EuGH-Generalanwalt: Zusammenlegung von Strafgefangenen und Abschiebehäftlingen europarechtswidrig

Pressmitteilung Flüchtlingsrat Niedersachsen.

Nach Auffassung von Jean Richard de la Tour, Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg, ist das deutsche Gesetz zur Abschiebungshaft teilweise rechtswidrig. Das niedersächsische Abschiebungshaftgefängnis genüge ebenfalls nicht den europarechtlichen Anforderungen. Dies stellte der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen am vergangenen Donnerstag fest. Das Urteil steht noch aus, häufig folgen die Richter*innen am EuGH der Linie des Generalanwalts. Rechtsanwalt Peter Fahlbusch, PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen erwarten deswegen von der Ampel-Koalition, dass sie die Inhaftierung von Abschiebungs-haftgefangenen in Strafanstalten unverzüglich beendet. Von der Niedersächsischen Landesregierung fordern sie, das Abschiebungshaftgefängnis des Landes umgehend zu schließen.

Bundesregierung ignorierte Trennungsgebot
Bereits im Jahr 2014 entschied der Europäische Gerichtshof in einem Verfahren gegen die Bundesrepublik, dass Abschiebungshaftgefangene nicht in Strafanstalten und nicht zusammen mit Strafgefangenen inhaftiert werden dürfen, sondern grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen untergebracht werden müssen. Dennoch setzte die schwarz-rote Bundesregierung dieses europarechtliche Trennungsgebot im August 2019 mit dem sogenannten „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ bis zum 30. Juni 2022 aus und erlaubte die Inhaftierung von Abschiebungshaftgefangenen in Strafanstalten. Das von Horst Seehofer (CSU) geführte Bundesinnenministerium begründete diesen Schritt mit einem unvorhersehbaren Defizit an circa 600 Abschiebungshaftplätzen aufgrund der „Migrationskrise“ im Jahr 2015. Die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt haben bereits Abschiebungshaftgefangene in Strafanstalten inhaftiert. Die niedersächsische Landesregierung belegt ein Gebäude auf dem Gelände des zentralen Abschiebungshaftgefängnisses in Langenhagen mit Strafgefangenen.

Wie Jean Richard de la Tour nun in seinen Schlussanträgen feststellt, dürfen nach europäischem Recht Abschiebungshaftgefangene nur dann in Strafanstalten inhaftiert werden, wenn „eine außergewöhnlich Zahl von Drittstaatangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen führen“ (Art. 18 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG). Eine derartige „Notlage“ sei in Deutschland jedoch nicht gegeben, so der EuGH-Generalanwalt.

„Defizit an Rechtsstaatlichkeit“
Rechtsanwalt Peter Fahlbusch von der Kanzlei LSFW in Hannover, der das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof führt, PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen sehen sich in ihrer jahrelangen Kritik bestätigt.

Peter Fahlbusch, Kanzlei LSFW (Hannover):

„Der Bundesregierung ist es zu keinem Zeitpunkt auch nur im Ansatz gelungen, das behauptete Defizit an Abschiebungshaftplätzen zu belegen. Dies war von Anfang an absehbar. Die EU-Kommission hat bei der Besichtigung deutscher Abschiebungshaftanstalten festgestellt, dass die Kapazitäten nicht überlastet sind. In Niedersachsen wurden sogar Strafgefangene in der Abschiebungshaftanstalt untergebracht, weil dort ganze Gebäude leer stehen. Selbst als die EU-Kommission der Bundesregierung empfohlen hat, die Lage erneut zu bewerten und das Gesetz gegebenenfalls abzuschaffen, ist die große Koalition untätig geblieben. Es gibt kein Defizit an Haftplätzen, aber dafür ein großes an Rechtsstaatlichkeit.“

Peter von Auer, rechtspolitischer Referent bei PRO ASYL:

„Die Argumente des Generalanwalts müssen ernst genommen werden. Die Ampel-Koalition muss auch im Bereich der Abschiebungshaft aktiv werden. Sie darf nicht wegsehen und muss verhindern, dass Geflüchtete auf der Suche nach einem Leben in Sicherheit und Würde in deutschen Gefängnissen verschwinden und um ihre Rechte gebracht werden. Wir erwarten von der zukünftigen Bundesregierung, der Inhaftierung von Abschiebungshäftlingen in Strafanstalten unverzüglich ein Ende zu setzen. Flucht ist kein Verbrechen.“

Muzaffer Öztürkyilmaz, Referent der Geschäftsführung beim Flüchtlingsrat Niedersachsen:

„Seit Jahren kritisieren wir, dass die Bedingungen im niedersächsischen Abschiebungshaftgefängnis gegen die Vorgaben des EU-Rechts verstoßen. Seit Jahren weisen wir auf die rechtswidrige Haftpraxis hin und fordern ein Abschiebungshaftvollzugsgesetz für Niedersachsen. Der EuGH-Generalanwalt Jean Richard de la Tour gibt uns nun Recht. Die Landesregierung muss Konsequenzen aus dem Gutachten des Generalanwalts ziehen und das Abschiebungshaftgefängnis in Langenhagen umgehend schließen.“

PRO ASYL unterstützt das Verfahren über seinen Rechtshilfefonds.


VG Magdeburg: Flüchtlingsanerkennung für Kurden, dessen BAMF-Akte türkischen Behörden in die Hände fiel

Mit Urteil vom 13.09.2021 (Az.: 7 A 482/17 MD), hat das Verwaltungsgericht Magdeburg das BAMF verpflichtet, dem kurdischen Flüchtling T. die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Dessen Asylakte fiel den türkischen Verfolgungsbehörden in die Hände, als ein türkischer Vertrauensanwalt der Deutschen Botschaft in der Türkei mit dem Vorwurf, für Deutschland und andere europäische Staaten Spionage zu betreiben, verhaftet wurde. Das BAMF hatte den Asylantrag des Mannes zuvor abgelehnt und sich auch nach Vorlage eines vom Gericht eingeholten ausführlichen Gutachtens der Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 27.04.2021 geweigert, dem Kurden die Flüchtlingsanerkennung zuzusprechen.


