Bundesregierung setzt als einziges Land Dublin-Abschiebungen in Corona-Krise aus

Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage zum Dublin-Verfahren während der Corona-Krise, gestellt von der grünen Bundestagsfraktion, geht hervor, dass Deutschland als einziges Land in der EU die Überstellungsfristen eingefroren hat. Damit bezweckt die Bundesregierung, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist pausiert wird, sodass Deutschland nicht für Asylverfahren von Geflüchteten zuständig wird, die wegen der Corona-Pandemie nicht in das jeweilige europäische Land abgeschoben werden konnten. Gegen dieses unsolidarisches Handeln und rechtlich fragwürdige Praxis haben etwa 9000 Personen geklagt. Insgesamt waren 21.735 Personen mit Dublin-Verfahren vom BAMF angeschrieben worden. In 2.600 Fällen ist die sechsmonatige Überstellungsfrist inzwischen abgelaufen und Deutschland wäre eigentlich zuständig. Übrigens: Seit Juni sind Überstellungen in einige europäische Länder wieder möglich.


Neuerdings Abschiebungsverbote für Afghanen

In den vergangenen Wochen haben mehrere baden-württembergische Verwaltungsgerichte festgestellt, dass für
gesunde, arbeitsfähige und alleinstehende junge Männer ein Abschiebungsverbot für Afghanistan besteht, da sie nicht in der Lage sein dürften, sich das Existenzminimum zu sichern. Grund ist, dass sich die Situation vor allem in Kabul aufgrund der Coronavirus-Pandemie signifikant verschlechtert hat. Vor diesem Hintergrund spricht vieles dafür, dass Menschen aus Afghanistan, deren Asylanträge endgültig abgelehnt wurden, die also keine Aufenthaltsgestattung mehr besitzen, Folgeanträge bzw. Wiederaufgreifensanträge (Anträge auf Feststellung eines Abschiebungsverbots) stellen sollten. Wir empfehlen hierzu die Kontaktaufnahme mit einer Beratungsstelle oder einem Anwalt / einer Anwältin.


Weitere Verwaltungsgerichte halten Aussetzung von Dublin-Fristen für europarechtswidrig

Nachdem bereits Ende Mai das Verwaltungsgericht Schleswig die Aussetzung der Vollziehbarkeit von Abschiebungsanordnungen in Dublin-Verfahren während der Corona-Pandemie als europarechtswidrig eingestuft hatte, haben sich nun das VG Potsdam (Entscheidung vom 12. Juni, Az: VG 2 K 3425/18.A) und das VG Berlin (Entscheidung von 22. Juni, Az: VG 25 L 123/20A) dieser Rechtsauffassung angeschlossen. Der Versuch des BAMF, durch Aussetzung der Vollziehbarkeit zu verhindern, dass Überstellungsfristen ablaufen während keine Überstellungen möglich sind, ist nach Auffassung der Gerichte nicht mit Unionsrecht vereinbar. Betroffene Personen, derer es viele geben dürfte, haben damit gute Argumente, um sich auf den Fristablauf und den Übergang der Zuständigkeit für das Asylverfahren auf Deutschland zu berufen und sollten sich zu diesem Zweck mit einem Anwalt / einer Anwältin oder einer Beratungsstelle in Verbindung setzen.


Wie unabhängig kann eine staatliche Asylverfahrensberatung sein?

Mit dem Migrationspaket wurde im Sommer 2019 die „freiwillige, unabhängige, staatliche Asylverfahrensberatung“ durch das BAMF eingeführt (§ 12a AsylG). Somit soll die Behörde und die Personen, die gleichzeitig über die Asylanträge neueintreffender Geflüchteter entscheiden, die Asylsuchenden neutral beraten. In zwei Stufen sollen zuerst allgemeine Verfahrenshinweise erfolgen (das ist an 21 von 48 Standorten des BAMF der Fall) und dann die fragwürdige „unabhängige“ individuelle Asylverfahrensberatung (zurzeit nur in BW (!): Karlsruhe, Ellwangen, Sigmaringen).In der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der LINKE geht nun u.a. hervor, dass die Beratungen nur asylrechtliche Aspekte abdecken – und nicht wie die der Wohlfahrtsverbände ganzheitlich beraten. Außerdem soll es keine weitere EU-Fördermittel für die unabhängige Beratung der Wohlfahrtsverbände angesichts des staatlichen Angebots geben. Das sind überaus schlechte Neuigkeiten, gerade eben weil die tatsächliche unabhängige Beratung der Wohlfahrtsverbände eine unerlässliche Hilfestütze für neuankommende Geflüchtete in Erstaufnahmeeinrichtungen bedeutet, in denen sie ja bis zu 18 Monaten verpflichtet sind zu wohnen.


