OVG Nordrhein-Westfalen stellt subsidiären Schutz für Syrer*innen in Frage

Laut eines Urteils des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Nordrhein-Westfalen  vom 16.07.2024 (14 A 2847/19.A) besteht für Zivilpersonen in Syrien keine ernsthafte, individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Bürgerkrieg) mehr.

Dieser Wortlaut führt zu großer Verunsicherung unter Syrerinnen und Syrern in Deutschland. Bevor aber große Panik ausbricht, sollte folgende Punkte beachtet werden:  

  • Die Entscheidung betrifft nicht Syrer*innen allgemein, sondern bezieht sich auf die spezifische Situation des Klägers. Außerdem ist das Urteil noch nicht rechtskräftig.
  • Syrer*innen, die in den letzten 13 Jahren einen Schutzstatus erhalten haben, sind von der Entscheidung nicht betroffen. An ihrer aufenthaltsrechtlichen Situation ändert sich nichts. Sie müssen keine unmittelbare Abschiebung befürchten.
  • Eingebürgerte oder Personen mit unbefristeter Niederlassungserlaubnis müssen sich keine Sorgen über den Widerruf ihres Schutzstatus machen; selbst im Falle des Widerrufs der Aufenthaltserlaubnis gibt es rechtliche Möglichkeiten der Aufenthaltssicherung.
  • Obwohl der Druck auf das BAMF und die Gerichte wächst, ändert sich für Personen mit bestehendem Schutzstatus durch das Urteil vorerst nichts. Individuelle Entscheidungen können jedoch überprüft werden.
  • Trotzdem gilt natürlich, dass das BAMF seine Entscheidungspraxis ändern könnte, was es für neue syrische Geflüchtete schwieriger machen würde, Schutz zu erhalten. Selbst wen das BAMF seine Entscheidungspraxis ändert und Gerichte dem folgen, wird voraussichtlich aufgrund der Sicherheitslage in Syrien in den meisten Fällen ein Abschiebungsverbot festgestellt werden. Auch der Kläger im genannten Urteil erhielt ein Abschiebungsverbot.

Fazit: Für schon in Deutschland befindliche Syrer*innen wird sich mit dieser Entscheidung erstmal nichts ändern. Die einseitige mediale Berichterstattung nutzten einige Politiker*innen, um die Debatte über Abschiebungen nach Syrien wieder anzufachen. Abschiebungen nach Syrien werden aufgrund der desaströsen Lage vor Ort aber vorerst keine reelle Option sein.



BumF: Stellungnahme zur Situation von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten

Im Rahmen der Evaluation des Verteilgesetzes befragt die Bundesregierung Verbände zu ihrer Einschätzung der Situation von unbegleitet Geflüchteten in Deutschland. Der Bundesfachverband unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (BumF) hat der Bundesregierung die Stellungnahme für das Jahr 2023 übergeben.

Die Ergebnisse zeigen erhebliche strukturelle Defizite in der Versorgung und Betreuung von jungen Geflüchteten, die dringend behoben werden müssen. Besonders problematisch ist die regional stark unterschiedliche Unterstützung, wodurch die Teilhabe dieser jungen Menschen zu einer „Lotterie“ wird, abhängig davon, wo sie in Deutschland ankommen. Dies betrifft alle Bereiche von der Kinder- und Jugendhilfe über die rechtliche Vertretung bis zur Schulsituation und Gesundheitsversorgung.


Zwiespalt im Umgang mit Antiziganismus: Symbolische Ablehnung und alltägliche Ignoranz

Laut dem Roma / Sinti Diskriminierungsbericht Freiburg 2024 ist die Situation in Bezug auf Diskriminierung und Rassismus gegen Roma und Sinti zwiespältig und ambivalent.  Zwar wird Antiziganismus politisch und medial auf Bundes- und Länderebene symbolisch abgelehnt und es gibt positive Entwicklungen, wie etwa die Einrichtung einer Antiziganismusbeauftragten oder die Entwicklung des gesellschaftlichen Diskurs, in dem Roma und Sinti nicht mehr als Feindbilder verwendet werden.