VG Freiburg: keine Dublin-Überstellung vulnerabler Personen nach Italien

Das Verwaltungsgericht Freiburg hat einem Eilantrag einer vulnerablen Person im Rahmen eines Dublin-Verfahrens mit Italien stattgegeben (B.v.10.11.2021, A 9 K 2793/21). In dem Fall bestanden Zweifel an der psychischen Gesundheit des Asylsuchenden, die mit Attesten im Hauptsacheverfahren noch zu prüfen ist. Doch diese Zweifel genügten dem VG, um den Aslysuchenden als möglicherweise vulnerabel einzustufen. Die Versorgung, Behandlung und Betreuung von vulnerablen und insbesonderen traumatisierten, psychisch erkrankten Asylsuchenden sei in Italien nach wie vor ungenügend. Auch lag keine ausdrückliche individuell konkrete Zusicherung der italienischen Behörden gegenüber dem BAMF über eine angemessene Versorgung im Falle einer Überstellung vor.


OVG Bremen: Keine Unzulässig-Ablehnung für in Griechenland Anerkannte

„Asylanträge von Personen, denen bereits in Griechenland internationaler Schutz zuerkannt wurde, dürfen derzeit – vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls – nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden.“ So entschied das Oberverwaltungsgericht (OVG) der Freien Hansestadt Bremen mit dem Urteil vom 16.11.2021, Az.: 1 LB 371/21.

Das BAMF lehnt bisher Geflüchtete, die in anderen europäischen Ländern internationalen Schutz (Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärem Schutz) bekommen haben, als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ab. Bereits 2019 hatte der Europäische Gerichtshof (C-540/17 und C-541/17) aber entschieden, dass Asylanträge von Anerkannten in einigen Fällen nicht als unzulässig abgelehnt werden dürfen. Und zwar dann, wenn ihnen in dem Mitgliedstaat die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union bzw. des Artikels 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention drohe. Da in Griechenland Anerkannten eine solche Gefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, hat das OVG Bremen das BAMF nun verpflichtet, das Asylverfahren fortzuführen.

Etliche Obergerichte haben inzwischen festgestellt, dass Anerkannten in Griechenland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Das BAMF entscheidet zudem seit ca. zwei Jahren nicht mehr über Asylanträgen von Anerkannten in Griechenland.


PRO ASYL zur EU-Kommission: Kotau vor den Asyl-Hardlinern

Presseerklärung

Die EU-Kommission hat Vorschläge zum Umgang mit Geflüchteten an den EU-Außengrenzen vorgelegt, denen der Rat zustimmen muss. Die EU-Kommission bietet Polen, Litauen und Lettland an, Schutzrechte von Asylsuchenden vorübergehend außer Kraft zu setzen.  PRO ASYL kritisiert das Brüsseler Notfallpaket als alarmierend für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.

Gestern hat die Europäische Kommission in Brüssel ein Notfallmaßnahmenpaket zur Situation an der europäischen Grenze zu Belarus vorgestellt. „Die Vorschläge der EU-Kommission sind ein Kotau vor den Regierungen, die systematisch Unionsrecht verletzen“, kommentiert  Karl Kopp, Leiter der Europa-Abteilung von PRO ASYL. „Nach Monaten des Schweigens zu den eklatanten Völkerrechtsbrüchen im Grenzgebiet der EU-Mitgliedsstaaten Polen, Litauen und Lettland bietet Brüssel den drei Grenzstaaten nun ein schäbiges Abwehrpaket an. Anstatt auf die Einhaltung von europäischem Recht zu pochen, eigentlich die Kernaufgabe der Kommission, schlägt sie vor, die Schutzrechte von Asylsuchenden ‚vorübergehend‘ außer Kraft zu setzen. Die Vorschläge zeigen, dass die Hardliner in Europa mittlerweile die Brüsseler Agenda bestimmen.“

Asylrecht ausgesetzt – Grenzverfahren unter Haftbedingungen

Die vorgestellten Maßnahmen sollen Lettland, Litauen und Polen die Möglichkeit geben, in zentralen Punkten von der EU-Asylgesetzgebung abzuweichen. Vorgesehen ist die Aussetzung des Asylrechts für vier Wochen, indem in dieser Zeit keine Asylanträge registriert werden müssen. Insbesondere soll es den Mitgliedsstaaten möglich sein, Grenzverfahren für Asylsuchende von vier Wochen auf bis zu vier Monate auszuweiten. PRO ASYL geht davon aus, dass solche Verfahren unter Haftbedingungen durchgeführt werden. Die Unterbringungsstandards sollen auf das absolute Minimum reduziert werden. Die Maßnahmen sollen zunächst auf sechs Monate befristet sein, können aber verlängert werden.

EU-Parlament ohne Mitentscheidungsrecht

Die EU-Kommission stützt das temporäre „Abwehrpaket“ auf Artikel 78 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Dieser sieht Notfallkompetenzen für den Rat außerhalb des regulären europäischen Gesetzgebungsverfahrens vor. Anders als im regulären Verfahren bleibt das Europäische Parlament außen vor – dabei werden dort aktuell ähnliche Vorschläge im Rahmen des Pacts on Asylum und Migration diskutiert und zum Teil vehement abgelehnt.