Über 90% mit Corona infiziert. Alles richtig gemacht?

Das Antirassistische Netzwerk Baden-Württemberg hat einen umfangreichen Bericht veröffentlicht, der die Entwicklung des Coronavirus-Ausbruchs in der LEA Ellwangen und die Reaktionen der Behörden nachzeichnet. Der Bericht hinterfragt die Aussage des zuständigen Regierungspräsidiums Stuttgart, wonach man „Alles richtig gemacht“ habe – obwohl 90% der Bewohner*innen mit dem Coronavirus infiziert wurden.


79,5 Mio Menschen auf der Flucht

79,5 Millionen Menschen sind dem Bericht zufolge weltweit auf der Flucht — mehr als ein Prozent der Menschheit. In nur zehn Jahren hat sich folglich die Zahl der Geflüchteten damit verdoppelt, denn 2010 zählte der UNHCR 41 Millionen Flüchtlinge weltweit. Es handelt sich um die größte Zahl der Flüchtlinge, die das UNHCR je in seiner 70-jährigen Geschichte registriert hat. Mehr als zwei Drittel aller Flüchtlinge auf der Welt sind nur fünf Ländern zuzuordnen: Syrien führt die Statistik mit den meisten Vertriebenen an (6.6. Millionen). Auf Platz zwei der Herkunftsländer liegt Venezuela (insgesamt 3,7 Millionen), auf Platz drei  Afghanistan (2,7 Millionen). Auf dem vierten und fünften Platz folgen der Südsudan (2,2 Millionen) und Myanmar (1,1 Millionen). Schätzungsweise 30-34 Millionen der Flüchtlinge weltweit sind Kinder, davon Zehntausende ohne Begleitung ihrer Eltern. 


Dublin-Überstellungen laut BMI wieder möglich

Durch ein Erlass des Bundesinnenministeriums vom 12. Juni sollen Dublin-Überstellungen ab dem 15. Juni von und nach Deutschland wieder durchgeführt werden. Das berichtet Pro Asyl. Die Überstellungen sollen stufenweise erfolgen: Zunächst sind Rückführungen in Deutschlands Anrainerstaaten auf dem Landweg und später auch Überstellungen in Nicht-Anrainerstaaten auf dem Luftweg, vorzugsweise durch Chartermaßnahmen, geplant. Das BAMF hat angekündigt, den Widerruf der Aussetzung der Abschiebungsanordnung in jedem Einzelfall den betroffenen Antragstellenden bzw. deren anwaltlicher Vertretung zu zuschicken.


Kein »business as usual« bei Abschiebungen während einer Pandemie!

PRO ASYL, Landesflüchtlingsräte und Jugendliche ohne Grenzen fordern anlässlich der Innenminister*innenkonferenz ein bundesweites Abschiebungsmoratorium während der COVID-19-Pandemie – Abschiebungen sind in einer solchen Zeit nicht zu verantworten! In vielen Zielstaaten ändert sich die Lage aufgrund der Pandemie drastisch.  Dublin-Abschiebungen dürfen auch weiterhin nicht durchgeführt werden.

Zur Notwendigkeit der Verlängerung des Abschiebungsstopps nach Syrien haben die Organisationen bereits am Freitag eine Presseerklärung veröffentlicht.

Keine Dublin-Abschiebungen!