Im Alltag jedoch, besonders auf lokaler Ebene wie in Freiburg, zeigt sich ein Anstieg des kulturellen Rassismus. Zwar ist körperliche Gewalt selten, aber Diskriminierungserfahrungen werden oft ignoriert, besonders von lokalen Behörden. Die Stadtpolitik erkennt den Antiziganismus symbolisch zwar an, aber konkrete Fälle werden nicht ernstgenommen und geschilderte Ausgrenzungs- und Entfremdungserfahrungen der Betroffenen nicht aufgeklärt.

Zahlreiche Fallbeispiele werden im Roma / Sinti Diskriminierungsbericht Freiburg 2024 dargestellt.


Zehn Jahre nach dem Völkermord: Flüchtlingsrat fordert Schutz für Jesid*innen

Am 3. August jährt sich der Völkermord an den Jesid*innen im Nordirak zum zehnten Mal. Zu diesem Anlass fordert der Flüchtlingsrat die baden-württembergische Landesregierung auf, die Abschiebungen von Jesid*innen auszusetzen. Den Überlebenden des vom Bundestag anerkannten Völkermordes muss Schutz geboten werden.

Ein kürzlich erschienenes Gutachten zeigt: Die Lage der Jesid*innen im Irak ist düster – und wird es absehbar bleiben. In ihrer Herkunftsregion Sinjar kämpfen staatliche und nichtstaatliche Akteure rücksichtslos um Macht und Einfluss. Ungeachtet dessen schiebt Baden-Württemberg aktuell Jesid*innen in diese prekäre Sicherheitslage ab und überlässt sie dort ihrem perspektivlosen Schicksal. Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Stand April 2024) bestätigt, dass „die Zukunftsperspektiven in Sinjar angesichts herausfordernder Lebensbedingungen, der Präsenz von nicht-staatlichen Milizen sowie einer mangelnden Umsetzung des sog. Sinjar-Abkommen schwierig“ bleiben.

Die baden-württembergische Landesregierung hat 2021 im Koalitionsvertrag angekündigt, ein weiteres Sonderkontingent für besonders schutzbedürftige Personen, insbesondere Frauen und Kinder, die Opfer traumatisierender Gewalt durch den IS geworden sind, ins Leben zu rufen. Doch das versprochene Sonderkontingent lässt auf sich warten. Während mehrere Bundesländer bereits Abschiebestopps in den Irak für jesidische Frauen und Minderjährige erlassen haben schiebt die baden-württembergische Landesregierung trotz eigener Handlungsspielräume die Verantwortung auf den Bund und bleibt untätig. 

 „Wir sehen einen klaren Widerspruch zwischen den Schutzversprechen auf Landes- und Bundesebene und der aktuellen Anerkennungs- und Abschiebepraxis. Den Überlebenden des Genozids sollte eine Bleibeperspektive geboten werden. Stattdessen werden sie trotz des kollektiven Traumas zurück an den Ort des Völkermords geschickt, wo sie ehemaligen Tätern begegnen, sich ständig bedroht fühlen müssen und keine Zukunft haben. Das ist grausam und unmenschlich”, so Meike Olszak vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg.

Die prekäre Sicherheitslage im Nordirak wird sich nicht grundlegend ändern, solange der Konflikt in Syrien andauert. Für die überwältigende Mehrzahl der im Nordirak lebenden Jesid*innen heißt das: Sie müssen auch fast zehn Jahre nach dem Völkermord auf unabsehbare Zeit in irakischen Flüchtlingslagern leben, die 2014/15 als Nothilfe eingerichtet wurden. Der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes betont, dass die geplante Schließung der Flüchtlingslager in der kurdischen Autonomieregion sogar mit einer noch schlechteren Versorgung einherginge und die Situation für Jesid*innen zusätzlichen verschärfen wird. Auch eine innerirakische Fluchtalternative gibt es nicht, denn die jesidischen Familie sind auf die lebenswichtige Gemeinschaft und deren Schutz angewiesen.