Begründet werden die Maßnahmen damit, dass eine Einhaltung der regulären Regeln angesichts des Konflikts mit Belarus nicht möglich wäre. „Es ist ein alarmierendes Signal für die Rechtsstaatlichkeit in Europa, wenn grundlegende Menschenrechte in vermeintlichen Krisensituationen massiv eingeschränkt werden und das EU-Parlament kein Mitentscheidungsrecht hat“, erklärt Karl Kopp. „Die Situation an der Ostgrenze ist für die notleidenden Geflüchteten dramatisch. Würde sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten an Völker- und Unionsrecht halten, wäre die humanitäre Katastrophe im Grenzgebiet zu Belarus beendet.“

Insbesondere an der polnisch-belarussischen Grenze ist es zu systematischen, völker- und europarechtswidrigen Zurückweisungen – Pushbacks – gekommen. Männer, Frauen und Kinder sind regelmäßig von polnischen Grenzbeamten gewaltsam über die Grenze nach Belarus gebracht worden, ihr Schutzgesuch wurde ignoriert.

Das Asylrecht steht zur Disposition

Was die EU-Kommission macht, ist eine toxische Kombination aus dem Modell Griechenland und dem Model Ungarn. In Griechenland hat die Kommission die Aussetzung des Asylrechts akzeptiert und der Regierung eine carte blanche für brutale Grenzabwehr gewährt. Ungarn hat  Transitzonen eingerichtet, in denen Schutzsuchende rechtswidrig inhaftiert und pauschal abgeschoben werden, ohne dass ihr Schutzgesuch im Einzelnen geprüft wird. Im Falle von Ungarn kam es im Dezember 2020 zu einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg.

Im Verfahren hat die EU-Kommission noch klipp und klar festgestellt: „Überdies sei der Fall, dass eine große Zahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz beantrage, vom Unionsgesetzgeber berücksichtigt worden.“ Das bedeutet: Das geltende Recht reicht aus. Diese Feststellung der EU-Kommission im Ungarn- Verfahren gilt heute genauso an der EU-Ostgrenze.

Der Brüsseler Versuch, nun Europarechtsbrecher zu „resozialisieren“, indem man Schutzstandards aushöhlt und bei eklatanten Völkerrechtsbrüchen tatenlos bleibt, ist fatal. Die Beschwichtigungstaktik der Kommission gegenüber Polen ist nicht nur verfehlt, sie funktioniert auch nicht – laut Medienberichten hat Polen das Paket bereits abgelehnt, weil das Land überhaupt keine Asylanträge mehr annehmen will.

Bewährungsprobe für die Ampel-Koalition

Der Vorschlag der Kommission muss nach Anhörung – nicht Mitsprache – des Europäischen Parlaments vom Rat mit Mehrheitsbeschluss angenommen werden. Der nächste Rat der Innenminister*innen  tagt am 9. Dezember 2021 – und wäre damit einer der ersten Termine eines neu besetzten deutschen Innenministeriums. Im Koalitionsvertrag steht: „Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden.“ Die Abstimmung über den Vorschlag der Kommission wird ein erster Stresstest sein, wie ernsthaft sie für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Europa eintritt.


Online-workshop: Asylum application rejected – What next?

First the BAMF rejected the asylum application. And now the court. The authorities say I should leave the country and go back to my country of origin. Is there still a chance for me to stay in Germany? Yes, sometimes there are chances. Maybe because of an apprenticeship (Ausbildungsduldung). Maybe because of employment (Beschäftigungsduldung). Maybe because of very good integration (§ 25a, § 25b AufenthG and hardship application).

We will explain different possibilities. Afterwards we will talk in small groups about the possibilities. Maybe other refugees have a tip. Be aware, nobody’s case is alike.

Prerequisites: You live in Baden-Württemberg. You have a mobile phone / laptop / tablet with good internet. You need a microphone. Your phone/ laptop / tablet must be able to play music.

No registration is necessary.

We meet on Zoom.

Speakers: Maren Schulz and Ebou Sarr (Refugee Council Baden-Württemberg)

If you have any questions, please contact us through: info@fluechtlingsrat-bw.de

This is a cooperation between two projects of the Refugee Council Baden-Württemberg: „Integration with Perspective – Individual. Culturally Sensitive. Sustainable“, funded from the EU Asylum, Migration and Integration Fund (AMIF) and the Heidehof Foundation, and „Active for Refugees“ funded by the State of Baden-Württemberg, Ministry of the Interior, for Digitalisation and Communities, as well as UN Refugee Aid and the German Postcode Lottery.


Basiskonto mit Fiktionsbescheinigung

„In Anbetracht der geringen Gefährlichkeit eines Basiskontos ist der Schlichter zu dem Ergebnis gekommen, dass zur Legitimation … auch eine Fiktionsbescheinigung ausreichend muss, ohne dass die Interessen und Pflichten der Beschwerdegegnerin (die Bank) verletzt werden“ (Schlichterspruch). Dies ging im Frühjahr 2021 aus einem Schlichtungsverfahrens beim Ombudsmann der öffentlichen Banken hervor.

Geflüchtete mit einer gültigen Aufenthaltsgestattung/Ankunftsnachweis, Duldung und Aufenthaltserlaubnis können ein Basiskonto eröffnen, da ihr Ausweis ein Lichtbild beinhaltet, das zur Identifizierung durch die Bank ausreicht. Die Identifizierung der Bankkund*innen gehört zu den Sorgfaltspflichten von Banken. Es gibt allerdings „vereinfachte Sorgfaltspflichten“. Diese greifen bei Inhaber*innen von Fiktionsbescheinigungen, die kein Lichtbild enthalten. Denn ein Basiskonto entfaltet ein geringes Risiko der Geldwäsche oder Terrorismusfinanzierung. Personen mit Fiktionsbescheinigung dürfen außerdem einer Erwerbstätigkeit nachgehen, wofür sie ein Konto besitzen müssen.


