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Studie: Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Frauen

Geflüchtete Frauen müssen viele Hindernisse überwinden, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Die Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt, dass nach einem Aufenthalt von fünf Jahren und mehr nur 27 % der Frauen erwerbstätig sind. Dagegen haben 61 % der Männer Arbeit gefunden.

Dies liegt unter anderem daran, dass doppelt so viele Frauen wie Männer in Haushalten mit (kleinen) Kindern leben und die Hauptverantwortlichen der häuslichen Sorge sind. Deshalb können sie, wenn überhaupt, erst später in Qualifizierungs- und Beratungsmaßnahmen einsteigen. Auch sind Frauen tendenziell eher in Arbeitsfeldern beschäftigt, in denen die Sprache eine große Rolle spielt, zum Beispiel im Bildungs- oder Gesundheitsbereich. Hier sind für den Berufseinstieg u.a. vertiefte Sprachkenntnisse notwendig und diese Qualifikationen müssen erst erlangt werden. Viele Männer arbeiten in der Industrie oder im verbarbeitenden Gewerbe, wo weniger Sprachkenntnisse genügen und der Berufseinstieg einfacher ist.


Umsetzung des EuGH-Urteils zu syrischen Wehrdienstverweigerern

Auch nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 19.11.2020 (C-238/19) ändert das BAMF seine Entscheidungspraxis zu syrischen Kriegsdienstverweigerern nicht und lehnt Asylfolgeanträge als unzulässig ab.

Folgeanträge, die sich auf das EuGH-Urteil beziehen, werden, wie es das BAMF schon im Entscheiderbrief 12/2020 angekündigt hatte, als „unzulässig“ abgelehnt. Das BAMF begründet dies damit, dass sich durch das Urteil keine Änderung der Rechtslage ergeben und sich auch die Sachlage nicht verändert habe. Der EuGH hatte allerdings in einem Urteil vom 14.5.2020 (Az. C-924/19 PPU) zu einem anderen Sachverhalt festgestellt, dass ein Folgeantrag nicht als unzulässig abgelehnt werden darf, wenn sich dieser auf eine Entscheidung des Gerichtshofs stützt, aus welcher sich die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Ablehnung des ersten Asylantrags ergibt. In einem solchen Fall sei die Entscheidung, auf die der Folgeantrag gestützt wird, vielmehr als neues Element bzw. neue Erkenntnis anzusehen. Ob sich mit diesen Erwägungen, die Zulässigkeit der Folgeanträge begründen lässt, ist noch offen.

Insgesamt sind die Chancen, im Klageverfahren aufgrund der Kriegsdienstverweigerung die Flüchtlingseigenschaft zugesprochen zu bekommen, unklar. Sehr wahrscheinlich ist, dass sich die Klageverfahren lange Zeit hinziehen werden. Personen, die sich dennoch die Chance auf den besseren Status erhalten möchten, können gegen einen ablehnenden BAMF-Bescheid klagen. Die Klagefrist beträgt zwei Wochen ab Zustellung der negativen BAMF-Entscheidung.

Für Syrer in Baden-Württemberg, die gegen die Unzulässigkeitsentscheidung des BAMF klagen möchten, hat die Beratungsstelle Plan.B mithilfe des Anwalts Manfred Weidmann ein Onlineportal erarbeitet, über das Schriftsätze für Klagen erstellt werden können. Das Portal erstellt nach Eingabe automatisch die Klage, die dann nur noch fristgerecht beim zuständigen Verwaltungsgericht eingereicht werden muss. Das Portal ersetzt aber keine Beratung durch eine Beratungsstelle oder eine*n Anwalt*Anwältin. Wer eine mithilfe des Portals automatisch erzeugte Klage eingereicht hat, sollte unbedingt eine ausführliche und individuell begründete Klagebegründung nachreichen, warum im konkreten Fall aufgrund von Kriegsdienstverweigerung mit einer Verfolgung durch die syrische Staatsgewalt gerechnet werden muss. Dafür wird in der Regel ein*e Anwalt*Anwältin benötigt.