 „Es ist und bleibt unverantwortlich, jesidische Männer, Frauen und Kinder in ein Land abzuschieben, in dem sie keine Lebensgrundlage haben und ihre Sicherheit fundamental bedroht ist. Daher fordern wir, dass die baden-württembergische Landesregierung Abschiebungen aussetzt und sich für einen bundesweiten Abschiebestopp für Jesid*innen einsetzt“, so Anja Bartel vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg.

Unsere Gedanken gehören den Opfern des Völkermords, den Tausenden Männern, Frauen und Kindern, die vor zehn Jahren vom IS systematisch ermordet, verschleppt und vergewaltigt wurden. Wir möchten an sie erinnern und den überlebenden Familienangehörigen, Freund*innen und Bekannten unser tiefstes Mitgefühl ausdrücken.


Pro Asyl: Zehn Jahre nach dem Völkermord

Vor dem zehnten Jahrestag des Völkermords an den Jesid*innen im Irak fordern PRO ASYL und Wadi e.V. ein Bleiberecht für Jesid*innen in Deutschland. Die Opfer des vom Bundestag anerkannten Völkermords brauchen Sicherheit. Im ersten Schritt muss endlich ein bundesweiter Abschiebestopp beschlossen werden.

„Aus Deutschland dürfen keine Opfer des Völkermords abgeschoben werden. Die Jesid*innen brauchen Sicherheit und ein Bleiberecht hier. Statt den Überlebenden dieses vom Bundestag anerkannten Genozids diese Sicherheit zu gewähren, droht die Abschiebung an den Ort des Völkermords. Es muss endlich ein bundesweiter Abschiebestopp beschlossen werden“, sagt Karl Kopp, Geschäftsführer von PRO ASYL.

Auch wenn aktuell keine neuen Abschiebungen bekannt sind, wird Jesid*innen gezeigt, dass sie in Deutschland keine Perspektive bekommen sollen. In Bayern zum Beispiel wird irakischen Geflüchteten, darunter auch Jesid*innen, systematisch die Duldung entzogen oder als ungültig gestempelt. Damit verlieren sie ihre Arbeitserlaubnis und auch die Möglichkeit, in einer eigenen Wohnung zu leben. Und auch in anderen Bundesländern werden Jesid*innen behördlich unter Druck gesetzt und ihnen werden Sanktionen wie Arbeitsverbot und Leistungskürzungen angedroht.

Flüchtlingslager im Irak sollen geräumt werden 

Mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen im Irak ist ein Abschiebestopp längst überfällig: Die Lage für Jesid*innen hat sich in den letzten Wochen verschärft. Nach dem Willen der irakischen Regierung sollen Zehntausende Jesid*innen die Flüchtlingslager im Nordirak verlassen – ohne, dass es einen sicheren Ort für sie gibt.

Konkret bedeutet das: Genau zehn Jahre nach dem Beginn des Völkermords durch den IS stehen die Jesid*innen im Irak vor einer völlig ungewissen Zukunft. Es ist unklar, ob die Lager ab August noch eine Grundversorgung erhalten, ob die Schulen in den Camps nach den Sommerferien wieder öffnen werden. Die Entscheidungen Bagdads haben schon jetzt verheerende Auswirkungen auf die Menschen.

„Grundsätzlich wäre es gut, wenn die Jesidinnen und Jesiden endlich die Lager verlassen und ein normales Leben führen könnten. Doch genau das passiert nicht: Denn die Jesidinnen und Jesiden können in ihrer Herkunftsregion Sinjar im Irak nicht sicher leben – und auch in anderen Regionen im Irak nicht. Ohne diese Camps drohen sie obdachlos, mittellos und schutzlos zu werden, zudem verlieren sie ihre Schulen und ihre Gesundheitsversorgung“, betont Shokh Mohammed von Wadi e.V.

