsystem und der Zugang zum Rechtssystem:
Verschiedene Gerichte und Verwaltungsorgane innerhalb des deutschen Rechtssystems, der Prozess der Streitbeteiligung und der Zugang zu Prozesskostenhilfe für Neuankömmlinge.
16/10/2024
17:00 – 18:30
Vertragsrecht:
Grundlagen des deutschen Vertragsrechtes, Angebot, Annahme, allgemeine Geschäftsbedingungen, Abhilfe (Leistung, Beendigung des Vertrags, Schadensersatz wegen Nichterfüllung) und Standardverträge wie z. B. Verbraucherverträge.
23/10/2024
17:00 – 18:30
Versicherung in Deutschland:
Verschiedene Arten von Pflichtversicherungen und freiwilligen Versicherungen in Deutschland.
30/10/2024
17:00 – 18:30
Gesundheitssystem in Deutschland:
Das Recht auf Gesundheitsversorgung in Deutschland, insbesondere von Geflüchteten und Asylbewerber*innen, Patienten*innenrechte, das Recht auf Vertraulichkeit und das Versicherungssystem.
06/11/2024
17:00 – 18:30

Anmeldung:
Für die Anmeldung füllen Sie bitte das Anmeldeformular aus. Sie müssen nicht alle Seminare besuchen, sondern können sich auch nur für einzelne Veranstaltungen anmelden.
Mehr Informationen.

Sie erhalten dann rechtzeitig vor der Veranstaltung per E-mail den Link zu dem entsprechenden Meeting.
Mit Ihrer Anmeldung zum Online-Seminar erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihren Namen und die E-Mail-Adresse für die interne Projektdokumentation nutzen dürfen.

Die Veranstaltungsreihe findet im Rahmen des Projekts „Aktiv für Integration“ statt, gefördert durch das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg.


Aktualisierung Arbeitshilfe: Erlöschen, Widerruf und Rücknahme des Schutzstatus

Wenn im Asylverfahren ein Schutzstatus zuerkannt, gilt dieser Status ohne zeitliche Befristung. Die Entscheidung über den Status trifft in aller Regel das BAMF. An diese Entscheidung ist die für die Erteilung der darauf aufbauenden Aufenthaltserlaubnis zuständige Ausländerbehörde gebunden. Dementsprechend muss sie eine Aufenthaltserlaubnis, die auf einem vom BAMF festgestellten Schutzstatus beruht, immer weiter verlängern, solange der Schutzstatus besteht.
Erst wenn dieser entfallen ist, kommt die Versagung oder der Entzug des Aufenthaltstitels in Betracht. Nach dem Asylgesetz kann der Schutzstatus kraft Gesetz erlöschen oder in Folge eines Widerrufs oder einer Rücknahme wegfallen.  
Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg hat im Rahmen des Projekts „Aktiv für Flüchtlinge“, gefördert vom Land Baden-Württemberg, Ministerium der Justiz und für Migration, die Arbeitshilfe Erlöschen, Widerruf und Rücknahme des Schutzstatus entsprechend der aktuellen Rechtslage aktualisiert.


Flüchtlingsrat BW, Juli 2024: Erlöschen, Widerruf und Rücknahme des Schutzstatus.

Man kann sie auch kostenlos unter „Informationsmaterial“ im Shop in gedruckter Form bestellen.


Aktualisierte Handreichung: Kirchenasyl

Was ist Kirchenasyl? Welche Voraussetzungen muss man erfüllen? Wer organisiert die Unterbringung und was muss dabei beachtet werden? Die aktualisierte Broschüre des Flüchtlingsrat Niedersachsens antwortet auf diese Fragen und bietet praktische Hinweise zum Thema. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Situation in Niedersachsen. Viele der Informationen sind aber auch für Personen aus anderen Bundesländern relevant.



Neue Dienstanweisung vom BAMF definiert „unbegleitete“ Minderjährige anders

Minderjährige, die mit Personen einreisen, die eine Sorgerechtsvollmacht der Eltern haben, gelten laut der BAMF-Dienstanweisung vom Juni 2024 im Asylverfahren nicht mehr als unbegleitet. Die bevollmächtigte Person ist nun erziehungsberechtig und vertritt automatisch die Interessen der Minderjährigen im Asylverfahren. Zuvor musste erst eine Vormundschaft mit Fachkenntnissen gerichtlich eingesetzt werden, bevor das Asylverfahren durchgeführt werden konnte.