In manchen Konstellationen sollte die Klage nicht auf die EuGH-Entscheidung gestützt werden. Dies betrifft beispielsweise minderjährig eingereiste Syrer. Bei ihnen liegt zwar eine veränderte Sachlage vor, die einen Asylfolgeantrag rechtfertigt, wenn sie eben jetzt der Wehrpflicht unterliegen und diesen aus politischen Gründen verweigern. Die Entscheidung des EuGH bezog sich aber auf Wehrdienstverweigerer aus dem Jahr 2017, in dem sich die Lage in Syrien anders darstellte als heute. Deshalb ist es ratsam, dass sich alle Betroffenen von Beratungsstellen oder Anwält*innen in ihrer Nähe beraten lassen. Dabei ist der Zeitdruck nicht so extrem, wie man zunächst meinen würde. Zur Fristwahrung kann (und sollte) die Klage nämlich auch ohne Anwalt*Anwältin erhoben werden. Stellt sich dann nach einer Beratung heraus, dass die Klage keinen Erfolg verspricht, kann diese problemlos zurückgenommen werden.

Übrigens haben 13.580 syrische Geflüchtete zwischen Dezember 2020 und Februar 2021 einen Asylfolgeantrag gestellt, das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der LINKEN hervor (die Antwort enthält auch Zahlen zu (Aufstockungs-)klagen und zum Familiennachzug von Syrer*innen). Dabei ist anzunehmen, dass sich die meisten Asylfolgeantragsteller auf das oben genannte EuGH-Urteil berufen. Dass das BAMF seine Entscheidungspraxis bisher nicht geändert hat, zeigen auch die Anerkennungsquoten in Asylverfahren. So erhielten 2020 erwachsene Syrer nur zu 5,6 % die Flüchtlingseigenschaft, 71 % aber den subsidiären Schutzstatus.

Welche Konsequenzen die EuGH-Entscheidung auf die Rechtsprechung hat, zeigte sich in Baden-Württemberg bereits an einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg. Dieser folgerte aus dem EuGH-Urteil, dass nicht unterschiedslos jedem Syrer im wehrpflichtigen Alter „automatisch“ die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Am 4.5.2021 wird sich weiter zeigen, wie sich die EuGH-Entscheidung auf laufende Verfahren auswirkt. Dann nämlich verhandelt der VGH BW die Berufungen von drei Syrern, die sich der Wehrpflicht entzogen haben.


EU-Außengrenzen: Kriminalisierung von Geflüchteten

In Malta droht aktuell drei jungen Geflüchteten eine lebenslange Haftstrafe, auf Lesbos wurden zwei Minderjährige zu fünf Jahren Haft verurteilt. Schutzsuchende werden an den europäischen Außengrenzen kriminalisiert, während Politiker*innen straflos menschenunwürdige Lager, rechtswidrige Push-Backs und die Aussetzung rechtsstaatlicher Mindeststandards in Asylverfahren veranworten bzw. hinnehmen.

Malta: Im März 2019 dolmetschten drei junge Geflüchtete für die Besatzung eines Frachtschiffes, welches 100 Geflüchtete gerettet hatte. Sofort nachdem das Schiff am Hafen von Malta anlegte, wurden die drei Männer, von denen zwei zu dem Zeitpunkt noch minderjährig waren, festgenommen. Seitdem befinden sich aller drei in einem Ermittlungsverfahren u.a. wegen Terrorismus.

Lesbos: Am 9. März 2021 wurden auf Lesbos zwei Minderjährige schuldig gesprochen und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Ihnen wurde Brandstiftung im Lager Moria sowie die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Ein Urteil erfolgte innerhalb weniger Stunden, trotz Mangel an Beweisen. 

Diese beiden Prozesse stehen beispielhaft für den sicherheitspolitisch geprägten Diskurs, die sich auf die Rechtsprechung auswirkt und aus Schutzsuchenden böswillige Täter macht.


Heidelberger Bürgerentscheid: Keine Verlegung des Ankunftszentrums für Flüchtlinge

36.000 Heidelberger*innen haben per Briefwahl über die Verlegung des Ankunftszentrums in die „Wolfsgärten“ abgestimmt. Mit einer deutlichen Mehrheit lehnten 70 % die Verlegung ab. Gründe dafür sind unter anderem die abgelegene Lage zwischen dem Autobahnkreuz Heidelberg und einer Bahntrasse in einer Kaltluft-Schneise. Dort würden Geflüchtete menschenunwürdig untergebracht und sozial isoliert, denn Begegnungen und Austausch wären verunmöglicht. Die Entscheidung ist bindend und es muss nun ein neuer Standort gesucht werden.