Auswärtiges Amt: Zukunftsaussichten bleiben schwierig 

Das sieht das Auswärtige Amt ähnlich. Im aktuellen Lagebericht zum Irak (Stand April 2024) heißt es: Ungeachtet von Bemühungen, die Lage der Jesid*innen zu verbessern, „bleiben die Zukunftsperspektiven in Sinjar angesichts herausfordernder Lebensbedingungen, der Präsenz von nicht-staatlichen Milizen sowie einer mangelnden Umsetzung des sog. Sinjar-Abkommen schwierig. Auch das kollektive Trauma des Völkermords stellt für Mitglieder der Gemeinschaft häufig ein Rückkehrhindernis dar, zumal in die traditionellen Siedlungsgebiete und Orte des IS-Verbrechens in Sinjar. Die geplante Schließung von IDP Camps [IDP=Internally displaced persons] in der Region Kurdistan Irak zum 30. Juli 2024 und damit verbundene Umsiedlung in ‚informelle Camps‘ mit mutmaßlich schlechterer Versorgung würde die Lage der mehrheitlich in Camps lebenden Jesid*innen zusätzlich verschärfen.“


Hintergrund: Die Lage für Jesid*innen im Irak 

Vor zehn Jahren, am 3. August 2014, begann die Terrororganisation IS damit, jesidische Frauen, Männer und Kinder zu verschleppen, zu versklaven, zu vergewaltigen und zu töten. Seit diesem Massaker und auch weiter nach dem Sieg über den IS 2017 leben die meisten Jesid*innen noch immer in Flüchtlingslagern, weil sie wegen der prekären Sicherheitslage in ihrer Heimatregion Sinjar (Shingal) keine Möglichkeit haben, in ihre früheren Orte und Häuser zurückzukehren.

Diese IDP-Camps (Internally Displaced Persons) für die Jesid*innen liegen in den von der kurdischen Regionalregierung verwalteten Gebieten des Irak, für ihren Unterhalt ist jedoch größtenteils die irakische Zentralregierung zuständig. Diese hat angekündigt, die Unterstützung für die Camps zum 31. Juli einzustellen. Die Regierung in Bagdad will, teils mit finanziellen Anreizen, teils mit Druck, die Jesid*innen dazu bewegen, in den Sinjar zurückzukehren.

Basma Aldikhi, Mitarbeiterin von Wadi e.V. und jesidische Aktivistin, die vom IS verschleppte und missbrauchte Frauen und Mädchen unterstützt, hat beobachtet: „Die Menschen in den Camps sind überall unerwünscht, sie haben das Gefühl, dass sie von überall vertrieben und weder von Kurdistan noch vom Irak akzeptiert werden.“

In diese völlig unsichere Situation dürfen deutsche Bundesländer keine Jesid*innen abschieben. Ihr Herkunftsgebiet Sinjar liegt im strategisch wichtigen Grenzgebiet zwischen Irak, Syrien, Türkei und Iran. Dort kämpfen verschiedene staatliche und nichtstaatliche Akteure, teils mit Waffengewalt, um die Macht. Aktuell läuft im Nordirak eine erneute Militäroffensive der türkischen Armee gegen Einheiten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Auch in andere Gebiete Iraks könnten Jesid*innen nicht ziehen, denn ohne ihre Gemeinschaft sind sie schutzlos Ausgrenzung, Diskriminierung und Angriffen ausgesetzt.

Ausführlich beschrieben ist die verfahrene Situation im Gutachten „Zehn Jahre nach dem Völkermord: Zur Lage der Jesidinnen und Jesiden im Irak“, das PRO ASYL und Wadi e.V. im April 2024 veröffentlicht haben. Das Ergebnis: Ohne relevante Sicherheitsgarantien, eine jesidische Selbstverwaltung, funktionierende Strafverfolgungsmaßnahmen und Entschädigungsprozesse sowie Klärung des Status der umstrittenen Gebiete und einer Demilitarisierung kann über eine Zukunft der Jesid*innen im Irak nicht einmal ansatzweise diskutiert werden.



