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EuGH-Generalanwalt: Zusammenlegung von Strafgefangenen und Abschiebehäftlingen europarechtswidrig

Pressmitteilung Flüchtlingsrat Niedersachsen.

Nach Auffassung von Jean Richard de la Tour, Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg, ist das deutsche Gesetz zur Abschiebungshaft teilweise rechtswidrig. Das niedersächsische Abschiebungshaftgefängnis genüge ebenfalls nicht den europarechtlichen Anforderungen. Dies stellte der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen am vergangenen Donnerstag fest. Das Urteil steht noch aus, häufig folgen die Richter*innen am EuGH der Linie des Generalanwalts. Rechtsanwalt Peter Fahlbusch, PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen erwarten deswegen von der Ampel-Koalition, dass sie die Inhaftierung von Abschiebungs-haftgefangenen in Strafanstalten unverzüglich beendet. Von der Niedersächsischen Landesregierung fordern sie, das Abschiebungshaftgefängnis des Landes umgehend zu schließen.

Bundesregierung ignorierte Trennungsgebot
Bereits im Jahr 2014 entschied der Europäische Gerichtshof in einem Verfahren gegen die Bundesrepublik, dass Abschiebungshaftgefangene nicht in Strafanstalten und nicht zusammen mit Strafgefangenen inhaftiert werden dürfen, sondern grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen untergebracht werden müssen. Dennoch setzte die schwarz-rote Bundesregierung dieses europarechtliche Trennungsgebot im August 2019 mit dem sogenannten „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ bis zum 30. Juni 2022 aus und erlaubte die Inhaftierung von Abschiebungshaftgefangenen in Strafanstalten. Das von Horst Seehofer (CSU) geführte Bundesinnenministerium begründete diesen Schritt mit einem unvorhersehbaren Defizit an circa 600 Abschiebungshaftplätzen aufgrund der „Migrationskrise“ im Jahr 2015. Die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt haben bereits Abschiebungshaftgefangene in Strafanstalten inhaftiert. Die niedersächsische Landesregierung belegt ein Gebäude auf dem Gelände des zentralen Abschiebungshaftgefängnisses in Langenhagen mit Strafgefangenen.

Wie Jean Richard de la Tour nun in seinen Schlussanträgen feststellt, dürfen nach europäischem Recht Abschiebungshaftgefangene nur dann in Strafanstalten inhaftiert werden, wenn „eine außergewöhnlich Zahl von Drittstaatangehörigen, deren Rückkehr sicherzustellen ist, zu einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen führen“ (Art. 18 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG). Eine derartige „Notlage“ sei in Deutschland jedoch nicht gegeben, so der EuGH-Generalanwalt.

„Defizit an Rechtsstaatlichkeit“
Rechtsanwalt Peter Fahlbusch von der Kanzlei LSFW in Hannover, der das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof führt, PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen sehen sich in ihrer jahrelangen Kritik bestätigt.

Peter Fahlbusch, Kanzlei LSFW (Hannover):

„Der Bundesregierung ist es zu keinem Zeitpunkt auch nur im Ansatz gelungen, das behauptete Defizit an Abschiebungshaftplätzen zu belegen. Dies war von Anfang an absehbar. Die EU-Kommission hat bei der Besichtigung deutscher Abschiebungshaftanstalten festgestellt, dass die Kapazitäten nicht überlastet sind. In Niedersachsen wurden sogar Strafgefangene in der Abschiebungshaftanstalt untergebracht, weil dort ganze Gebäude leer stehen. Selbst als die EU-Kommission der Bundesregierung empfohlen hat, die Lage erneut zu bewerten und das Gesetz gegebenenfalls abzuschaffen, ist die große Koalition untätig geblieben. Es gibt kein Defizit an Haftplätzen, aber dafür ein großes an Rechtsstaatlichkeit.“

Peter von Auer, rechtspolitischer Referent bei PRO ASYL:

„Die Argumente des Generalanwalts müssen ernst genommen werden. Die Ampel-Koalition muss auch im Bereich der Abschiebungshaft aktiv werden. Sie darf nicht wegsehen und muss verhindern, dass Geflüchtete auf der Suche nach einem Leben in Sicherheit und Würde in deutschen Gefängnissen verschwinden und um ihre Rechte gebracht werden. Wir erwarten von der zukünftigen Bundesregierung, der Inhaftierung von Abschiebungshäftlingen in Strafanstalten unverzüglich ein Ende zu setzen. Flucht ist kein Verbrechen.“

Muzaffer Öztürkyilmaz, Referent der Geschäftsführung beim Flüchtlingsrat Niedersachsen:

„Seit Jahren kritisieren wir, dass die Bedingungen im niedersächsischen Abschiebungshaftgefängnis gegen die Vorgaben des EU-Rechts verstoßen. Seit Jahren weisen wir auf die rechtswidrige Haftpraxis hin und fordern ein Abschiebungshaftvollzugsgesetz für Niedersachsen. Der EuGH-Generalanwalt Jean Richard de la Tour gibt uns nun Recht. Die Landesregierung muss Konsequenzen aus dem Gutachten des Generalanwalts ziehen und das Abschiebungshaftgefängnis in Langenhagen umgehend schließen.“

PRO ASYL unterstützt das Verfahren über seinen Rechtshilfefonds.


