BVerwG: Kein „Flüchtigsein“ während des Kirchenasyls

Das Bundesverwaltungsgericht hat am 08.06.2020 (1 B 19.20) entschieden, dass kein „Flüchtigsein“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-VO vorliegt, wenn der Asylantragsteller sich in Kirchenasyl befindet. Ein „Flüchtigsein“ liege vor, wenn der Asylantragsteller „sich den für die Überstellung zuständigen nationalen Behörden entziehe, um die Überstellung zu vermeiden“. Dieser Fall liege aber gerade nicht vor, wenn den Behörden im offenen Kirchenasyl die Adresse des Asylbewerbers bekannt ist und der Staat deshalb „weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert ist, die Überstellung durchzuführen“. Die Besonderheiten der deutschen Verwaltungsorganisation ändere dabei nicht die Auslegung des unionsrechtlichen Rechtsbegriffs des „Flüchtigsein“. Damit kann das BAMF die Überstellungsfrist im Dublin-Verfahren nicht von den üblichen 6 Monaten auf 18 Monate verlängern. Mit dem Beschluss schließt sich das BVerwG auch der Rechtsprechung der meisten deutschen Oberverwaltungsgerichte und des EUGH an.

BVerwG, Beschluss vom 08.06.2020 – 1 B 19.20


BVerfG: Keine formale oder inhaltliche „Glaubensprüfung“ durch die Gerichte bei Asylbegehren von Konvertit*innen

Die Zahl (christlicher) Konvertit*innen aus islamisch geprägten Ländern ist recht hoch und hat damit auch eine Debatte zwischen den Kirchen, dem BAMF und den Verwaltungsgerichten ausgelöst: Inwieweit darf der Staat die Konversionen prüfen bzw. welche Beweismittel und Methoden sind zulässig, um zu überprüfen, ob die Hinwendung zum neuen Glauben aufgrund einer identitätsprägenden Bedeutung für den Konvertiten oder möglicherweise nur aus asyltaktischen Erwägungen erfolgte? Mit seiner Entscheidung vom 3.4.2020 (Az. 2 BvR 1838/15) hat das BVerfG den rechtlichen Maßstab nun geklärt:

Die Entscheidung betraf einen zum Christentum konvertierten Iraner, dessen 2011 gestellter Asylantrag vom BAMF abgelehnt wurde. Im anschließenden Klageverfahren erklärte er, dass er im Mai 2013 getauft worden sei und auch regelmäßig an kirchlichen Veranstaltungen teilnehme. Im Falle einer Abschiebung in den Iran drohe ihm deshalb eine asylrelevante Verfolgung. Das Verwaltungsgericht Stuttgart gab der Klage statt, der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim wies sie ab. Der Kläger hatte den Senat „nicht von einer die religiöse Identität prägende Hinwendung zur christlichen Religion überzeugen können“, weshalb auch keine Gefahr einer Verfolgung aus religiösen Gründen bei einer Rückkehr in den Iran bestehe.

Das Bundesverfassungsgericht hat die darauffolgende Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, in seiner Begründung aber wichtige Fragen geklärt, die auch für Ehrenamtliche und Rechtsanwält*innen in der Fallpraxis von Bedeutung sein können. Die Verwaltungsgerichte dürfen die Gültigkeit des Religionsübertritts nicht in Frage stellen. Irrelevant ist (hier) deshalb auch, ob der Konvertit asyltaktische Absichten verfolgt. Die folgende fachgerichtliche Prüfung, ob nach den §§ 3 ff. AsylG eine begründete Furcht vor Verfolgung aufgrund des Übertritts zur christlichen Kirche besteht, verstößt dagegen weder gegen das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, noch gegen die Glaubens-, Gewissens-, und Religionsfreiheit des Einzelnen. Entscheidend für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist die Intensität und Bedeutung der Religion für den Betroffenen. Die Anforderungen an die Beweiserhebung sind aufgrund des „hohen Werts“ der betroffenen Grundrechte hoch. Erforderlich ist eine Art Gesamtschau – zum Beispiel anhand der religiösen Vorprägung des Betroffenen oder der Dauer und Intensität des Konversionsprozesses. Zu beachten ist aber, dass es sich dabei nur um Indizien handelt. Der Beschluss macht deutlich, dass beispielweise lückenhaftes Wissen von „Lerninhalten“ der neuen Religion alleine nicht ausreichend ist, um von einer nicht identitätsprägenden Glaubensüberzeugung auszugehen.