Förderaktion: Nachbarschaftspreis für gemeinnützige Projekte

Mit dem PSD Nachbarschaftspreis können Nachbarschaftsprojekte von Gruppen, Vereine, Schulen und Kitas  in den Förderregionen Freiburg, Stuttgart und Saarbrücken mit maximal 13.000 € Euro gefördert werden. Insgesamt stellt die Stiftung PSD L(i)ebensWert 75.000 Euro Fördersumme bereit.

Bewerben Sie sich mit einem Nachbarschaftsprojekt in den Förderregionen Freiburg, Stuttgart oder Saarbrücken. Ihre Unterstützer*innen können dann für Ihr Projekt abstimmen: Erreicht Ihr Projekt 200 Stimmen, haben Sie Ihrer Organisation 400 Euro gesichert. Knacken Sie auch 400 Stimmen, erhalten Sie sogar 800 Euro Förderung. Pro Region gibt es 12.000 Euro.

Eine unabhängige Jury vergibt in jeder Region zusätzlich 13.000 Euro an herausragende Nachbarschaftsprojekte.

Bewerbungsschluss ist der 31.10.2024.

Bei Rückfragen und für Hilfe bei der Bewerbung einfach an hilfe@psd-nachbarschaftspreis.de wenden.


Pro Asyl: Etappensieg im Eilverfahren gegen restriktive Bezahlkarte

PRO ASYL und die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) haben gemeinsam mit einer schutzsuchenden Familie vor dem Sozialgericht Hamburg einen Erfolg gegen die restriktiven Beschränkungen der Bezahlkarte erzielt. Die Eilentscheidung des Sozialgerichts Hamburg stellt klar: Die pauschale Festsetzung des Bargeldbetrages auf 50 Euro ohne Berücksichtigung der persönlichen und örtlichen Umstände der Betroffenen ist rechtswidrig. Mit der Entscheidung ist ein Schritt mehr getan, um das menschenwürdige Leben schutzsuchender Menschen in Deutschland zu sichern.

Das Hamburger Amt für Migration darf sich nach der sozialgerichtlichen Entscheidung nicht auf die Beschlussempfehlung der Ministerpräsident*innenkonferenz berufen, die im Juni dieses Jahres eine Bargeldbeschränkung von 50 Euro pro Person vereinbart hatte. Das Gericht spricht der Familie zunächst einen Bargeldbetrag von knapp 270 Euro zu.

Mehrere Klagen gegen die Bezahlkarte 

PRO ASYL und die GFF zielen derzeit mit mehreren Klagen darauf ab, die Einführung von restriktiv ausgestalteten Bezahlkarte zu stoppen, weil sie Grundrechte von Geflüchteten verletzen.

„Die Einführung einer Bezahlkarte mit erheblichen Beschränkungen missachtet die Grundrechte der Betroffenen. Die Entscheidung aus Hamburg bestätigt, dass eine pauschale Bargeldobergrenze von maximal 50 Euro für Schutzsuchende nicht haltbar ist, ohne das menschenwürdige Existenzminimum zu gefährden“, betont Lena Frerichs, Verfahrenskoordinatorin und Juristin bei der GFF. „Existenzsichernde Leistungen müssen sich an den konkreten Bedürfnissen und Umständen des Einzelfalls orientieren. Eine Mammutaufgabe für die Verwaltung – aber unabdingbar zur Wahrung der Grundrechte.“

Bezahlkarte: bürokratischer Irrsinn

„Die Bezahlkarte in Hamburg erschwert den Alltag der Betroffenen massiv. Geflüchtete können sich kaum angemessen versorgen. Günstige Onlineeinkäufe oder private Gebrauchtwareneinkäufe sind mit der Bezahlkarte ebenso wenig möglich wie der Abschluss eines Handyvertrages oder die Anmeldung im Sportverein; auch akzeptiert nicht jeder Laden die Bezahlkarte. Dass diese Unterversorgung verfassungswidrig ist, zeigt die Eilentscheidung. Die Entscheidung zeigt auch, welcher bürokratischer Irrsinn auf die Kommunen zukommt, die eine Bezahlkarte einführen wollen. Sie sollten sich dreimal überlegen, ob sie sich diese Mehrbelastung ihrer Verwaltung wirklich leisten können“, erklärt Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.