Da die betroffenen Minderjährigen nicht mehr als „unbegleitete minderjährige Asylerstantragsteller*innen“ gelten, genießen sie weniger Schutz. Schutzgarantien im Asylverfahren entfallen und es bleibt abzuwarten, wie die besondere Situation der jungen Menschen berücksichtigt wird. Deshalb kritisiert der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) diese Regelung als dramatische Aufweichung der Schutzkategorien und gibt in einer Kommentierung eine erste Einschätzung sowie Praxishinweise.


SG Nürnberg: Bezahlkarte muss individuell angepasst werden

Das Sozialgericht (SG) Nürnberg hat mit zwei Beschlüssen vom 30.7.2024 (Az. S 11 AY 15/24 ER und S 11 AY 18/24 ER) entschieden, dass Bezahlkarten nicht ohne vorherige Anhörung ausgehändigt werden dürfen, die Umstände jedes Individuums berücksichtigt werden müssen und keine pauschalen Begrenzungen des Bargelds (hier: 50 €) vorgenommen werden dürfen.

Die Sozialämter müssen jede Person anhören, bevor sie auf die Bezahlkarte umstellen. Dazu gehört auch eine Rechtsmittelbelehrung. Die Aushändigung der Bezahlkarte ist eine Ermessensentscheidung und das Ermessen muss bei jeder Entscheidung ausgeübt werden. Zudem müssen die Besonderheiten des Einzelfalls berücksichtigt werden. Bargeldbegrenzungen müssen im Ermessen und im Hinblick auf die Lebensumstände entschieden werden.

Das SG kritisierte die Bezahlkarte auch ganz allgemein: Die Restriktionen der Bezahlkarte im Hinblick auf begrenzte Bargeldmittel und wegfallenende Onlineeinkäufe sowie Überweisungen führen dazu, dass Bedarfe nicht mehr gedeckt werden können. Auch seien Informations- und Teilhaberechte massiv beschränkt.

Nun muss das Sozialamt die Leistungen wieder vollständig auf das Konto überweisen. Den Beschluss hat Rechtsanwalt Volker Gerloff mit Unterstützung der Gesellschaft für Freiheitsrechte erstritten.



Prävention von Menschenhandel und Ausbeutung

Das International Rescue Committee (IRC) bietet Trainingsvideos zur Prävention von Menschenhandel für Fachkräfte aus den Bereichen Unterkunftsvermittlung, Arbeitsvermittlung und Bildung, die im engen Kontakt mit Geflüchteten und Migrant*innen arbeiten. Hilfsangebote und Schutzmaßnahmen werden auf Deutsch, Englisch, Ukrainisch und Russisch bereitgestellt.

Das Projekt Safety Net will Flüchtende und Geflüchtete aus der Ukraine vor Missbrauch, Vernachlässigung und Ausbeutung schützen. Etwa 90% der Ankommenden sind Frauen und Kinder, die schnell Unterkunft und Einkommen finden müssen, oft ohne ausreichende Überprüfung der Angebote. Betroffene und Organisationen kennen die Risiken von Menschenhandel häufig nicht, was zu mangelndem Schutz führt. Angebote zur Prävention erreichen die Betroffenen oft nicht mehr. Deshalb ist es wichtig, dass Akteure wie Schulen, Arbeitsvermittlungsagenturen, Behörden und NGOs, die mit Geflüchteten in Kontakt stehen, informiert und geschult sind.

Das Angebot gilt für alle Menschen in Notsituationen. 


OVG Berlin-Brandenburg: Geschwisternachzug mit den Eltern zum subsidiär Schutzberechtigten

Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg hat am 10.06.2024 einen sehr erfreulichen Beschluss zum Geschwisternachzug gefasst (OVG 3 S 32/24):

Einem 13-jährigen Bruder eines minderjährigen, subsidiär schutzberechtigten Syrers ist ein Visum zu erteilen, damit er gemeinsam mit seinen Eltern einreisen kann und die familiäre Gemeinschaft mit seinen Eltern aufrecht gehalten wird. Dass der Lebensunterhalt nicht gesichert ist, spricht nicht gegen eine Visumerteilung. Da die Referenzperson in wenigen Tagen volljährig wird und dann der Nachzugsanspruch der Eltern endet, ist ein zeitlich gestaffelter Nachzug nicht zumutbar. Zudem sind die zeitlichen Dimensionen nicht absehbar. Die Eltern und der Bruder lebten im Irak.