Arbeitshilfe AsylbLG: Herabstufung von Alleinstehenden in Unterkünften

Seit 2019 erhalten alleinstehende und alleinerziehende Geflüchtete, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, nur noch Leistungen der Regelbedarfsstufe (RBS) 2, anstelle der bisher vollen Leistungen der RBS 1. In der Arbeitshilfe der Diakonie Hessen geht es darum, wie Beratende, Ehrenamtliche und Geflüchtete mit geringem Aufwand gegen die Herabstufung gerichtlich vorgehen können. Die Infos beziehen sich zwar hauptsächlich auf Hessen, sind jedoch auch für Betroffene in Baden-Württemberg relevant.


Pro Asyl: Koalitionsvertrag 2021–2025: Wichtige Erfolge, aber auch gravierende Lücken

Der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP liegt vor. PRO ASYL stellt die wichtigsten flüchtlingspolitischen Punkte vor. Neben wichtigen Verbesserungen beim Familiennachzug und Bleiberecht wird von den Koalitionspartnern aber auch einmal mehr auf eine »Rückkehroffensive« und Kooperationen mit Drittstaaten gesetzt.

Nach intensiven Koalitionsverhandlungen wurde am 24. November 2021 von den Spitzen von SPD, Grünen und FDP der Koalitionsvertrag vorgestellt. Die Erstanalyse zum Fluchtbereich zeigt: Für viele Menschen in Deutschland kann es jetzt zu konkreten Verbesserungen kommen, weil der Familiennachzug verbessert, Arbeitsverbote abgeschafft und Bleiberechtsregelungen vereinfacht werden sollen.

Doch gleichzeitig weist der Koalitionsvertrag an einigen Punkten bedenkliche Leerstellen auf. So wird zwar das Konzept der AnkER-Zentren aufgegeben, aber eine entsprechend notwendige Absenkung der maximalen Aufenthaltszeit in Erstaufnahmeeinrichtungen wurde nicht fest vereinbart. Auch beim Thema Abschiebungen wird keine der vielen Verschärfungen und Entwicklungen der letzten Jahre auch nur kritisch erwähnt, etwa die erhöhten Anforderungen an Atteste, die die Abschiebung von kranken und traumatisierten Menschen ermöglichen oder die immer stärker ausgeweitete Abschiebungshaft (für eine Übersicht der vorgesehenen Änderungen in Deutschland siehe weiter unten).

Die Zukunft des Flüchtlingsschutzes entscheidet sich nicht in Deutschland, sondern an den europäischen Außengrenzen.

Bekenntnis zu Rechtsstaat und Menschenrechten in Europa – aber was folgt in der Praxis?

Die Zukunft des Flüchtlingsschutzes entscheidet sich aber nicht in Deutschland, sondern auf den ägäischen Inseln, im Mittelmeer sowie an den polnischen, kroatischen und griechischen Landgrenzen. Wenn illegale Zurückweisungen – sogenannte  Pushbacks – an diesen Grenzen weitergehen, dann haben auch nationale Verbesserungen nur begrenzte Wirkung.

»Wir setzen uns ein für eine EU, die ihre Werte und ihre Rechtsstaatlichkeit nach innen wie außen schützt und entschlossen für sie eintritt« (S. 131). Dieses wichtige – und leider in der EU nicht mehr selbstverständliche – Bekenntnis steht zu Beginn des Europakapitels, das auch einen eigenen Teil zur Rechtsstaatlichkeit hat. Wie stark in diesem Bereich die Werte der EU erodiert sind, lässt sich im Migrationsbereich schon lange beobachten und wird aktuell in einem fast täglich neu eskalierenden Konflikt zur Unabhängigkeit der polnischen Justiz besonders deutlich. Eine klarere Haltung der deutschen Bundesregierung hierzu ist sehr wichtig.

Im Kapitel zu Integration, Migration und Flucht wird bekennt sich  die Ampel dann auch zur »humanitären Verantwortung und den Verpflichtungen, die sich aus dem Grundgesetz, der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und dem Europarecht ergeben« (S. 138). Folgerichtig will die Ampel »die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden« (S. 141) – wie dies geschehen soll bleibt aber offen. Hier wird es entscheidend auf das Handeln des Bundesinnenministeriums ankommen.

Letztlich wird sich erst noch zeigen, ob SPD, Grüne und FDP auch bereit sein werden, empfindliche Maßnahmen – wie die Einstellung von finanzieller und logistischer Unterstützung von anderen Mitgliedstaaten bei Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen – zu ergreifen, um die von ihnen benannten Menschenrechtsstandards durchzusetzen.

Angesichts von kaum existierenden regulären Fluchtrouten sind auch Schutzsuchende auf irreguläre Routen angewiesen.

Mal wieder: Kooperation mit Drittstaaten 

Die Ampel-Koalition beschwört in ihrem Programm einen »Neuanfang in der Migrations- und Integrationspolitik«. Doch als eins der ersten Ziele wird dann die Reduzierung von irregulärer Migration genannt. Das Problem: Angesichts von kaum existierenden regulären Fluchtrouten, sind auch Schutzsuchende auf irreguläre Routen angewiesen. Das wird in der Praxis nicht durch neue humanitäre Visa ausgeglichen werden können, die der Koalitionsvertrag auch vorsieht (S. 142) – so richtig und wünschenswert diese auch sind.