Laut einem Erlass des Bundesinnenministeriums werden ab dem 15. Juni wieder auch innereuropäische Abschiebungen im Rahmen der Dublin-III-Verordnung wieder vollzogen werden sollen. Aber als deutscher Tourist in ein italienisches Hotel einzuchecken ist eben nicht das gleiche, wie als Asylsuchender in die dortigen prekären Verhältnisse geschickt zu werden.
In Italien gab es schon vor Corona gravierende Mängel bei den Aufnahmebedingungen, vielen zurückgeschickten Asylsuchenden droht die Obdachlosigkeit (siehe Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Januar 2020). Es ist zu befürchten, dass die Auswirkungen der in Italien besonders massiven Corona-Krise auf die Aufnahmebedingungen verheerend sind. Rund ein Drittel aller deutschen Dublin-Überstellungen gehen nach Italien. Die Bundesregierung sollte auch weiterhin keine Dublin-Überstellungen durchführen!
Zudem muss das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Asylsuchende, die Corona-bedingt nicht innerhalb der gesetzlichen Frist in andere europäische Länder abgeschoben werden konnten, ins nationale Asylverfahren übernehmen. Ein Hinauszögern der Frist aufgrund der Pandemie, um einen Übergang der Zuständigkeit auf Deutschland zu verhindern, ist europarechtswidrig. Dies hatte PRO ASYL bereits im April dargelegt und wurde nun auch vom VG Schleswig-Holstein in mehreren Verfahren entsprechend geurteilt (siehe beispielsweise hier).

Keine Abschiebungen in Drittstaaten!

Auch ist zu befürchten, dass von der Politik nun eine rasche Rückkehr zu »business as usual« bei Abschiebungen forciert wird, ohne dabei die Situation in den Zielstaaten zu berücksichtigen. Abschiebungen während der Pandemie sind auch Thema bei der Innenminister*innenkonferenz, die vom 17. bis 19. Juni in Erfurt stattfindet.
PRO ASYL, die Landesflüchtlingsräte und Jugendliche ohne Grenzen verurteilen solche Bestrebungen. Zahlreiche Länder, besonders im globalen Süden, stehen erst am Beginn einer Ausbreitung des Corona-Virus. Im Iran und Nordmazedonien droht laut Berichten je eine zweite und größere Infektionswelle, da Maßnahmen zu früh gelockert wurden. Außerdem hat die Pandemie in vielen Ländern, in die Abschiebungen durchgeführt werden, viel weitreichendere Auswirkungen als in Deutschland. Zum Beispiel:

• In Afghanistan – laut dem Global Peace Index 2019 das unsicherste Land der Welt – droht aufgrund der Einschränkungen zur Eindämmung des Corona-Virus und steigender Lebensmittelpreise eine Hungersnot;
• Ostafrikanische Länder wie Äthiopien und Somalia kämpfen nicht nur gegen COVID-19, sondern seit dem letzten Jahr bereits gegen die schlimmste Heuschreckenplage seit Jahrzenten;
• Im Irak besteht wegen der Auswirkungen des Corona-Virus die Gefahr des Erstarkens des sogenannten »Islamischen Staates«.

Deswegen erneuern die Organisationen ihre Forderung, dass es während der Pandemie ein Abschiebungsmoratorium geben muss. Da Abschiebungen nicht vertretbar sind und vielfach auch praktisch weiterhin scheitern werden, sollten die betroffenen Personen auch nicht in einem nervenaufreibenden Schwebezustand gelassen werden.
Die Bundesländer müssen mindestens für besonders betroffene Staaten Abschiebungsstopps erlassen. Die Organisationen kritisieren, dass offenbar keine genaue Prüfung der aufgrund der Pandemie geänderten Situation und Lebensumstände in den Abschiebungszielstaaten stattfindet.
Erste Sammelabschiebungen wurden bereits durchgeführt, darunter Ende Mai die einer achtköpfigen Roma-Familie mit einem behinderten Kind nach Serbien.

Die vollständigen Anliegen von PRO ASYL zur Innenminister*innenkonferenz vom 17. bis 19. Juni 2020 finden Sie hier.


Corona in Gemeinschaftsunterkünften: Behörden haben RKI-Empfehlungen ignoriert

Die Handlungsempfehlungen des Robert-Koch-Instituts, über die das ARD-Hauptstadtstudio berichtet, liegen den zuständigen Behörden auf Bundes- und Landesebene seit Wochen vor. Sie decken sich in weiten Teilen mit den Forderungen von Pro Asyl und von den Flüchtlingsräten. Ausdrücklich formuliert das RKI: „Zudem müssen die gesetzlichen Kontaktbeschränkungen des Bundes und der Landesregierungen, die als Maßnahmen gegen eine Ausbreitung der COVID-19-Pandemie in Deutschland gelten, für Menschen in GU umsetzbar sein.“ Dagegen wird nicht nur in den Erstaufnahmeeinrichtungen verstoßen, in denen nach wie vor hunderte von Menschen in Mehrbettzimmern untergebracht werden und sich teilweise mit einem ganzen Stockwerk die Sanitärräume teilen, sondern auch in etlichen kommunalen Gemeinschaftsunterkünften.