Der identitätsprägende Glaube ist eine sogenannte Tatsache des Innenlebens, die – genauso wie ein auf die sexuelle Orientierung gestütztes Verfolgungsrisiko – sehr schwierig zu überprüfen (und beweisen) ist. Mit seiner Entscheidung hat das BVerfG klargestellt, dass das Verwaltungsgericht diese Prüfung vornehmen darf – und muss! Diese Aufgabe fällt in Asylprozessen eigentlich einer einzigen Person zu – dem/der Einzelrichter*in. Allerdings sieht § 76 Abs. 1 AsylG unter anderem in Fällen, in denen „die Sache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher Art“ aufweist, eine Entscheidung durch die – aus drei Berufsrichter*innen und zwei ehrenamtlichen Richter*innen – bestehende Kammer vor: In besonders schwierigen Fällen soll statt einer Person also eine Gruppe von 5 Personen auf Grundlage des in der mündlichen Verhandlung erörterten Sachverhalts beraten und entscheiden. Bei einer Kammerentscheidung kommt es im Rahmen des auf die mündliche Verhandlung folgenden Beratungsgesprächs dabei zwangsläufig zu einem Austausch, in den sich alle 5 Richter*innen gleichberechtigt mit ihren Argumenten, Perspektiven und Erfahrungen einbringen können. Dagegen macht der Einzelrichter seine Entscheidung nicht selten nur mit sich selbst aus. Gerade weil die Frage, ob die klagende Person in identitätsprägender Weise glaubt, so schwierig und im Kern gar nicht juristisch ist, erscheint es angebracht, möglicherweise sogar geboten, die im Prozessrecht vorgesehenen Möglichkeiten optimal zu nutzen, um eine möglichst gute Entscheidung zu treffen. Die Chance hierauf dürfte steigen, wenn nicht nur ein, sondern 5 Richter*innen die Frage beantworten. In der Praxis sollte deshalb eine Entscheidung durch die Kammer angeregt werden. Zu einer solchen Stellungnahme gibt das Gericht in der Regel kurz nach Klageerhebung Gelegenheit.


Handreichung zum Asylbewerberleistungsrecht

Die „Handreichung zum Asylbewerberleistungsrecht“ des Brandenburger Flüchtlingsrats gibt einen aktuellen Überblick über bestehende Leistungsansprüche nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Außerdem sollen Checklisten, Mustervorschläge und Praxistipps dabei helfen, Leistungsbescheide zu überprüfen und gegen rechtswidrige Praxen bei der Leistungsgewährung vorzugehen.


Der Flüchtlingsrat BW sucht neue Büroräume!

Wir sind auf der Suche nach neuen Büroräumen, die weniger temperaturanfällig und weniger Außenlärm ausgesetzt sind, mehr Platz haben, bezahlbar, hell und gut angebunden sind.

Wichtig ist uns vor allem, eine stadtnahe Lage (max. 15-20 Minuten vom HBF bis zu den Büroräumen), ausreichen Platz für ca. 5 Büroräume mit 2 bis 3 Arbeitsplätzen pro Raum und einen extra Besprechungsraum für 15-20 Personen. Außerdem benötigen wir eine Küchenzeile oder eine kleine separate Küche. Der Quadratmeterpreis sollte nach Möglichkeit unter 12€/qm, maximal bei 13€/qm liegen.

Wir freuen uns über passende Angebote!