Online-Seminar:„Neue Asylgründe nach beendetem Asylverfahren? Der Asylfolgeantrag“

In dieser Veranstaltung geht es um den Asylfolgeantrag, als Möglichkeit für Geflüchtete neue Asylgründe geltend zu machen, wenn das vorangegangene Asylverfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen ist. Dabei wird nicht nur der Asylfolgeantrag, sondern auch der isolierte Wiederaufgreifensantrag vorgestellt. Es wird eine Einführung zu den Verfahren und ihren Voraussetzungen geben und überblicksartig auf verschiedene Konstellationen eingegangen.

Die Infoveranstaltung richtet sich in erster Linie an ehrenamtlich Engagierte in der Flüchtlingsarbeit. Sie wird mit Zoom durchgeführt und die Teilnehmenden erhalten die Zugangsdaten nach Anmeldung (siehe unten) einen Tag vor dem Seminar. Datenschutzhinweise für das online-Seminar via „Zoom“ finden Sie hier.

Referentin: Maren Schulz (Flüchtlingsrat Baden-Württemberg)

Das Online-Seminar findet im Rahmen des Projekts „Aktiv für Flüchtlinge“ statt, gefördert vom Land Baden-Württemberg, Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration mit Unterstützung der UNO Flüchtlingshilfe und der Deutschen Postcode-Lotterie.

Die Anmeldung ist geschlossen.


Landesweiter Protesttag richtet Forderungen an neue Regierung

In insgesamt neun baden-württembergischen Städten fanden an diesem Wochenende Protestaktionen des Bündnis Sicherer Hafen Baden-Württemberg statt. Das an die Grünen gerichtete Motto: „Ans Ganze denken, heißt an ALLE denken“ wurde dabei mit einem offenen Brief vom Bündnis an die Partei unterstrichen.
Ines Fischer von der Seebrücke Baden-Württemberg: „Der heutige Aktionstag sowie der offene Brief zeigen, dass wir als Zivilgesellschaft mit den Ergebnissen, die aus den Sondierungsgesprächen zwischen CDU und Grünen bekannt wurden, nicht einverstanden sind. Die Grünen, die viele progressive Positionen im Bereich der Migration in ihrem Wahlprogramm vertreten hatten, müssen sich als stärkste Kraft deutlicher gegen die Blockadehaltung der CDU durchsetzen.“
Sean McGinley vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg: „Die Politik der vergangenen 5 Jahre darf sich einfach nicht fortsetzen. Baden-Württemberg muss seiner Verantwortung für geflüchtete Menschen an den Außengrenzen, sowie der Schutzsuchenden im Land endlich gerecht werden.“
Henri Dubois von der Seebrücke Baden-Württemberg: „Wir brauchen ein Landesaufnahmeprogramm für die gestrandeten Menschen an den EU-Außengrenzen. Wir brauchen ein Umdenken darin, Menschen in einer Pandemie in Sammelunterkünften unterzubringen und wir brauchen eine Kehrtwende beim Bleiberecht.“
Das Bündnis Sicherer Hafen Baden-Württemberg hat über 180 unterstützende Initiativen im Land und hat sich zum Ziel gemacht das Land zu einem sicheren Hafen zu machen. Dazu gehören neben einem Landesaufnahmeprogramm, langfristige Bleiberechte, keine Beteiligungen an Frontex-Einsätzen und die Schließung der Pforzheimer Abschiebehaftanstalt.


„Ans Ganze denken, heißt an ALLE denken!“ Landesweite Protestaktionen für den sicheren Hafen BW

  • Das landesweite Bündnis Sicherer Hafen Baden-Württemberg demonstriert am kommenden Samstag, den 10.04., vielerorts vor den Parteizentralen der Grünen.
  • Mahnung an die Grünen die Versprechen aus dem Wahlkampf zu halten.