Außerdem wird – wieder einmal – insbesondere auf Kooperationen mit Drittstaaten gesetzt. Es soll sogar einen neuen Sonderbevollmächtigten der Bundesregierung für Migrationsabkommen geben. Diese sollen streng von der Entwicklungszusammenarbeit getrennt werden und nur unter Beachtung menschenrechtlicher Standards geschlossen werden – wichtige Kriterien, wie streng diese zukünftig gehandhabt werden, wird der Knackpunkt sein.

Aufhorchen lässt folgender Satz, der eine problematische Auslagerung des Flüchtlingsschutzes zur Folge haben könnte: »Wir werden hierfür prüfen, ob die Feststellung des Schutzstatus in Ausnahmefällen unter Achtung der GFK und EMRK in Drittstaaten möglich ist« (S. 141). Gleichzeitig steht aber auch im Koalitionsvertrag, dass alle Asylanträge inhaltlich in der EU geprüft werden müssen (S. 141) – also nicht wie im Rahmen des EU-Türkei Deals als unzulässig abgelehnt werden, um die Menschen in Drittstaaten abzuschieben. An diesem letzten Punkt werden zukünftige Kooperationen zu messen sein.

Ein »weiter so« bei der harten Abschiebungspolitik ist zu befürchten!

Keine Lösungen für aktuelle Missstände im europäischen Asylsystem

Eine problematische Lücke im Koalitionsvertrag ist zudem, dass es zwar Aussagen dazu gibt, wie ein europäisches Asylsystem aussehen sollte – aber nicht dazu, wie man mit den aktuellen Missständen, zum Beispiel für Asylsuchende und Schutzberechtigte in Griechenland, umgehen wird. Ein Bekenntnis, nicht in innereuropäisches Elend abzuschieben und den Menschen stattdessen hier Schutz zu geben, fehlt. Stattdessen wird von einem »Missbrauch der visafreien Reise« und der Reduzierung von Sekundärmigration gesprochen (S. 142). Dies bezieht sich wohl auf die in Griechenland anerkannten Flüchtlinge, denen dort Obdachlosigkeit und ein Leben im Elend droht und die deswegen keinen anderen Ausweg sehen, als Schutz in einem anderen Mitgliedstaat wie Deutschland zu suchen.

Viele sitzen schon monatelang in AnkER-Zentren und anderen Erstaufnahmeeinrichtungen, weil ihre Asylanträge nicht entschieden werden – denn nur so kann sich das BAMF die Tür für eine Rückführung nach Griechenland aktuell noch offen halten.

Im Koalitionsvertrag werden verschiedene richtige Punkte für eine neue europäische Flüchtlingspolitik genannt – von fairer Verantwortungsteilung bis zu europäischer Seenotrettung – doch letztlich ist aktuell offen, wie die Ziele auf europäischer Ebene erreicht werden sollen.

Familien gehören zusammen! Koalitionsvertrag verspricht Verbesserung

Eine zentrale Forderung von PRO ASYL, anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Betroffenen im Wahlkampf war, dass endlich die gesetzlichen und praktischen Hürden für den Familiennachzug abgeschafft werden müssen.

Unter der Großen Koalition war der Familiennachzug für sogenannte subsidiär Schutzberechtigte – z.B. vor dem Bürgerkrieg in Syrien oder aus Eritrea geflohene Menschen – von 2016 bis 2018 komplett ausgesetzt worden und 2018 dann in ein Gnadenrecht verwandelt worden. Jeden Monat durften nur 1.000 Visa für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten vergeben werden.

Jetzt steht im Koalitionsvertrag: »Wir werden die Familienzusammenführung zu subsidiär Geschützten mit den GFK-Flüchtlingen gleichstellen« (S. 140). So war die Gesetzeslage auch 2015 bereits und muss jetzt entsprechend angepasst werden.

Bislang wurden Familien durch die Regeln zur Familienzusammenführung nach Deutschland oft erneut zerrissen, da minderjährige Geschwister nicht mit den Eltern zum in Deutschland lebenden Kind einreisen durften. Eine absurde Situation! Auch dies soll nun gesetzlich geändert werden: »Wir werden beim berechtigten Elternnachzug zu unbegleiteten Minderjährigen die minderjährigen Geschwister nicht zurücklassen« (S. 140).

Grundsätzlich hält der Koalitionsvertrag fest, dass » die Visavergabe beschleunig[t] und verstärkt digitalisier[t]« werden soll (S. 138) – das ist auch für den Familiennachzug essentiell, denn an vielen Auslandsvertretungen müssen Angehörige von Schutzberechtigten schon mehr als ein Jahr warten, bis sie überhaupt einen Termin zur Antragstellung haben.

Aufnahme aus Afghanistan wird weitergehen!

Eine wichtige Zusage im Koalitionsvertrag: Es wird ein humanitäres Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan geben (S. 142)! Ein solches Programm ist dringend notwendig, fallen doch viele akut gefährdete Afghan*innen nicht unter die eingeschränkte Definition von Ortskräften oder wurden trotz klarer Gefährdung nicht für die geschlossene Liste von Menschenrechtsverteidiger*innen berücksichtigt. Auch sollten bei einem solchen Programm Angehörige von in Deutschland lebenden Personen berücksichtigt werden, da die Taliban teils gezielt nach Menschen mit Verwandten im westlichen Ausland suchen.

Der Koalitionsvertrag verspricht zudem die Aufnahme von Ortskräften und ihren engsten Familienangehörigen zu vereinfachen (S. 142).

Was ändert sich noch für geflüchtete Menschen in Deutschland?

Für sich bereits in Deutschland aufhältige Menschen werden verschiedene wichtige Verbesserungen verabredet, nachdem in den letzten Jahren das Asyl- und Aufenthaltsrecht immer weiter verschärft wurde. Doch es gibt auch problematische Lücken.