Digitale Gesprächsrunde: Eine Schande für Europa! Zur aktuellen Situation in den Flüchtlingslagern

Die Stimmen sind leiser geworden, doch die Lage der geflüchteten Frauen, Kinder, Männer jeden Alters in den Flüchtlingslagern an Europas Grenzen schreit weiterhin zum Himmel. Aufgrund der Covid-19-Pandemie sind die Flüchtlingslager nicht nur Orte von Elend und Leid sondern eine zusätzliche Gefahrenquelle für die zusammengedrängten
Menschen. Doch die europäischen Staaten, ihre verantwortlichen Politiker*innen und weite Teile der Bevölkerung sind mit der internen Krisenbewältigung beschäftigt. Europäische Solidarität ist eine Mangelware, wenn es um diejenigen geht, die sowieso schon unerwünscht sind und an den Rand geschoben werden. Das Podiumsgespräch wird geführt zwischen Blanca Balassa (Bundesfreiwillige in Sizilien),Thomas Bormann (ARD-Radiokorrespondent, Griechenland) und Robert Nestler („Equal Rights Beyond Borders“) und moderiert von Lucia Braß vom Flüchtlingsrat BW.


VG Münster: Unverzügliche Entlassung aus der Erstaufnahme bei „einfach unbegründetem“ Asylantrag aufgrund aufschiebender Wirkung der Klage gegen die BAMF-Ablehnung

Das Verwaltungsgericht Münster hat in seiner Entscheidung vom 06. August (Aktenzeichen 6a L 601/20) entschieden, dass Personen, deren Asylantrag „einfach“ abgelehnt wurde und die dagegen geklagt haben, auf Antrag unverzüglich aus der EA zu entlassen sind, da die Klage aufschiebende Wirkung hat.

Der Asylantrag der beiden Antragsteller wurde als „einfach unbegründet“ abgelehnt, durch die Klage gegen die Entscheidung des BAMF entsteht bereits kraft Gesetz eine aufschiebende Wirkung. § 50 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG sieht dagegen nur in Fällen, in denen „das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Entscheidung des Bundesamts angeordnet hat“ eine unverzügliche Entlassung aus der EA vor. Der Fall der Antragsteller ist von § 50 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG bisher also nicht erfasst. Das VG hat seine Entscheidung aber mit einer analogen (=entsprechenden) Anwendung des § 50 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG begründetet. Eine Analogie setzt eine vergleichbare Interessenlage und eine planwidrige Regelungslücke voraus. Beide Voraussetzungen sind nach Ansicht des VG Münster erfüllt. Die Ungleichbehandlung von Fällen, in denen die aufschiebende Wirkung kraft Gesetz eintritt und in Fällen, in denen das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ablehnung des Asylantrags anordnet, sei nicht vom Gesetzgeber gewollt.

Für die Praxis bedeutet das, wer bei „einfach unbegründeten“ Ablehnungen bereits Klage erhoben hat und aus der Erstaufnahme raus möchte, sollte die Entlassung beim Regierungspräsidium beantragen und bei Ablehnung bzw. Untätigkeit Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht mit Verweis auf die Entscheidung des VG Münster erheben.


Handreichung: Die Rolle von traumatischen Ereignissen und Traumafolgen für die Arbeitsmarktintegration Geflüchteter

Die Broschüre „Die Rolle von traumatischen Ereignissen und Traumafolgen für die Arbeitsmarktintegration Geflüchteter“ des Hessischen Flüchtlingsrats soll bei der Unterstützung von traumatisierten Menschen im Hinblick auf die arbeitsmarktrechtliche Integration helfen. Ziel ist es, Geflüchtete mit psychischen Belastungen bedürfnisorientiert beraten zu können und auch mit eigenen Belastungen, beispielsweise der erlebten Hilflosigkeit und Ohnmacht, besser umgehen zu können. Die Broschüre richtet sich hauptsächlich an Mitarbeiter*innen von Behörden und Berater*innen, die mit geflüchteten Menschen arbeiten.