Das Bündnis Sicherer Hafen Baden-Württemberg ruft auch nach den Landtagswahlen wieder zu Protestaktionen auf, die eine solidarischere Politik im Umgang mit geflüchteten Menschen von der neuen Landesregierung einfordern. Am kommenden Samstag, den 10.04., soll es an mehreren Orten im Land Protestaktionen unter dem an die Grünen gerichteten Motto: „Ans Ganze denken, heißt an ALLE denken.“ geben.
Seán McGinley vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg sagt: „Nun führen die Grünen als klarer Wahlsieger wohl die Koalition fort, die in den vergangenen fünf Jahren für eine inhumane Abschottungspolitik des Landes stand. Die Ausrede seitens der Grünen, dass diese Politik nur an der Koalitionspartnerin CDU liegen würde, zählt nun nicht mehr.“
Henri Dubois von den Seebrücken Baden-Württemberg führt aus: „Wir sind heute landesweit auf den Straßen und vor Parteibüros der Grünen, um ein Zeichen zu setzen, dass wir es nicht ohne Widerspruch akzeptieren werden, dass unsere wichtigen Forderungen in den Koalitionsgesprächen fallen gelassen werden.“
Das Büdnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg hatten in ihrem Landeswahlprogramm die Forderung das Land zu einem sicheren Hafen zu machen aufgegriffen. In einem ersten Papier zu den Ergebnissen der Sondierungsgespräche mit der CDU tauchen jetzt nur noch wenige der konkreten Forderungen auf.
Ines Fischer von den Seebrücken Baden-Württemberg bekräftigt den Satz: „Menschlichkeit und Solidarität dürfen niemals bei einer Koalition enden, sondern müssen immer Zentrum und Grundlage politischen Handelns sein. Das erwarten wir, über 30 baden-württembergische Kommunen, die sich zum sicheren Hafen erklärt haben, über 180 Initiativen, die unsere Kampagne unterstützen und tausende Bürger*innen von der neuen Landesregierung. Baden-Württemberg muss zum sicheren Hafen werden!“
Die konkreten Forderungen des Bündnis finden Sie in dem offenen Brief, welcher im vergangenen Dezember an die alte Landesregierung übergeben wurde. Abrufbar unter: https://www.sichererhafen-baden-wuerttemberg.com/offener-brief-an-die-landesregierun
Auflistung aller Aktionen :
Bad Waldsee, Rundweg am Stadtsee, 12-14 Uhr
Esslingen, Bahnhofstr. 31, 10-14 Uhr
Freiburg, Platz der Alten Synagoge, 12 Uhr
Heidelberg, Theodor-Heuss-Brücke
Mannheim, Marktplatz 16-20 Uhr
Reutlingen, Marktplatz, 17 Uhr mit Protestcamp im Anschluss
Stuttgart, Karlsplatz, 16 Uhr
Tübingen, Karlstr. 11, 11-18 Uhr


Aufruf: Erfahrungsberichte über die Auswirkungen der Pandemie auf das Leben Geflüchteter in BW

Liebe Beratungsstellen und Initiativen in der Flüchtlingsarbeit,

die Pandemiesituation führt vielerorts – insbesondere in den Gemeinschaftsunterkünften – zu zusätzlichen Bedarfen und Missständen. Neben Hygieneartikeln (Masken, Desinfektionsmittel) sind Schüler*innen im Home-Schooling auf WIFI, Laptops und Ruheräume angewiesen. (Zwangs-) Quarantäne, mangelnde Aufklärung und die Impfkampagne werfen immer wieder Fragen auf.

Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg möchte diese Bedarfe im Land Baden-Württemberg zunächst themenorientiert sammeln, um sich einen Überblick über die durch die Pandemie entstandenen Probleme zu verschaffen und Handlungsbedarfe zu identifizieren.

Dabei sind wir auf Ihre Mithilfe angewiesen. Daher würden wir uns freuen, wenn Sie diesen Fragebogen ausgefüllt an pfeiffer@fluechtlingsrat-bw.de zurück senden würden.

Vielen Dank für Ihre Unterstützung!


Auszubildende gesucht

Zum 01.09.2021 sucht die Deutsche Bahn an den Standorten Offenburg,
Rottweil & Haltingen noch Azubis für die 3-jährige Ausbildung zum
Gleisbauer/Gleistechniker (w/m/d).

Es gibt ein großes Interesse daran, Geflüchtete einzustellen, die
folgende Voraussetzungen mitbringen:

* Mind. B2 Sprachniveau (Nachweis via Zertifikat)
* Deutscher Hauptschulabschluss oder anerkanntes & übersetztes
Zeugnis
aus dem Herkunftsland
* Mind. befristete Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung

Bei Rückfragen dürfen Sie sich gerne an Frau
Schädler unter 0711 2092 5755 wenden.


