Chancen-Aufenthalt? Baden-Württemberg schiebt lieber schnell noch ab

Flüchtlingsrat kritisiert bevorstehende Abschiebung einer Person, die von der neuen Regelung der Bundesregierung profitieren würde

Wenige Tage nachdem das Bundeskabinett das neue Chancen-Aufenthaltsrecht verabschiedet hat, welches Menschen, die am 01.01.22 seit fünf Jahren in Deutschland aufhältig waren und zudem weitere Voraussetzungen erfüllen, die Option auf einen einjährigen Aufenthaltstitel gibt, steht mindestens ein potenzieller Nutznießer der neuen Bleiberechtsoption in Baden-Württemberg vor der Abschiebung. Möglich ist dies, da der Gesetzesentwurf erst nach der Sommerpause im September verabschiedet werden soll und es bis dahin in Baden-Württemberg nicht wie in anderen Ländern eine sogenannte „Vorgriffsregelung“ für Fälle gibt, die alle Anforderungen erfüllen.

Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg hat von dem Fall eines Mannes aus Sri Lanka erfahren, der seit zehn Jahren in Deutschland lebt und alle Voraussetzungen für die Aufenthaltserlaubnis bei nachhaltiger Integration nach § 25b AufenthG erfüllt, bis auf den Besitz eines gültigen Reisepasses. Diesen hat er beantragt, aber noch nicht erhalten. Der Betroffene hat das Deutschniveau B1 erreicht, hat einen Vollzeit- und einen Minijob, hat den „Leben in Deutschland“-Test bestanden, keine strafrechtlichen Verurteilungen, und ist darüber hinaus ehrenamtlich in seiner Kirchengemeinde aktiv. Jetzt sitzt er in Pforzheim in Abschiebungshaft.

„Genau für solche Personen ist das neue Chancen-Aufenthaltsrecht gedacht. Würde man ihm noch etwas Zeit einräumen, bis sein beantragter Pass vorliegt, würde er ein legales Aufenthaltsrecht erwerben. Wäre das Gesetz zum Chancen-Aufenthalt schon in Kraft, könnte er davon profitieren. Und wenn Baden-Württemberg eine Vorgriffsregelung hätte, wie es viele andere Bundesländern haben, würde er nicht abgeschoben werden“, erklärt Seán McGinley, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg.

Gleichzeitig befinden sich zwei weitere Personen aus Sri Lanka in Abschiebungshaft, die mit unbefristeten Vollzeitverträgen berufstätig sind, keine Straftaten begangen haben und seit 2017 in Deutschland sind. Für den Chancen-Aufenthalt in seiner aktuellen Form kommen sie nicht in Frage, weil dieser am ursprünglichen Stichtag des 1. Januar 2022, an dem der fünfjährige Aufenthalt gegeben sein muss, festhält – aus Sicht des Flüchtlingsrats ein Beispiel dafür, warum dieser Stichtag aus dem Gesetzesentwurf gestrichen werden muss.

Bereits im vergangenen Jahr hatte es mehrere Fälle gegeben, in denen Abschiebungen bei Personen eingeleitet wurden, die eine konkrete Bleibeperspektive in Aussicht hatten. Der Fall von Andi Olalere Adegbite aus Bad Schönborn in Landkreis Karlsruhe erregte dabei besondere Aufmerksamkeit. Seine Abschiebung war bereits eingeleitet worden, obwohl er die Voraussetzungen für eine Beschäftigungsduldung erfüllte. Aufgrund der Bemühungen seiner Unterstützer*innen, seines Arbeitgebers und des Flüchtlingsrats konnte die Abschiebung gerade noch abgewendet werden. Mittlerweile hat er eine Aufenthaltserlaubnis.