Wichtige Hinweise zur Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen im Anschluss an abgeschlossene Berufsausbildungen

In dem Schreiben stellt das Innenministerium klar, dass der Übergang in eine Aufenthaltserlaubnis von Geflüchteten, die eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, möglichst reibungslos ablaufen soll. So sollen Personen mit Ausbildungsduldung schnell eine Aufenthaltserlaubnis nach § 19d Abs. 1a AufenthG (vor 01.03.2020: § 18 a Abs. 1a AufenthG) erhalten – notfalls ist unverzüglich eine Ermessensduldung mit Beschäftigungserlaubnis als Überbrückung zu erteilen. Zudem wird endlich klar, dass für Personen, die eine Ausbildung noch in Aufenthaltsgestattung abschließen, § 19d Abs. 1a AufenthG analog anwendbar ist!


United against Racism – Für eine Gesellschaft der Vielen!

Am 5. September gehen wir alle zusammen auf die Straßen und zeigen laut und deutlich in was für einer Gesellschaft wir leben wollen: in einer Gesellschaft ohne Rassismus! Genau fünf Jahre nach dem „March of Hope“. Denn der September 2015 war ein Lichtblick. Ein historischer Durchbruch gegen das Grenzregime, nicht nur auf der Balkanroute. Eine Dynamik des Kommens und Willkommens, die wir nicht vergessen werden. Und für die wir weiter streiten: trotz und gegen das anhaltende Rollback der rassistischen Gesetze und Hetze.

Jeden Tag erleben wir es aufs Neue: Rassismus verletzt, Rassismus tötet. Ob mit der Abschottungspolitik an den europäischen Außengrenzen, beim Sterbenlassen im Mittelmeer, beim racial profiling in den Innenstädten, mit der Zwangsunterbringung von Geflüchteten in Lagern, mit Abschiebungen und Abschiebehaft, der Wohnungssuche und der Ungleichbehandlung auf dem Arbeitsmarkt, in Schulen und Universitäten, der Behördenwillkür, am Stammtisch und im Internet. Genau diese Politik legt die Grundsteine für rassistischen Mord und Terror. Rassismus strukturiert und durchzieht unsere Gesellschaft und muss von uns allen gleichermaßen bekämpft und verlernt werden.

Doch überall wehren sich Menschen und kämpfen für eine offene und solidarische Gesellschaft und gegen Rassismus. Jeden Tag, im Kleinen und im Großen, praktisch und politisch. Wir streiten für ein Recht auf Bewegungsfreiheit, für gleiche Rechte für Alle. Wir setzen uns dafür ein, das Menschen aus Seenot gerettet werden und kämpfen mit Black Lives Matter gegen rassistische Kontrollen und Polizeigewalt. Mit der Forderung nach Wohnraum und solidarischen Städten und Sicheren Häfen für Alle. Mit dem Widerstand gegen Abschiebungen, mit Kirchen- und BürgerInnenasyl. Mit Protesten gegen alle Formen rassistischer Diskriminierung und Ausbeutung. Und als MigrAntifa gegen die rechte Gewalt. Wir sind viele und wir sind laut, wir kämpfen in Städten, in Dörfern, auf der Straße und im Privaten und wir geben nicht auf!

Migrantische Kämpfe prägen unsere Gesellschaft seit Jahrzehnten und haben sich in die Geschichte und in die Realität unserer Städte eingeschrieben. Hier und jetzt sind wir bereits auf dem Weg in die Gesellschaft der Vielen und wir sind nicht zu stoppen!

Unser antirassistischer Widerstand ist gleichzeitig konkrete Praxis und lebendige Vision. Wir kämpfen für solidarische Städte in einem offenen Europa. Gegen Ausbeutung und Ausgrenzung. Für das Recht zu bleiben, zu kommen und zu gehen. Für gleiche Rechte. Für Alle.