8.April: Internationaler Tag der Roma

Feiern und politisch sein

Ob in San Francisco, Belgrad, Straßburg, Waldkirch oder Mannheim – in aller Welt begehen viele Roma am 8. April den Internationalen Tag der Roma. Mancherorts organisieren Engagierte Kundgebungen, Gedenkveranstaltungen, Vorträge, Lesungen und Gesprächsrunden. Denn dieser Tag wird auch für eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Lebensumstände von Roma genutzt, gleichberechtigte Teilhabe wird eingefordert. Ein Rom erläuterte hierzu: „Wir wollen damit auch unsere Jugendlichen erreichen und die Leute aufwecken.“ Doch durch die Pandemie ist das Feiern und Abhalten von Kundgebungen nun sehr schwierig bis unmöglich geworden, Alternativen sind gefragt.

Von Adem Ademi und Manuel Werner vom Netzwerk Pro Sinti & Roma

Prägend für den Welt-Roma-Tag ist traditionell das Feiern, das eng verknüpft ist mit dem Bewusstsein, stolz zu sein auf das reiche kulturelle Erbe und die soziale Vielfalt der Roma. Daher konnte man in vorpandemischen Zeiten auch Poesie, Musik, Tänze oder Theateraufführungen aufführen oder erleben. Mancherorts legen Romnja und Roma Blumen oder Blütenblätter in Flüsse, Seen und Meere und lassen sie schwimmen. Symbolisch bringen sie damit am „Romano Dives“ – am Welt-Roma-Tag – die Verbundenheit und Solidarität mit Roma in allen Teilen der Welt zum Ausdruck.

Eine internationale Bewegung gegen Ausgrenzung und Benachteiligung

Schon dadurch wird klar: Der 8. April ist ein wichtiger Tag für viele Roma und Sinti, die in ihren Heimatstaaten jeweils nationale Minderheiten sind. Und er ist ein guter Tag der Erinnerung, im Gegensatz zum 2. August, dem Internationalen Gedenktag der Sinti und Roma an den Völkermord an ihnen in Auschwitz-Birkenau und anderswo. Denn am 8. April fand im Jahr 1971 der erste Internationale Roma-Kongress in Orpington bei London statt. Organisiert vom damals so genannten „Comité International Tsigane“ thematisierten Delegierte aus verschiedenen europäischen Ländern die benachteiligenden Bedingungen, unter denen die meisten Sinti und Roma im Nachkriegseuropa lebten. Adem Ademi vom Netzwerk Pro Sinti& Roma ist es wichtig, klar zu machen, dass der Romatag nicht nur dem Feiern dient: „Er steht in Zusammenhang mit einer internationalen Bewegung, einer politische Bewegung!“

Netzwerk Pro Sinti & Roma

Das Netzwerk Pro Sinti & Roma ist ein Austausch- und Hilfsnetzwerk, in dem unter der Leitung und Koordination von Kemal Ahmed (k.ahmed@ksew.de) mittlerweile Haupt- und Ehrenamtliche von Lörrach über Mannheim bis Nürtingen zusammenarbeiten. Kemal Ahmed: „Die Anlaufstellen bieten Beratung an. Neben der Koordination bin ich außer für Waldkirch auch für Breisgau und den Hochschwarzwald tätig, Adem Ademi für Lörrach/Rheinfelden, Slavica Husseini im Raum Mannheim/Karlsruhe sowie Michaela Saliari und Manuel Werner für Nürtingen und Umgebung. Wir sind interessiert daran, weitere Ansprechpartner und Anlaufstellen zu gewinnen.“ Das Netzwerk möchte auch gerne Synergieeffekte mit ähnlichen Initiativen, Verbänden und Organisationen zum Vorteil der Zielgruppe nutzen.