Vor einem Jahr hat die Landesregierung im Koalitionsvertrag angekündigt, alle rechtliche Möglichkeiten auszuschöpfen, um Bleiberechtsoptionen zu nutzen und darüber hinaus Betroffene rechtzeitig entsprechend zu beraten, bevor eine Abschiebung droht. Nach Erfahrung des Flüchtlingsrats ist der Gegenteil der Fall: „Die Behörden scheinen stattdessen darauf aus zu sein, möglichst viele Abschiebungen zu ermöglichen, bevor ein Bleiberecht ‚droht‘. Die Weigerung der Landesregierung, eine Vorgriffsregelung zum Chancen-Aufenthaltsrecht einzuführen – mit der hahnebüchenen Ausrede, dies sei rechtlich gar nicht zulässig, obwohl es vor drei Jahren mal eine solche Regelung gab – lässt befürchten dass es viele weitere solche Fälle geben wird. Wir fordern die Landesregierung auf, die Abschiebungen sofort zu stoppen, endlich die lange geforderte Vorgriffsregelung einzuführen und Position zu beziehen gegen diese wiederholten Missachtung des Koalitionsvertrages.“, so Seán McGinley.


Betroffene des Messerangriffs in Kressbronn melden sich zu Wort

Am 26. Juni ist es in der Asylunterkunft Kressbronn im Bodenseekreis zu einem Messerangriff gekommen, bei dem ein Bewohner einen syrischen Mitbewohner getötet und fünf weitere Menschen teils schwer verletzt hatte. Nun haben sich Betroffene zu Wort gemeldet: Im Südkurier berichtet ein ehemaliger Bewohner der Unterkunft über die Perspektivlosigkeit und die mangelnde persönliche Zuwendung in der Asylunterkunft Kressbronn. Die Website Agora-LA berichtet von einer Demonstration der syrischen Community aus Kressbronn und Umgebung. Auch hier kamen die Betreuungsmissstände in der Unterkunft zur Sprache, ohne die die Tat vielleicht hätte verhindert werden können.


867 Abschiebungen im ersten Halbjahr 2022

Im ersten Halbjahr 2022 wurden insgesamt 867 Menschen aus Baden-Württemberg abgeschoben, 392 davon im ersten Quartal. Im Vergleich zu den beiden Vorjahreszeiträumen hat die Zahl der Abschiebungen deutlich zugenommen: Im ersten Halbjahr 2021 wurden 518 Menschen, im gleichen Zeitraum 2020 655 Menschen aus Baden-Württemberg abgeschoben. Häufigstes Zielland ist Nordmazedonien, wohin 138 Abschiebungen durchgeführt wurden, gefolgt von Italien mit 77 Abschiebungen.

Abschiebungen nach Herkunftsland:  

Nordmazedonien 138
Syrien 61
Nigeria 58
Pakistan 57
Algerien 51
Serbien 47
Georgien  44
Kosovo 44
Türkei 44
Albanien 36
Afghanistan 32
Rumänien 31
Tunesien 30
Gambia 28
Irak 19
Sri Lanka 17
Polen 12
Russische Föderation 12
Somalia 11
Kamerun 9
Bosnien-Herzegowina 8
Iran 8
Montenegro 7
Kroatien 5
Senegal 5
Bulgarien 4
Italien 4
Marokko 4
Togo 4
Tschechische Republik  4
Unbekannt 4
Moldawien 3
Eritrea 2
Ghana 2
Libanon 2
Litauen 2
Niederlande 2
Ägypten 1
Algerien  1
Brasilien 1
China 1
Dominikanische Republik 1
Griechenland 1
Großbritannien 1
Indien 1
Kolumbien 1
Malaysia 1
Portugal 1
Schweiz 1
Spanien 1
Sudan 1
Ungarn 1
Vietnam 1

Gesamt: 867

Abschiebungen nach Zielland:

Nordmazedonien 138
Italien 77
Pakistan 57
Georgien  44
Nigeria 44
Kosovo 43
Türkei 38
Spanien 38
Serbien 37
Rumänien 35
Albanien 35
Frankreich 29
Algerien 28
Tunesien 20
Bulgarien 19
Österreich 17
Sri Lanka 17
Gambia 13
Polen 12
Kroatien 12
Luxemburg 11
Schweiz 10
Slowenien 9
Bosnien-Herzegowina 8
Niederlande 8
Montenegro 7
Portugal 6
Schweden 6
Griechenland 5
Senegal 4
Lettland 4
Tschechische Republik  4
Litauen 4
Irak 4
Moldawien 3
Finnland 3
Ghana 2
Dänemark 2
Libanon 2
Sudan 1
Ungarn 1
Ägypten 1
Russische Föderation 1
Kamerun 1
Estland 1
Kolumbien 1
Vietnam 1
Dominikanische Republik 1
Großbritannien 1
Iran 1
Malaysia 1

Gesamt: 867


Basisinformationen zu Rechten und Pflichten von Asylsuchenden

Der Informationsverbund Asyl & Migration hat die dritte Ausgabe ihrer Reihe „Basisinformationen“ zum Thema „Die Rechte und Pflichten von Asylsuchenden“ in völlig überarbeiteter Neuauflage veröffentlicht. Die Handreichung befasst sich mit der Situation von Personen, die sich im Asylverfahren befinden. Dabei werden vor allem die Rechtsstellung (also in der Regel die Aufenthaltsgestattung) und die daraus folgenden Rechten und Pflichten betrachtet.

Die einzelnen Abschnitte der Basisinformation behandeln diese Themen:

1. Rechtsstellung
2. Unterbringung
3. Geld- und Sachleistungen
4. Medizinische Versorgung
5. Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Ausbildung
6. Zugang zu Bildung
7. Familienzusammenführung
8. Garantien für unbegleitete Minderjährige
9. Weitere besonders schutzbedürftige Gruppen
10. Mitwirkungspflichten

Neben dieser Handreichung gibt es noch weitere Basisinformationen für die Beratungspraxis.


Folgen strafrechtlicher Verurteilungen für das Aufenthaltsrecht – Wann gefährden Straftaten den Aufenthalt in Deutschland?

Viele von uns werden – möglicherweise unbewusst – schon eine Straftat begangen haben. Wird man dafür verurteilt, erhält man zumeist eine Geld- oder Freiheitsstrafe. Für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit kann eine solche Verurteilung zusätzlich gravierende aufenthaltsrechtliche Folgen haben, wie den Verlust eines bestehenden oder den Ausschluss eines erhofften Bleiberechts. Die Veranstaltung gibt einen Überblick zu den Konstellationen, in welchen dies der Fall ist und in welchen nicht. Dabei besteht auch die Möglichkeit, sich mit eigenen Fragen einzubringen.

Die kostenlose Veranstaltung findet im Rahmen des Plenums des AK Asyl Stuttgart statt. Der Vortrag startet um 20 Uhr. Interessierte sind aber auch herzlich zur Teilnahme am Plenum eingeladen, das um 19 Uhr beginnt. Der Vortrag findet im Rahmen des Projekts „Aktiv für Flüchtlinge“ statt, unterstützt durch das Ministerium der Justiz und für Migration aus Landesmitteln, die der Landtag Baden-Württemberg beschlossen hat.

Referent: Sebastian Röder

Anmeldung: Joachim.Schlecht@elkw.de


Aufnahmeprogramm Afghanistan

Die Bundesregierung hatte nach der Übernahme der Taliban 2021 ein Aufnahmeprogramm für gefährdete Menschen in Afghanistan versprochen. Am 02.06.2022 gab der Haushaltsausschuss des Bundestags 25 Millionen Euro für ein Bundesaufnahmeprogramm frei.

Wie genau das Programm ausgestaltet werden soll und wie viele Personen darüber einreisen könnten, ist allerdings noch unklar. Befürchtet wird, dass statt der angestrebten 20.000 gefährdeten Afghan*innen nur ca. 5.000 einreisen könnten. Dies alles soll bis Ende August geklärt werden.