Für Asylsuchende:

  • Unterbringung: Das Konzept der AnkER-Zentren, das unter der Großen Koalition aus Bayern in andere Bundesländer exportiert wurde, soll »nicht weiterverfolgt« werden (S. 140). Was allerdings nicht festgehalten wird: Das Konzept basiert maßgeblich auf der Ausweitung der Aufenthaltszeit in den Erstaufnahmeeinerichtungen auf 18 Monate. Deswegen hatten viele Verbände und Organisationen eine Absenkung dieser Unterbringung auf vier Wochen oder mindestens – wie bis 2015 Rechtslage – auf maximal drei Monate gefordert. Eine solche Absenkung sieht der Koalitionsvertrag nicht vor, obwohl dies folgerichtig wäre.
  •  Behördenunabhängige Asylverfahrensberatung: Mit dem »Hau-Ab-Gesetz II« wurde 2019 eine Asylverfahrensberatung durch das BAMF eingeführt, die nur optional eine Ergänzung durch unabhängige Berater*innen vorsah. Eine solche unabhängige Beratung soll laut dem Koalitionsvertrag flächendeckend eingeführt werden (S. 140) – ein wichtiger Fortschritt, der dringend nötig ist angesichts der Vielzahl von Fehlentscheidungen des BAMF.
  • Überarbeitung des Asylbewerberleistungsgesetzes: Das umstrittene Asylbewerberleistungsgesetz soll » im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weiterentwickel[t]« werden (S. 140). Was das genau bedeutet bleibt abzuwarten – denn die konsequente Umsetzung der Rechtsprechung wäre die Abschaffung des diskriminierenden Sonderleistungsregimes. Immerhin: die Gesundheitsvorsorge soll unbürokratischer erfolgen. Eine Gleichstellung ist damit aber nicht erreicht.
  • Keine Arbeitsverbote: Bislang dürfen Asylsuchende in den ersten neun Monaten während der Unterbringung in den Erstaufnahmeeinrichtungen nicht arbeiten. Dies muss nun aus dem Gesetz gestrichen werden denn im Koalitionsvertrag steht: »Arbeitsverbote für bereits in Deutschland Lebende schaffen wir ab«.
  • Integrationskurse für alle: Integrationskurse sollen für alle von Anfang an stehen, womit die problematische Unterscheidung von »guter und schlechter Bleibeperspektive« – die bislang ausschlaggebend ist – hinfällig wird (S. 139).

Für Schutzberechtigte:

  • Abschaffung anlassloser Widerrufsüberprüfungen: Bislang sieht das Gesetz vor, dass stets innerhalb von 3 Jahren eine Widerrufs- bzw. Rücknahmeprüfung stattfinden muss, unabhängig davon, ob es überhaupt einen Anlass gibt. Die Betroffenen verunsichert dies zutiefst. Das BAMF führte in den letzten Jahren mehr solcher Verfahren durch als Asylverfahren, es wird aber stets nur ein kleiner Teil letztlich widerrufen. Die Streichung der anlasslosen Überprüfung (S. 139) legt notwendige Kapazitäten für das BAMF frei, sich auf seine Kernaufgabe – die Durchführung von Asylverfahren – zu konzentrieren und erspart Sorgen für die bislang von anlasslosen Widerrufsprüfungen Betroffenen.
  • Verbesserungen beim Familiennachzug (s.o.)

Für Geduldete:

  • Keine Arbeitsverbote: Viele Geduldete dürfen oft jahrelang nicht arbeiten. Sämtliche Arbeitsverbote sollen entsprechend der Formulierung im Koalitionsvertrag nun gestrichen werden.
  • Abschaffung der »Duldung Light«: Die Einführung der »Duldung Light« war eine der zentralen Verschärfungen der letzten Jahre, sie soll jetzt gestrichen werden (S. 138) Damit fällt auch das damit verbundene Arbeitsverbot weg. Doch die problematischste Konsequenz der »Duldung Light«, nämliche die Sperre zu einem Bleiberecht, soll für Personen, denen vorgeworfen wird, ihre Identität nicht zu klären, beibehalten werden. Damit könnte die Streichung der »Duldung Light« mehr Symbolpolitik als wirkliche Änderung sein.
  • Ausbildungsduldung wird zur Aufenthaltserlaubnis: Dies ist ein wichtiger Schritt für einen funktionierenden Spurwechsel und wird den Betroffen – sowie den Betrieben – mehr Rechtssicherheit geben.
  • Verbesserung bei der Beschäftigungsduldung: Ganz so weit wie bei der Ausbildungsduldung geht der Koalitionsvertrag bei der Beschäftigungsduldung nicht, aber die Regelung soll entfristet werden und die sehr hohen Anforderungen »realistisch und praxistauglicher« gefasst werden (S. 138). Wie diese Änderungen genau aussehen werden bleibt abzuwarten.

Änderungen bei Bleiberecht und bei der Aufenthaltsverfestigung:

  • Neues »Chancen-Aufenthaltsrecht« mit Stichtag: »Menschen, die am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland leben, nicht straffällig geworden sind und sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen, sollen eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten können, um in dieser Zeit die übrigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen (insbesondere Lebensunterhaltssicherung und Identitätsnachweis […])« (S. 138). Da den Begünstigten mit dieser Aufenthaltserlaubnis auf Probe die Lebensunterhaltssicherung und der Identitätsnachweises erst ermöglicht werden soll, muss die Regelung abgesehen von den benannten Punkten im Koalitionsvertrag voraussetzungsfrei gestaltet werden. Ansonsten würde diese wichtige Regelung leerlaufen. Da Menschen, jahrelang mittels lebensalltagsfeindlicher Kettenduldungsfristen an einer erfolgreichen Arbeitsmarkt-Integration gehindert worden sind, kann es gerade unter Corona-Bedingungen schwierig werden, in einem Jahr die Kriterien für ein dauerhaftes Bleiberecht zu erfüllen – und was passiert dann? Wer lange hier lebt muss bleiben dürfen.