Größte ethnische Minderheit in Europa und EU

Ein wichtiges Anliegen des damaligen internationalen Roma-Kongresses war es, Fremdbezeichnungen wie „Zigeuner“, „Cigáni“, „Tsiganes“ oder „Gypsies“ als generelle Bezeichnung entschieden abzulehnen. Doch welcher Begriff sollte diese als diskriminierend empfundenen Fremdbezeichnungen ersetzen? Der Kongress entschied sich für die Selbstbezeichnung „Roma“. Darauf aufbauend wird das Wort „Roma“ seitdem von vielen als der Oberbegriff für Bevölkerungsgruppen gewählt, deren Sprache „Romanes“ beziehungsweise „Romani“ Bezüge einer lange zurückliegenden sprachlichen Herkunft aus dem indischen Subkontinent birgt, denn es gibt einige sprachliche Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten zwischen dem Sanskrit und der Roma-Sprache. Spätestens ab dem 14. Jahrhundert lebten Roma in Südosteuropa, die aus Kleinasien kamen. Das ist schon mehr als sechs Jahrhunderte her, Amerika war noch nicht von Christoph Kolumbus betreten. Wegen einer angenommenen „indischen Herkunft“ gibt es keinen Anlass, ein „Fremdsein“ aufzubauen, und dadurch zu verdecken, dass Roma seit vielen Jahrhunderten Mitbürger und ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Zivilisation und Kultur sind. Manuel Werner vom Netzwerk Pro Sinti & Roma veranschaulicht: „Daher ist es völlig verfehlt, wenn die dortige Dominanzbevölkerung beispielsweise eine von Roma mangels angemessener Perspektiven bewohnte Elendssiedlung bei Novi Sad in Serbien Bangladesch nennt, in dortiger Schreibweise „Bangladeš“!

Vielfalt – keine homogene Gruppe

Auch wenn sich der Begriff „Roma“ international gesehen bei vielen als stimmiger Oberbegriff etabliert hat, so gilt dies zwangsläufig nicht für alle. Zum Beispiel legen etliche Sinti Wert darauf, von anderen Roma-Gruppen oder von „Roma“ unterschieden zu werden. Im deutschsprachigen Raum ist daher „Sinti und Roma“ oder „Roma und Sinti“ ein übliches Begriffspaar, das ebenfalls dem Willen entspringt, diskriminierende Fremdbezeichnungen durch Eigenbezeichnungen zu ersetzen. Wie bei vergleichbaren Minderheiten ist es auch hier verfehlt, von einer homogenen Gruppe auszugehen. Auch deswegen ist es geradezu normal, dass es hierzu bei den nationalen Minderheiten – und innerhalb von ihnen – verschiedene Ansichten und Praktiken gibt.

Roma haben eine Flagge und eine Hymne

Als Ziel steckte der Roma-Kongress sich nichts weniger als die Emanzipation der Roma auf der lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Ebene. Er entschied sich für eine eigene Flagge. Das Blau in ihrer oberen Hälfte steht für den Himmel. Das Grün in deren unteren Hälfte repräsentiert die Erde mit ihren grünen Pflanzen. In der Mitte prangt ein rotes Chakra, das Rad, das auch in der indischen Flagge zu finden ist, dort allerdings in Blau. Als Hymne wählte der Roma-Kongress das Lied „Djelem, Djelem“. Die Melodie war schon vorhanden. Der Liedtext für die Hymne stammt von Žarko Jovanović. Manuel Werner: „Dieser Text erinnert auch an den Völkermord an hunderttausenden Roma und Sinti durch die – wie es dort wörtlich ins Deutsche übersetzt heißt – ‚Schwarze Legion‘, sei es durch die kroatische Terror-Miliz Ustascha, durch die SS oder die Wehrmacht. Denn das NS-Regime wütete in Europa außer in Deutschland in vielen weiteren Ländern wie zum Beispiel in Serbien. Aus damals und auch später sogenannten rassischen Gründen ermordeten die Nationalsozialisten Sinti und Roma genauso wie Juden, vom Baby bis zum Greis.“ Die letzte Strophe der Hymne endet – auf Romanes – mit: „Jetzt ist die Zeit, steht auf Roma, jetzt / Wir steigen hoch, wenn wir handeln.“