Griechisches Festland, Kreta und Rhodos: Seit 6 Monaten kein geregelter Zugang zum Asylsystem

Die Bedingungen, unter denen Geflüchtete in Griechenland leben, stehen immer wieder im Fokus der Öffentlichkeit. Dabei geht es meistens um die menschenunwürdigen Zustände in den Camps auf den ägäischen Inseln. Aber auch auf dem griechischen Festland sind die Herausforderungen, denen Geflüchtete begegnen, umfassend. Unser Mitglied des Sprecher*innenrates Mariella Lampe arbeitet derzeit mit der NGO Mobile Info Team in Thessaloniki und untersucht von dort aus die Lebensumstände der Menschen, die teilweise seit Jahren keinen Zugang ins griechische Asylsystem finden.

Seit einer Neuregelung im November 2021 besteht auf dem griechischen Festland, Rhodos und Kreta kein allgemein gültiger Zugang zum Asylsystem mehr. Schon vorher war dieser signifikant erschwert, da für die persönliche Antragstellung eine Vorab-Registrierung per Skype notwendig war. Diese funktionierte jedoch nur äußerst mangelhaft, was dazu führte, dass Asylsuchende im Schnitt 14 Monate auf einen Termin bei der zuständigen Behörde warten mussten.

Seit das Skype-System ausschließlich für Folgeanträge geöffnet ist, gibt es nur noch drei Ausnahmefälle, in denen Menschen außerhalb der griechischen “Hotspots”auf Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos Asyl beantragen können: wenn sie bereits bei der Polizei registriert sind und entsprechende Papiere (“police notes”) erhalten haben, indem sie eine Vulnerabilität nachweisen oder wenn sie sich selbst bei dem einzigen zuständigen “Reception and Identitfication Center” (RIC) im Norden Griechenlands, Fylakio, vorstellen.

Die in Thessaloniki ansässige Nichtregierungsorganisation Mobile Info Team (MIT) hat in ihrem neusten Bericht “Blocked from the system” (www.mobileinfoteam.org/blockedfromthesystem)  untersucht, inwieweit diese Zugänge zum Asylsystem funktionieren und die Situation der Menschen dokumentiert, die sich aus diesem Grund ohne Papiere in Griechenland aufhalten.

Die Auswertung von 144 Fällen aus der Datenbank der Rechtsberatung von MIT sowie 18 semi-strukturierten Interviews ergab, dass auch diese Wege ins griechische Asylsystem häufig nicht gangbar sind, selbst wenn die jeweiligen Kriterien erfüllt sind.

So ist es nach wie vor nicht nachvollziehbar, unter welchen Umständen die Polizei “police notes” ausgibt. In vielen Fällen haben Menschen, die sich an die Polizei gewendet haben, keine Papiere ausgehändigt bekommen. Dazu kommt die Angst, sich überhaupt an die Behörden zu wenden, da die Gefahr von gewaltsamen und illegalen Rückführungen in die Türkei besteht (sogenannte Pushbacks).

Zudem stellte es sich heraus, dass es äußerst schwierig ist, eine Vulnerabilität nachzuweisen. Zum einen liegt dies daran, dass Menschen ohne Papiere keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben und somit in der Regel keine Arztberichte erhalten können. Zum anderen ist unklar, welche Vulnerabilitäten eigentlich anerkannt werden und welchen Schweregrad diese aufweisen muessen.

Zu guter Letzt stellt die Alternative, sich selbst im RIC Fylakio zu registrieren, keinen gangbaren Weg dar: 71% der in Griechenland im letzten Jahr stattgefundenen Pushbacks spielte sich in der Region Evros ab, wo das RIC gelegen ist. Die Wahrscheinlichkeit, auf dem Weg dorthin festgenommen und illegal abgeschoben zu werden, ist demnach extrem hoch. MIT hat gemeinsam mit dem  Border Violence Monitoring Network, dessen Mitglied die NGO ist, diverse Pushbacks im Zusammenhang mit dem RIC Fylakio dokumentiert. In einem besonders signifikanten Fall war ein kubanisches Paar betroffen, welches sich selbstständig zum RIC begeben hatte, dort gedemütigt und dann ohne gesetzliche Grundlage in die Türkei zurückgeführt wurde – ohne dort jemals gewesen zu sein.