Zum Fall

Der klagenden Familie, die in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Hamburg wohnt, steht seit Einführung der Bezahlkarte pauschal ein Bargeldbetrag von 110 Euro zur Verfügung, den sie von der Bezahlkarte abheben kann. Mit diesem Betrag können die schwangere Antragstellerin, ihr Kleinkind und ihr Mann nicht die nötigen lebensnotwendigen Einkäufe tätigen, die Bargeld erfordern. Die Entscheidung des Sozialgerichts Hamburg erteilt der pauschalen Bargeldobergrenze der Bezahlkarte nun eine Absage.

Aktuelle Praxis der Bezahlkarte

Bis auf Bayern und Mecklenburg-Vorpommern haben sich die Bundesländer auf die einheitliche Einführung einer Bezahlkarte verständigt. Mit Beschluss der Ministerpräsident*innenkonferenz im Juni dieses Jahres einigten sich die Bundesländer auf eine Bargeldobergrenze von maximal 50 Euro.

Hamburg startete im Februar 2024 als erstes Bundesland mit der Bezahlkarte in Form der Hamburger SocialCard. Das Sozialgericht Hamburg stellt nun klar, dass das Hamburger Amt für Migration sich bei der Festlegung der Bargeldobergrenze nicht ohne Prüfung des Einzelfalles am empfehlenden Beschluss der Ministerpräsident*innenkonferenz orientieren darf.

In der Konsequenz bedeutet die Einführung einer Bezahlkarte mit Bargeldbeschränkungen für die überlasteten Kommunen einen erheblich größeren Aufwand als die Ausgabe einer Bezahlkarte ohne Bargeldbeschränkungen, da die Bargeldobergrenze jeweils im Einzelfall festgelegt werden muss oder Leistungen teilweise in bar ausgezahlt werden müssen.

Das Hamburger Amt für Migration kann gegen die Entscheidung des Sozialgerichts Beschwerde einlegen. PRO ASYL und die GFF gehen mit weiteren Verfahren gegen restriktive Bezahlkartenregelungen vor, die den grundrechtlichen Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum schutzsuchender Menschen missachten.

PRO ASYL finanziert diese und weitere Klagen mit dem Rechtshilfefonds, mit dem PRO ASYL jährlich Hunderte von Menschen dabei unterstützt, zu ihrem Recht zu kommen.


Pro Asyl, 24.07.24: Etappensieg im Eilverfahren gegen restriktive Bezahlkarte: PRO ASYL und GFF unterstützen klagende Familie


Forderung: Fortsetzung und Weiterfinanzierung des Bundesaufnahmeprogramms Afghanistan

In einem gemeinsamen Statement beziehen Organisationen der Zivilgesellschaft Stellung zu den Kürzungsplänen der Bundesregierung und warnen vor möglichen Folgen.

Das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan muss wie angekündigt weitergeführt und weiterfinanziert werden!

Kein Ausverkauf von aktiver Menschenrechtspolitik!

Das Fortbestehen des Bundesaufnahmeprogramms Afghanistan (BAP) steht auf der Kippe. Laut Kabinettsentwurf der Bundesregierung, der verschiedenen Organisationen vorliegt und der in einer Pressekonferenz am 17.07.2024 offiziell vorgestellt wird, soll der unter anderem für das BAP vorgesehene Etat des Bundesinnenministeriums (BMI) für das Jahr 2025 auf rund 13% des Budgets von 2024 gekürzt werden. Das würde de facto das Ende des BAP bedeuten. Dies wäre fatal und ein voreiliges Ende eines elementaren Menschenrechtsprogramms. Besonders befremdlich ist, dass der Haushaltsentwurf vorsieht, den Haushalt des BMI um 400 Millionen Euro zu erhöhen, gleichzeitig aber essentielle Mittel für humanitäre Aufnahmeprogramme zu streichen. Mit den Streichungen würden nicht nur die ressortübergreifenden Abstimmungen missachtet, sondern auch explizit im Koalitionsvertrag festgelegte Zusagen untergraben.