Gesellschaftliche und politische Selbstbefreiung

Die ersten Versuche der Roma-Emanzipation begannen in den osteuropäischen Ländern, zum Beispiel in Bulgarien bereits 1949. Der Roma-Kongress von 1971 war ein internationaler Meilenstein und löste weiteres bürgerrechtliches Engagement aus. Unter dem Motto „Opre Roma!“ – auf Deutsch: „Erhebt Euch, Roma!“ – begann ein Ringen um soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, wobei dies genauso wie das Abbauen des Antiziganismus auch Aufgabe der Dominanzbevölkerung ist. Es kam zur Gründung weiterer politisch aktiver Roma-Organisationen innerhalb und außerhalb Europas. Am 2. Roma-Weltkongress in Genf 1978 nahmen bereits fünfzig Roma-Organisationen aus ganz Europa, den Vereinigten Staaten, Indien und Pakistan teil. Die internationale Anerkennung der Roma-Bewegung gewann durch die Unterstützung Indiens neue Impulse. Der 3. Roma-Weltkongress fand 1981 in Göttingen statt. In Deutschland war die Anerkennung des NS-Völkermords als staatlich organisierter Gewaltakt an den Sinti und Roma wie auch die Anerkennung als nationale Minderheit ein langwieriger Prozess. Der NS-Völkermord an Sinti und Roma wurde erst 1982 unter Kanzler Helmut Schmidt als solcher anerkannt. Seit 1989 sind Roma in mehreren osteuropäischen Ländern zunehmend in kommunalen und nationalen politischen Gremien vertreten. Der 4. Welt-Roma-Kongress, der 1990 in Serock, Polen, stattfand, führte den internationalen Aktionstag der Roma ein. Inwiefern sind die Ziele dieser Kongresse und Aktionen aktuell erreicht? Zahlreiche Empfehlungen des Europarats und der Europäischen Union sind bislang nicht in wichtige Maßnahmen umgesetzt worden! Adem Ademi führt hierzu aus: „Gerne feiern Roma das im Jahr 1971 Erreichte und das bisherige Engagement. Gab es jedoch innerhalb des nun halben Jahrhunderts seitdem irgendeinen Fortschritt, den man feiern könnte? Ein reflektierender Blick zurück zeigt, dass sich am Ende des letzten Jahrhunderts das politische Engagement in ein kulturelles Engagement entwickelte. Eine zivilgesellschaftliche Bewegung und eine Zusammenarbeit mit Behörden erfolgte sehr spät und nicht überall, nur sporadisch in einigen wenigen Ländern. In allen möglichen Bereichen herrschen immer noch tradierte Vorurteile, negative Stereotype und Diskriminierung vor. Statt Integration der Roma in die Gesellschaft haben wir Integration von Rassismus in Behörden, Antiziganismus – eine virulente Form des Rassismus gegen Roma – und starke Ressentiments.

Von 2008 bis 2020 haben sich politische Verpflichtungen mit unterschiedlichen Strategien und

Aktionspläne entwickelt, die einigen Roma Hoffnung gab, während Rechtsextremisten die Hassrate gegenüber der am stärksten marginalisierten Gruppe in Europa erhöhten.

Leider blieben alle Strategien deklarativ, da keine signifikanten Veränderungen im Leben der durchschnittlichen Roma festzustellen sind. Auffällig ist die zunehmende Zahl gebildeter Roma und eine stärker organisierte Bewegung der Zivilgesellschaft. Politische Partizipation kann als dekorativ oder fast gar nicht vorhanden bezeichnet werden, weil keine oder kaum politische Veränderungen zu sehen sind, die von Roma initiiert wurden, sondern eher Diskussionen und Debatten. Fünfzig Jahre nach dem ersten Roma-Kongress wird die Hoffnung auf Anerkennung und Akzeptanz stärker. Die Roma-Sprache wird wegen der Assimilation weniger gesprochen, die Roma-Kultur verschwindet oder passt sich dem Zeitgeist an.“