Die von MIT durchgeführten Interviews zeigen außerdem die äußerst schwierigen Lebensumstände, die Geflüchtete und Migrant*innen ohne Papiere in Griechenland erdulden müssen. 80% der befragten Personen hatten Obdachlosigkeit erlebt oder waren darauf angewiesen, dass Bekannte oder auch Fremde sie umsonst bei sich wohnen ließen. 60% berichteten von ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen mit Arbeitszeiten von bis zu 12 Stunden für 20 bis 25 Euro am Tag. Daraus resultierend scheint es wenig überraschend, dass 60% der Befragten angaben, unter körperlichen oder mentalen Einschränkungen zu leiden, ohne eine entsprechende Unterstützung erhalten zu können.


Krankheit, Tod und Trauer: Netzwerk für Kinderpalliativangebote

Der Bundesverband Kinderhospiz e.V. hat ein Netzwerk der Kinderpalliativangebote für Geflüchtete errichtet und vermittelt Kinderhospizangebote. Diese Hilfen richten sich sowohl an Geflüchtete mit lebensbedrohlich erkrankten Kindern als auch an trauernde Kinder und Familienangehörige, die um ein Kind trauern.

Der Bundesverband hat hierfür eine Website mit ukrainischem, russischem, englischem und deutschem Text zu der Kinderhospizarbeit eingerichtet. Zudem gibt es eine telefonische, kostenlose Sprechstunde (deutsch, englisch, russisch und ukrainisch):

Telefon:           +49 800 8888 4713
Montags:         19:00 – 20:00 h
Freitags:          13:00 – 14:00 h

Auch per E-Mail erreichen Sie den Bundesverband Kinderhospiz e.V. in den angegebenen Sprachen unter: fluechtlingshilfe@bundesverband-kinderhospiz.de



PRO ASYL und Connection e.V.: Russische Deserteure und Militärdienstflüchtige

Das Kriegsdienstverweigerungs-Netzwerk Connection e.V. und PRO ASYL begrüßen die Erklärung des Innenministeriums, dass russischen Deserteuren Schutz zugesichert wird. Zugleich weisen die Organisationen auf immer noch fehlende Schutzzusagen hin: Für Militärdienstflüchtige aus Russland, für Kriegsdienstverweigerer und Militärdienstentzieher aus Belarus und der Ukraine.

In einer Stellungnahme an den Innenausschuss des Bundestags hat das Innenministerium am 17. Mai 2022 erklärt, dass „bei glaubhaft gemachter Desertion eines russischen Asylantragstellenden derzeit in der Regel von drohender Verfolgungshandlung für den Fall der Rückkehr in die Russische Föderation ausgegangen“ werde. Ergänzend schreibt das Innenministerium: „Da bereits die Bezeichnung ‚Krieg‘, bezogen auf den Angriff auf die Ukraine, in der Russischen Föderation als oppositionelle politische Darstellung geahndet werden kann, kann eine Desertion – als aktives Bekunden gegen die Kriegsführung – als Ausdruck einer oppositionellen Überzeugung gewertet werden.“

„Dass russischen Deserteuren Schutz im Asylverfahren angeboten wird, ist ein erster wichtiger Schritt“, sagt heute Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL. „Bislang gab es für Deserteure trotz ihrer Entscheidung gegen eine Kriegsteilnahme im deutschen Asylverfahren viele Hürden. Die aktuelle Stellungnahme des BMI führt hoffentlich zu einer schneller Zuerkennung eines Schutzstatus für russische Deserteure.“