  • Eine auch nur vorübergehende Trennung des Antragstellers von seinen Eltern kommt im Hinblick auf sein Alter – er ist erst dreizehn Jahre alt – und den Aufenthalt außerhalb des Herkunftslandes Syriens nicht in Betracht, weil dies mit dem Kindeswohl unvereinbar wäre. Dies gilt umso mehr, als sich die Dauer einer Trennung des Antragstellers von seinen Eltern – etwa bis zu einer den Nachzug uneingeschränkt rechtfertigenden Zuerkennung internationalen Schutzes für die Eltern durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder bis zu einer Erzielung eigener Einkünfte der Eltern durch Erwerbstätigkeit – nicht sicher prognostizieren lässt. Hinzu kommt, dass auch die Dauer eines (weiteren) Visumverfahrens unter Beteiligung des Beigeladenen ungewiss ist.
  • Im Übrigen spricht auch die Argumentation der Antragsgegnerin eher für die Annahme eines Ausnahmefalles. Sie geht offensichtlich selbst davon aus, dass „langfristig kein Verlust des Nachzugsrechts“ drohe und die familiäre Lebensgemeinschaft letztlich im Bundesgebiet hergestellt werde. Warum es unter diesen Umständen entgegen höherrangigem Recht zumutbar wäre, zunächst das von der Antragsgegnerin geforderte Verfahren zu durchlaufen und eine (in zeitlicher Hinsicht) ungewisse Trennung in Kauf zu nehmen, ist für den Senat nicht ersichtlich.
  • Außerdem ist es den Eltern nicht zuzumuten, dass nur ein Elternteil in das Bundesgebiet einreist, wenn der Nachzugsanspruch des im Ausland verbleibenden Elternteils wegen der eintretenden Volljährigkeit des subsidiär Schutzberechtigten in wenigen Tagen untergeht und ein Nachzugsanspruch der restlichen Kernfamilie in zeitlicher Hinsicht ungewiss ist.

(Leitsätze von asyl.net)

Es bleibt zu hoffen, dass die deutschen Auslandsvertretungen diese Entscheidung bei zukünftigen Anträgen auf Familiennachzug berücksichtigen.


OVG Nordrhein-Westfalen stellt subsidiären Schutz für Syrer*innen in Frage

Laut eines Urteils des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Nordrhein-Westfalen  vom 16.07.2024 (14 A 2847/19.A) besteht für Zivilpersonen in Syrien keine ernsthafte, individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Bürgerkrieg) mehr.

Dieser Wortlaut führt zu großer Verunsicherung unter Syrerinnen und Syrern in Deutschland. Bevor aber große Panik ausbricht, sollte folgende Punkte beachtet werden:  

  • Die Entscheidung betrifft nicht Syrer*innen allgemein, sondern bezieht sich auf die spezifische Situation des Klägers. Außerdem ist das Urteil noch nicht rechtskräftig.
  • Syrer*innen, die in den letzten 13 Jahren einen Schutzstatus erhalten haben, sind von der Entscheidung nicht betroffen. An ihrer aufenthaltsrechtlichen Situation ändert sich nichts. Sie müssen keine unmittelbare Abschiebung befürchten.
  • Eingebürgerte oder Personen mit unbefristeter Niederlassungserlaubnis müssen sich keine Sorgen über den Widerruf ihres Schutzstatus machen; selbst im Falle des Widerrufs der Aufenthaltserlaubnis gibt es rechtliche Möglichkeiten der Aufenthaltssicherung.
  • Obwohl der Druck auf das BAMF und die Gerichte wächst, ändert sich für Personen mit bestehendem Schutzstatus durch das Urteil vorerst nichts. Individuelle Entscheidungen können jedoch überprüft werden.
  • Trotzdem gilt natürlich, dass das BAMF seine Entscheidungspraxis ändern könnte, was es für neue syrische Geflüchtete schwieriger machen würde, Schutz zu erhalten. Selbst wen das BAMF seine Entscheidungspraxis ändert und Gerichte dem folgen, wird voraussichtlich aufgrund der Sicherheitslage in Syrien in den meisten Fällen ein Abschiebungsverbot festgestellt werden. Auch der Kläger im genannten Urteil erhielt ein Abschiebungsverbot.

Fazit: Für schon in Deutschland befindliche Syrer*innen wird sich mit dieser Entscheidung erstmal nichts ändern. Die einseitige mediale Berichterstattung nutzten einige Politiker*innen, um die Debatte über Abschiebungen nach Syrien wieder anzufachen. Abschiebungen nach Syrien werden aufgrund der desaströsen Lage vor Ort aber vorerst keine reelle Option sein.