Die unterzeichnenden Organisationen appellieren daher an die Bundesregierung, die Mitglieder des Bundestags und insbesondere an die Haushaltspolitiker*innen:

1. Das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan muss wie geplant weitergeführt und mindestens bis Ende der Legislaturperiode vollumfänglich weiterfinanziert werden. Es muss mit dem politischen Willen ausgestattet werden, den es braucht, um die humanitäre Aufnahme gefährdeter Afghan*innen im Umfang der Aufnahmeanordnung in dieser Legislaturperiode zu ermöglichen.

2. Die Bundesregierung muss das von ihr selbst gesteckte Ziel der Aufnahme von bis zu 1.000 gefährdeten Personen im Monat – also insgesamt bis zu 36.000 Personen – weiter verfolgen und umsetzen. Dazu muss das Verfahren nicht eingestellt, sondern in allen seinen Phasen beschleunigt werden.

Insbesondere die Zustände in Islamabad, Pakistan, würden sich durch die Kürzungen dramatisch verschlimmern. Aktuell harren dort über 3.700 Personen aus, die sich bereits im Aufnahmeverfahren befinden. Weitere ca. 15.000 Personen hat die Bundesregierung bereits ausgewählt und kontaktiert, viele warten seit Monaten auf Rückmeldung. Sollten die Finanzierungen ausbleiben, würden die Menschen in Pakistan und Afghanistan ihrem Schicksal überlassen. Ihnen drohen weitere schwere Menschenrechtsverletzungen wie Verfolgung, physische und psychische Gewalt, Folter und im Fall von Pakistan auch Abschiebungen. Für besonders betroffene Personengruppen wie LGBTIQ-Personen sowie Frauen und Mädchen bedeutet dies eine direkte Existenzbedrohung. Massive Verzögerungen an der deutschen Auslandsvertretung in Islamabad werden zudem in vielen Fällen dazu führen, dass Menschen, die bereits eine Aufnahmezusage haben (Stand Juli 2024: 2.150 Personen mit Aufnahmezusage), mithilfe dieser nicht mehr ins Bundesgebiet reisen können.


Menschenrechte sind nicht verhandelbar: Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan muss bleiben

Die Bundesregierung plant, das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan (BAP) im Bundeshaushalt 2025 drastisch zu kürzen. Der Tübinger Verein move on – menschen.rechte Tübingen e.V. und weitere zivilgesellschaftliche Organisationen betonen die Wichtigkeit des Programms, warnen vor den Folgen und fordern dessen Fortsetzung. Dazu veröffentlichte der Tübinger Verein folgende Pressemitteilung.

Der Tübinger Verein move on – menschen.rechte Tübingen e.V. kritisiert das Vorhaben der Bundesregierung, das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan vorzeitig zu beenden, indem die finanziellen Mittel für das Programm im Bundeshaushalt 2025 gestrichen werden sollen. In der gestrigen Bundespressekonferenz stellte die Bundesregierung den geplanten Bundeshaushalt für das Jahr 2025 vor. Neben massiven Streichungen bei der Entwicklungshilfe, bei Sozialleistungen oder den Integrationskursen beabsichtigt die Ampelregierung auch eine vorzeitige Beendigung des Bundesaufnahmeprogramms Afghanistan. Der Verein move on, der eine von bundesweit 70 Meldestellen im BAP ist, ist entsetzt über dieses Vorhaben. „Es darf nicht geschehen, dass ein so wichtiges Menschenrechtsprogramm auf dem Altar der Migrationsdebatte, des Rechtsrucks und der „Zeitenwende“ geopfert wird“, sagt Andreas Linder, Geschäftsführer des Vereins und aktiv im Afghanistan-Hilfsprojekt „save our families“.