Connection e.V. und PRO ASYL weisen zugleich daraufhin, dass in der Mitteilung des Innenministeriums ausdrücklich „Wehrdienstflüchtlinge von den Ausführungen nicht umfasst“ sind. „Es ist ein untragbarer Zustand, dass Menschen, die sich rechtzeitig den Rekrutierungen zu Militär und Krieg entziehen, von der Regelung ausgeschlossen werden“, erklärt Rudi Friedrich von Connection e.V.. „Wir brauchen eine klare Zusage der deutschen Bundesregierung, dass auch die Militärdienstentziehung in Russland in Zeiten des Krieges in der Ukraine als oppositionelle politische Haltung gewertet wird und diese Menschen damit auch den notwendigen Schutz erhalten.“

Es fehlt ein klares Bekenntnis zum Recht auf Kriegsdienstverweigerung – auch für Ukrainer und Belarussen

Die Organisationen bedauern zudem, dass auch die drohende Rekrutierung und die mittelbare Kriegsbeteiligung von Belarus nicht in die Aussage des Innenministeriums einfließt. PRO ASYL und Connection e.V. fordern gemeinsam mit 40 weiteren Organisationen in einem im März 2022 veröffentlichten Appell an den Bundestag, auch belarussischen Soldaten und Soldatinnen, die sich dem Einsatz im Militär und somit dem möglichen Kriegseinsatz in der Ukraine entzogen haben oder desertiert sind, Asyl zu gewähren.

Darüber hinaus fehlt ein klares Bekenntnis der Bundesregierung zum Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung, gerade bezüglich der Ukraine. „Es hat sich gezeigt“, so Rudi Friedrich, dass sowohl in Russland als auch in Belarus und insbesondere in der Ukraine die Regelungen zum Recht auf Kriegsdienstverweigerung völlig unzureichend sind. Es ist kein Wunder, dass auch Tausende Militärdienstpflichtige aus der Ukraine ins Ausland geflohen sind. Ihnen wird im Herkunftsland das Recht auf Kriegsdienstverweigerung verwehrt. Auch sie brauchen nach dem Auslaufen der momentanen Aufenthaltsregelung für Geflüchtete aus der Ukraine Schutz.“


Podiumsdiskussion zur Bilanz der Landesregierung

Das Asylzentrum e.V., der AK Asyl Südstadt und die Katholischen Gesamtkirchengemeinde Tübingen veranstalten am 20.06.2022 um 19.30 Uhr in Tübingen eine Poduiumsdiskussion zur Bilanz der Landesregierung im Rahmen der Menschenrechtswoche 2022: „Ressourcen fallen nicht vom Himmel. Wovon hängen Menschenrechte ab?“

Menschenrechte werden beklagenswerterweise sehr oft auf der Welt verletzt – auch in Europa, das sich gerne selbst als „Wertegemeinschaft“ bezeichnet. Menschen ertrinken im Mittelmeer, weil wir in Europa sie nicht retten. Menschen werden an den EU-Außengrenzen zurückgeprügelt, weil unsere Gesellschaften sie nicht passieren lassen.

Dabei wird auf Tübingen, auf Baden-Württemberg geschaut: Welche Ressourcen müssen bereitgestellt werden, damit die verbürgten Menschenrechte und Grundfreiheiten für Geflüchtete gewährleistet sind?

Dazu wird das Kapitel „Migration und Integration“ des Koalitionsvertrags der grün-schwarzen Landesregierung ein Jahr nach Unterzeichnung unter die Lupe genommen. Was wurde umgesetzt? Was nicht und warum? Und was fehlt grundsätzlich?

Referent*innen:

  1. Badiah Jazzaa, Jesidin, Buchautorin, 2014 vor dem IS aus dem Nordirak geflohen
  2. Dorothea Kliche-Behnke, Sprecherin für Integration der SPD-Landtagsfaktion
  3. Daniel Lede Abal, Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion der Grünen im Landtag und Sprecher für Migration und Integration
  4. Séan McGinley, Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, Leiter der Geschäftsstelle