Auch die pauschale Quarantäne für alle Bewohner*innen, wie sie zum Beispiel in der Landeserstaufnahmestelle Ellwangen und auch in einer Gemeinschaftsunterkunft in Heidenheim verhängt wurde, widerspricht lange bekannten Empfehlungen des Robert-Koch-Institutes. In dem bisher unveröffentlichten Papier gibt das Robert-Koch-Institut den Behörden wichtige Handlungsempfehlungen für die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete. Das Papier zeigt deutlich, dass der Umgang von Landes- und Kommunalbehörden mit Menschen, die in Gemeinschaftsunterkünften leben müssen, vielfach untragbar ist und dem Gesundheits- und Infektionsschutz in eklatanter Weise widerspricht.
Die RKI-Empfehlungen werden aber offenbar bewusst zurückgehalten. Seán McGinley, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg: „Es ist typisch für Politik und Behörden, dass sie der wichtigsten ratgebenden Instanz im Umgang mit der Corona-Pandemie zwar in allen Bereichen folgen, aber die Empfehlungen genau dann ignorieren und unter Verschluss halten, wenn es um Geflüchtete geht.“
Das ARD-Hauptstadtstudio schreibt: „Die RKI-Experten raten etwa zu umfassender Information und Aufklärung in sämtlichen Sprachen – schriftlich und mündlich. Allen in den Unterkünften müssten die Übertragungswege des Virus und mögliche Krankheitsverläufe klar sein. Risikopatienten in den Einrichtungen müssten frühzeitig erkannt und in gesonderte Unterkünfte gebracht werden. Separate Wohneinheiten müssten vorsorglich vorgehalten werden. Im Falle eines Ausbruchs müsste es Möglichkeiten zur Isolation und medizinischen Versorgung geben. Um Ängsten und Missverständnissen vorzubeugen, müssten Ansprechpartner da sein. Einerseits müssten Kontaktpersonen von Corona-Patienten identifiziert werden. Zugleich soll aber eine gewisse Vertraulichkeit gewahrt bleiben.“
In den Handlungsempfehlungen warnt das Robert-Koch-Institut nachdrücklich vor pauschalen Quarantänen und der Abschottung ganzer Unterkünfte: „Eine Quarantäne der gesamten GU sowie das Errichten von physischen Barrieren (Zäunen) sind zu vermeiden. Durch eine Massenquarantäne wird eine vermeidbar hohe Exposition mit daraus resultierenden Risiken für alle BewohnerInnen in Kauf genommen, die den RKI-Empfehlungen zu Infektionsschutzmaßnahmen widerspricht.“
Der Epidemiologe Oliver Razum, einer der Autoren dieser Studie, kritisierte deutlich und explizit den Umgang der Baden-Württembergischen Behörden mit dem Coronavirus-Ausbruch in Ellwangen, bei dem über 400 Geflüchtete und 30 Mitarbeiter*innen nachweislich infiziert wurden. Man hätte es dort besser machen können, indem man von vornherein vermieden hätte, so viele Menschen auf engem Raum unterzubringen, so der Experte. Oder man hätte, nachdem klar war, dass eine Pandemiesituation entsteht, die Einrichtung auflösen und die Menschen dezentral in kleinen Wohneinheiten unterbringen müssen. Solche Maßnahmen hatte der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg am 19. März – also zwei Wochen vor dem ersten bestätigen Coronavirus-Fall in Ellwangen – gefordert.


Sommertagung Flüchtlingsrat Baden-Württemberg

Der Flüchtlingsrat verwandelt seine diesjährige Sommertagung zu einer digitalen Veranstaltungsreihe Anfang Juli und lädt alle Interessierten ganz herzlich dazu ein. Ohne Infektionsgefahr können Sie von zu Hause aus verschiedene Vorträge mitverfolgen und an Arbeitsgruppen teilnehmen. Die technischen Voraussetzungen werden wir noch ausführlich beschreiben, genauso wie das finale Programm und die Anmeldemodalitäten. Freuen können Sie sich auf jeden Fall schon auf den Vortrag „Brandherd Nahost und Nordafrika- die Großmächte zündeln, die EU taumelt- wer löscht?“ des Journalisten und UNO-Korrespondenten Andreas Zumach.