In einem offenen Brief schrieb der Verein an den Tübinger SPD-Bundestagsabgeordneten Martin Rosemann: Wir möchten Sie dringend auffordern, in Ihrer Partei umgehend darauf hinzuwirken, dass das Bundesaufnahmeprogramm wie im Koalitionsvertrag versprochen, mindestens bis zum Ende der Legislaturperiode weiterfinanziert und politisch durchgeführt und verteidigt wird.“

Der Verein arbeitet an etwa 250 Anträgen in diesem Programm. Etwa die Hälfte der eingebrachten Anträge, darunter für viele von den Taliban bedrohte Frauen, sind angenommen worden, doch von diesen gefährdeten Menschen ist noch niemand tatsächlich in Deutschland angekommen. „Wir können sagen, dass jeder einzelne Antrag, der in diesem Programm bewilligt wird, zur Rettung von Menschen führt, die sich in verschiedener Weise und häufig in intensiver Zusammenarbeit mit deutschen und westlichen Organisationen für Frieden, Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie eingesetzt haben. Das darf nicht vorzeitig über Bord geworfen werden“, sagt Andreas Linder. Doch offenbar plant die Regierung unter dem Druck der Opposition bis ganz rechts, das Programm noch vor Ende der Legislaturperiode durch Geldentzug ins Leere laufen zu lassen. „Dies hätte fatale Folgen für mehrere tausend Menschen, die in dem Programm bereits ausgewählt wurden, darunter viele Frauen. Diese sind im islamistischen Talibanstaat nicht nur jeglicher Rechte beraubt, sondern können aufgrund ihrer früheren Tätigkeiten oder ihrer oppositionellen Haltung zum Regime nur noch versteckt und ausgeschlossen von allem öffentlichen Leben dahinvegetieren. Es darf nicht geschehen, dass diese Menschen im Stich gelassen werden“  sagt Anna Mayer, Mitglied des Vorstands und aktiv bei der „Seebrücke“. Seit der Machtübernahme durch die Taliban hat sich die Menschenrechtslage in Afghanistan ständig verschlechtert. Dies dokumentiere sich auch an den Inhalten der immer noch zahlreich neu eingehenden Aufnahmeanfragen.

Fazit: Die Menschenrechte werden auch in Afghanistan verteidigt – oder zu Grabe getragen.


BSG: Übernahme von Krankenversicherungsbeiträge auch im AsylbLG

Das Bundessozialgericht (BSG) hat mit Urteil vom 10. März 2022 (B 1 KR 30/20 R) entschieden, dass Personen, die Grundleistungen nach § 3 und 4 Asylbewerberleistungsgesetz  (AsylbLG) beziehen und zuvor gesetzlich versichert waren, unter die sogenannte „obligatorische Anschlussversicherung“ nach § 188 Abs. 4 Sozialgesetzbuch (SGB) V fallen. Dies bedeutet, dass Grundleistungsberechtigte, die beispielsweise aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse waren oder über die Familie versichert waren, weiterhin in der gesetzlichen Krankenversicherung bleiben. Sie fallen also nicht in die Notfallmedizin gemäß § 4 AsylbLG zurück.

Doch dann stellt sich oft die Frage, wer die monatlichen Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge übernimmt. In Baden-Württemberg übernehmen die Sozialämter die Beiträge nicht. Das Justizministerium ist nämlich der Auffassung, dass die Übernahme der GKV-Beiträge nach § 6 AsylbLG weder zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich sein würde. Im Gegensatz dazu werden in Rheinland-Pfalz die Beitragszahlungen über § 6 AsylbLG übernommen, „da diese Leistung zur Sicherung der Gesundheit – mit Rücksicht auf die überragende Bedeutung des Schutzes der Gesundheit als zentrale Teilkomponente des Soziokulturellen Existenzminimums (BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 18. Juli 2012 – 1 BvL 10/10 – , Rn. 64) – unerlässlich ist.“

Damit sich Grundleistungsbezieher*innen nicht verschulden, um die GKV-Beiträge zu zahlen, müssen sie rechtliche Schritte einleiten: Antrag auf Übernahme bei der Leistungsbehörde, Widerspruch nach der Ablehnung einlegen und bei erneuter Ablehnung vor den Sozialgerichten klagen. Dabei hilft dieser Musterschriftsatz (auch als Widerspruch nutzbar, wenn er angepasst wird).