Verbesserung bestehender Bleiberechtsregelung

  • Für gut integrierte Jugendliche und Heranwachsende (§ 25a AufenthG): Anstatt nach vier Jahren soll die Regelung bereits nach drei Jahren Aufenthalt in Deutschland greifen und anstatt nur bis zum 21. Lebensjahr soll die Regelung für Heranwachsende bis zum 27. Lebensjahr greifen (S. 138). Das ist eine wichtige und lang geforderte Neuerung, da viele Jugendliche und Heranwachsende die notwendige Voraufenthaltszeit auf Grund ihres Alters bei Einreise nicht mehr bis zum 21. Lebensjahr erfüllen konnten.
  • Bei nachhaltiger Integration (§ 25b AufenthG): Die Regelung für gut integrierte Erwachsene soll dahingehend erleichtert werden, dass bereits nach sechs anstatt acht Jahren – und bei Familien mit nach vier anstatt sechs Jahren – Aufenthalt die Möglichkeit auf eine Aufenthaltserlaubnis besteht (S. 138).
  • Niederlassungserlaubnis nach drei Jahren: Anstatt bisher nach fünf Jahren, soll laut Koalitionsvertrag eine Niederlassungserlaubnis nach drei Jahren möglich werden. Wie auch bei der Einbürgerung sollen aber anscheinend Verschärfungen bezüglich Kriterien wie der Identitätsklärung nicht angetastet werden, die in der Praxis zu großen Schwierigkeiten führen. Dies muss im Laufe der Gesetzgebung konkretisiert werden, zumal bei vielen lange hier Aufhältigen eine Rückkehr ausscheidet und sie daher einer aufenthaltsrechtlichen Sicherheit bedürfen.
  • Einbürgerung nach fünf Jahren: Die Einbürgerung soll in der Regel nach fünf Jahren, bei besonderen Integrationsleistungen nach drei Jahren möglich sein. Bislang kommt für Schutzberechtige eine Einbürgerung frühestens nach sechs Jahren rechtmäßigem Aufenthalt bei besonders guter Integrationsleistung in Frage, ansonsten erst nach acht Jahren (§ 10 StAG).

Änderungen bei Abschiebungen:

  • »Rückkehroffensive«: Der Koalitionsvertrag verspricht eine »Rückkehroffensive« und bläst damit ins gleiche Horn wie Merkels »nationale Kraftanstrengung« für mehr Abschiebungen (S. 140). Um diese durchzusetzen wurden die Gesetze stark verschärft, u.a. was Atteste angeht und bei der Abschiebungshaft. Die Konsequenz dieser Politik: kranke und traumatisierte Menschen werden abgeschoben, Familien selbst nachts aus dem Bett geholt und Abschiebungshaft regelmäßig rechtswidrig verhängt. Zu all dem verlieren die Parteien kein Wort – ein »weiter so« bei der harten Abschiebungspolitik ist zu befürchten. Auch wird kein Wort zu Abschiebungen in Kriegs- und Krisenländer – wie Syrien oder Afghanistan – verloren, obwohl gerade in dem Bereich ein Bekenntnis zur Einhaltung der Menschenrechte besonders relevant gewesen wäre.
  • Keine Minderjährigen in Abschiebungshaft: Der Koalitionsvertrag sieht endlich einen expliziten Ausschluss von Minderjährigen in Abschiebungshaft vor – menschenrechtlich absolut erforderlich (S. 140). Allerdings muss die Regelung auch das Flughafenverfahren umfassen, das zwar in Deutschland nicht als Haft gilt, in dem aber immer wieder auch Kinder und Jugendliche de facto im Transit inhaftiert sind.
  • Abschiebestopp durch Bundesbehörde: Bislang liegt die Entscheidung über einen Abschiebungsstopp bei den Bundesländern – und diese sind zum Teil sehr zögerlich mit diesem Schritt. Für mehr Einheitlichkeit könnte eine entsprechende Befugnis auf Bundesebene (S. 140), als Ergänzung zur Landesebene, gut sein – wenn sie dann auch wirklich genutzt wird. Nachdem die Innenministerkonferenz den Abschiebestopp für Syrien Ende 2020 hat auslaufen lassen, wären Syrien und Afghanistan zwei Ländern, bei denen eine solche neue Bundeskompetenz direkt genutzt werden sollte.

Appell an künftige Regierung: Geflüchtete Frauen besser vor Gewalt schützen!

Geflüchtete Frauen erleiden häufig Gewalt, die sich speziell gegen sie als Frauen richtet. Zum heutigen Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen fordern PRO ASYL und Flüchtlingsräte aus ganz Deutschland die künftige Bundesregierung auf, geflüchtete Frauen und Mädchen besser vor geschlechtsspezifischer Gewalt zu schützen. Der Koalitionsvertrag verspricht Besserung, lässt aber auch zentrale Lücken.

„Es ist gut, dass die künftige Bundesregierung beim Gewaltschutz ausdrücklich auch die Bedarfe geflüchteter Frauen sicherstellen will. Bezüglich der Umsetzung bleibt der gestern veröffentlichte Koalitionsvertrag aber leider vielfach vage“, sagt Andrea Kothen von PRO ASYL. „Besonders schmerzhaft ist, dass keine Vereinbarung zur Abkehr von Massenunterkünften getroffen wurde.“

Anlässlich des Internationalen Tags zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am heutigen 25. November weisen PRO ASYL und die Flüchtlingsräte aus Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Sachsen auf den dringenden Handlungsbedarf hin.