Stellungnahme und Einsatz auch für geflüchtete Roma

Kemal Ahmed, der Leiter und Koordinator des Netzwerks Pro Sinti& Roma gibt zu bedenken: „Für unsere Organisation, das Netzwerk Pro Sinti & Roma, ist es wichtig, dass wir auch für die geflüchteten Roma Stellung beziehen. Auf die wegweisende erste Anhörung sind viele geflüchtete Roma nicht vorbereitet und erhalten dafür keinerlei Unterstützung. Am laufenden Band werden sie anschließend mit vorgefertigten Textbausteinen in den Schreiben abgelehnt, auf Fluchthintergründe wird dort in der Regel nicht eingegangen.“ Michaela Saliari vom Netzwerk Pro Sinti& Roma veranschaulicht: „Ein Beispiel für eine unmenschliche Abschiebepolitik unseres Landes Baden-Württemberg ist der Tod des Rom Sali Krasniqi fünf Monate nach seiner Abschiebung aus Deutschland in den Kosovo. Ich war kürzlich in Biberach auf der für ihn abgehaltenen Trauerfeier. Dieser Tod hat auf tragische Weise verdeutlicht, wie dringend die Forderung nach einem Abschiebungsstopp in der Pandemie und nach wirksamen Bleiberechtsregelungen ist, gerade für Personen, die seit vielen Jahren oder gar Jahrzehnten hier leben. Sali Krasniqi floh mit seiner Frau Mire vor über 28 Jahren nach Deutschland vor dem Krieg in Jugoslawien. Sie suchten nach einem friedlichen Leben, ohne Angst für ihre damals fünf Kinder. Nach über 28 Jahren Leben in Deutschland wurde er aus Oberschwaben mit seiner Frau ‚zurück‘ in ein ihnen fremd gewordenes Land abgeschoben. Und das in der gegenwärtigen Pandemie und trotz lebensgefährdender Erkrankungen!“ In Deutschland hatten sie sich während der Pandemie in eine warme und trockene Wohnung zurückziehen können, im Kosovo waren die Wohnbedingungen nicht so. Sali Krasniqi lag im Kosivo mit Corona-Infizierten im selben Krankenhaus-Zimmer. Dort gab es nicht einmal Schutzmasken. Er starb. Solidarische Aktionen von lokalen wie überregionalen Unterstützenden haben bewirkt, dass seine Frau Mire G. wieder einreisen darf, nachdem eine Petition gestartet wurde, die bis heute über 40.000 Menschen unterstützen. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie wirksam eine breite Öffentlichkeitsarbeit sein kann. „Wir steigen hoch, wenn wir handeln!“ So unterstützt das Netzwerk Pro Sinti & Roma, die geflüchtet sind, zum Beispiel mit Dolmetschen wie dies Slavica Husseini vom Netzwerk Pro Sinti & Roma auch jetzt über Videoschaltungen macht: „Gerade wenn ich wie jetzt wegen des Lockdowns nicht in die Unterkünfte der Geflüchteten gehen kann, ist dies eine gute verbleibende Hilfestellung, die ich von zu Hause ausüben kann!“, so Slavica Husseini.

Leben im Verborgenen, aber auch Selbstbewusstsein

Doch das Netzwerk Pro Sinti & Roma ist genauso für diejenigen Roma und Sinti da, die schon seit Jahrhunderten hier leben oder seit den 60er und 70er Jahren, als hierzulande händeringend Arbeitskräfte gesucht wurden – falls diese Beratungsbedarf haben. Adem Ademi schätzt: „Neunzig Prozent der Roma in Deutschland wollen nicht sagen, dass sie Roma sind, auch wenn sie zum Beispiel Ingenieure sind!“ Slavica Husseini bestätigt dies: „Mein Vater wirkte während meiner Kindheit stark auf mich ein, dass ich ja nie sage, dass ich Romni bin und ja nirgends in der Öffentlichkeit Romanes rede. Er hatte begründete Angst davor, dass ich deswegen benachteiligt werde. So etwas kann das ganze Leben lang prägen. Doch heutzutage oute ich mich als Romni und wem das nicht passt, dass ich Romni bin, so stehe ich voller Stolz drüber . Und ich setze mich aktiv für gleichberechtigte Teilhabe ein – auch für geflüchtete Romnja und Roma.“

Weithin ausgegrenzt auch in europäischen Staaten

Kemal Ahmed: „Das Netzwerk Pro Sinti & Roma weist auch auf die Lage von Roma in anderen europäischen Staaten hin, die teils ohne Wasser und Strom leben müssen und weithin diskriminiert und ausgegrenzt, ja teils auch verfolgt werden.“

Der Internationale Tag der Roma bietet Chancen, einen Zugewinn an Freiheit und Gleichheit bewusst zu machen und weiter daran zu arbeiten. „Es war ein schönes Gefühl, auch mal unter ganz vielen Roma zu sein und das nicht verstecken zu müssen“, sagte eine Romni auf einem Roma-Tag in Düsseldorf vor Jahren – als die Pandemie hierbei noch keine Einschränkungen nötig machte. Somit ist noch viel zu tun.

Rückfragen zum Netzwerk Pro Sinti & Roma:

Kemal Ahmed, Kirchplatz 9, 79183 Waldkirch (Zentrale Koordination Waldkirch), k.ahmed@ksew.de

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