Flucht vor Zwangsheirat und Genitalbeschneidung

Mädchen und Frauen, die in Deutschland Schutz suchen, kommen auch aus Regionen, in denen Genitalbeschneidung, Zwangsheirat, Zwangsprostitution und Versklavung geduldet werden, Vergewaltigungen faktisch straffrei bleiben und auch als Kriegswaffe eingesetzt werden. In Deutschland haben Frauen und Mädchen mit Gewalterfahrungen einen Anspruch darauf, dass sie aufgenommen, gesundheitlich versorgt und vor weiterer Gewalt geschützt werden. Denn die Bundesrepublik hat 2018 die Istanbul-Konvention ratifiziert und sich so völkerrechtlich verbindlich dazu verpflichtet, Frauen unabhängig von ihrem aufenthaltsrechtlichen Status vor allen Formen von Gewalt zu schützen, einen Beitrag zur Beseitigung ihrer Diskriminierung zu leisten und ihre Gleichstellung und ihre Rechte zu fördern.

Im deutschen Aufnahmesystem existieren jedoch vielfach Bedingungen, unter denen der Schutz von geflüchteten Frauen und Mädchen vor Gewalt und die Entwicklung ihrer Rechte von vornherein beschränkt sind – und die sogar selbst gewaltvoll sind oder Gewalt befördern. Das ist das Ergebnis des im Juli 2021 veröffentlichten Schattenberichts von PRO ASYL und Flüchtlingsräten zur Umsetzung der Istanbul Konvention, der eine Reihe von detaillierten Empfehlungen enthält.

Sammelunterkünfte begünstigen Gewalt

Die Abkehr von Massenunterkünften ist eine davon: Denn dort müssen Frauen und Mädchen immer wieder Gewalt fürchten, von männlichen Bewohnern, (Security-)Personal und Männern von außen. „Forderungen nach verbindlichen, einheitlichen Gewaltschutzkonzepten in den Unterkünften sind richtig und wichtig – allerdings sind Sammelunterkünfte strukturell gewaltbegünstigend und als Wohnform für Frauen alles in allem ungeeignet“, so Lena Schmid vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg. Deshalb muss die Zeit in der Erstaufnahme auf maximal vier Wochen begrenzt werden. Grundsätzlich muss die Wohnungsunterbringung von Geflüchteten Vorrang haben vor der Unterbringung in Sammelunterkünften, fordern PRO ASYL und die Flüchtlingsräte. Im rot-grün-gelben Koalitionsvertrag findet sich dazu allerdings nichts.

Zu den weiteren Empfehlungen von PRO ASYL und Flüchtlingsräten gehört die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Es verhindert, dass Asylsuchende normale Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherungen werden, und schränkt die Gesundheitsversorgung von gewaltbetroffenen Frauen vor allem in der Erstaufnahme ein. Zwar wollen die Koalitionäre „das Asylbewerberleistungsgesetz im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weiterentwickeln“ und „den Zugang … zur Gesundheitsversorgung unbürokratischer gestalten“. Eine Ankündigung, Geflüchtete künftig nach den in Deutschland üblichen Standards zu behandeln, ist das aber nicht. „Wir befürchten eine Fortdauer der diskriminierenden Praxis vor allem in der Gesundheitsversorgung“, so Andrea Kothen.

Positiv im Koalitionsvertrag: Flächendeckende Asylverfahrensberatung

Als sehr erfreulich bezeichnen die Organisationen dagegen die im Koalitionspapier angestrebte Einführung einer flächendeckenden behördenunabhängigen Asylverfahrensberatung und die Ankündigung, vulnerable Gruppen von Anfang an zu identifizieren und besonders zu unterstützen. „Wir brauchen einheitliche, qualifizierte Identifizierungsverfahren in ganz Deutschland und eine entsprechende Versorgungs- und Unterstützungsstruktur“, sagt Laura Müller vom Flüchtlingsrat Niedersachsen.

Auch die Ankündigung von passgenauen und erreichbaren Integrationskursen für „alle ankommenden Menschen“, „von Anfang an“, sehen die Organisationen positiv: Angebote für Deutschkurse müssen ausgebaut und mit Kinderbetreuung verbunden werden. Es ist ein Fortschritt, wenn die Integrationskurse zukünftig ohne diskriminierende Unterscheidung nach Herkunftsstaat oder Aufenthaltsstatus zugänglich sind, damit geflüchtete Frauen gleiche Chancen auf soziale Kommunikation, Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten haben.

Frauen, die vor häuslicher Gewalt flüchten, dürfen ihr Aufenthaltsrecht nicht verlieren

Unklar bleibt die Ankündigung bezüglich Personen mit abgeleitetem Aufenthaltsrecht, wo im Koalitionsvertrag vage von einer „präziseren Regelung“ die Rede ist. Für die Organisationen ist klar: Gesetzlich muss sichergestellt werden, dass eine Frau, die vor häuslicher Gewalt flüchtet, nicht deshalb ihr Aufenthaltsrecht verliert.

Schließlich muss sich die Bundesregierung für den ungehinderten Zugang zu einem fairen, regulären Asylverfahren in der EU einsetzen. Verfolgte Frauen und Mädchen und andere vulnerable Personen müssen besondere Unterstützung und Schutz erhalten. Ob die neue Bundesregierung dem Ziel der Istanbul-Konvention, Frauen und Mädchen umfassend vor Gewalt zu schützen, gerecht wird, entscheidet sich nicht zuletzt daran, ob es gelingt, dem Asylrecht an Europas Grenzen volle Geltung zu verschaffen.

Einen ausführlicheren Überblick über die Forderungen von PRO ASYL und Flüchtlingsräten zum Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt finden Sie hier.