Flüchtlingsrat wirft Strobl billigen Populismus vor

Nach Medienberichten geißelt Thomas Strobl (CDU), Vorsitzender der diese Woche in Stuttgarter tagenden Innenminister*innenkonferenz und baden-württembergischer Innenminister, die Migrationspolitik der Ampel-Koalition. „Ihr Kinderlein kommet“ sei das Motto der Koalitionsvereinbarungen. Während die Union die Migration steuern wolle, locke die Ampel noch mehr Geflüchtete ins Land.

Tatsächlich kommen die „Kinderlein“ nur an einer Stelle im Koalitionsvertrag vor, als es um den Familiennachzug geht: „Wir werden beim berechtigten Elternnachzug zu unbegleiteten Minderjährigen die minderjährigen Geschwister nicht zurücklassen.“ Dieser Passus würde tatsächlich dazu führen, dass Eltern weitere minderjährige Kinder mitnehmen können, wenn sie zu ihren minderjährigen Kindern nach Deutschland nachreisen. Diese menschenrechtliche Selbstverständlichkeit hat die Union bisher sabotiert und dafür gesorgt, dass Eltern überhaupt vor diese menschenunwürdige Entscheidung gestellt werden.

„Während in dieser Adventszeit Kinder aufgrund der europäischen Abschottungspolitik in osteuropäischen Wäldern erfrieren, fällt Strobl nichts Besseres ein, als billige Sprüche zu klopfen und Polemik auf AFD-Niveau zu betreiben. Die Unterstellung, die politischen Vorhaben der Ampel würden massenhafte Migration auslösen, ist unsachliche, verantwortungslose Panikmache!“, so Seán McGinley, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg.

Vorstandsmitglied Julian Staiger ergänzt: „In Strobls Aussage zeigt sich auch die die völlige Ignoranz über Fluchtgründe und eine Entmenschlichung von geflüchteten Menschen. Es gibt eine Vielzahl individueller Gründe warum Menschen fliehen müssen. Die Vorstellung, dass ein neuer Koalitionsvertrag da eine allzu große Rolle spielen würde ist schlichtweg naiv und realitätsfern. Auch wenn der Koalitionsvertrag endlich einige pragmatische Verbesserungen vorsieht, setzt er an anderen Stellen die Abschottungspolitik der bisherigen Bundesregierung fort. So spricht auch die kommende Bundesregierung vom Plan, noch mehr Menschen abzuschieben und knüpft insofern nahtlos an die Linie von Horst Seehofer an. Auch werden an zweifelhaften Instrumenten wie den sogenannten „Migrationsabkommen“ festgehalten und Deutschland bleibt auch weiterhin ein Lagerland.“


VG Magdeburg: Flüchtlingsanerkennung für Kurden, dessen BAMF-Akte türkischen Behörden in die Hände fiel

Mit Urteil vom 13.09.2021 (Az.: 7 A 482/17 MD), hat das Verwaltungsgericht Magdeburg das BAMF verpflichtet, dem kurdischen Flüchtling T. die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Dessen Asylakte fiel den türkischen Verfolgungsbehörden in die Hände, als ein türkischer Vertrauensanwalt der Deutschen Botschaft in der Türkei mit dem Vorwurf, für Deutschland und andere europäische Staaten Spionage zu betreiben, verhaftet wurde. Das BAMF hatte den Asylantrag des Mannes zuvor abgelehnt und sich auch nach Vorlage eines vom Gericht eingeholten ausführlichen Gutachtens der Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 27.04.2021 geweigert, dem Kurden die Flüchtlingsanerkennung zuzusprechen.


VG Freiburg: keine Dublin-Überstellung vulnerabler Personen nach Italien

Das Verwaltungsgericht Freiburg hat einem Eilantrag einer vulnerablen Person im Rahmen eines Dublin-Verfahrens mit Italien stattgegeben (B.v.10.11.2021, A 9 K 2793/21). In dem Fall bestanden Zweifel an der psychischen Gesundheit des Asylsuchenden, die mit Attesten im Hauptsacheverfahren noch zu prüfen ist. Doch diese Zweifel genügten dem VG, um den Aslysuchenden als möglicherweise vulnerabel einzustufen. Die Versorgung, Behandlung und Betreuung von vulnerablen und insbesonderen traumatisierten, psychisch erkrankten Asylsuchenden sei in Italien nach wie vor ungenügend. Auch lag keine ausdrückliche individuell konkrete Zusicherung der italienischen Behörden gegenüber dem BAMF über eine angemessene Versorgung im Falle einer Überstellung vor.


OVG Bremen: Keine Unzulässig-Ablehnung für in Griechenland Anerkannte

„Asylanträge von Personen, denen bereits in Griechenland internationaler Schutz zuerkannt wurde, dürfen derzeit – vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls – nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden.“ So entschied das Oberverwaltungsgericht (OVG) der Freien Hansestadt Bremen mit dem Urteil vom 16.11.2021, Az.: 1 LB 371/21.

Das BAMF lehnt bisher Geflüchtete, die in anderen europäischen Ländern internationalen Schutz (Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärem Schutz) bekommen haben, als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ab. Bereits 2019 hatte der Europäische Gerichtshof (C-540/17 und C-541/17) aber entschieden, dass Asylanträge von Anerkannten in einigen Fällen nicht als unzulässig abgelehnt werden dürfen. Und zwar dann, wenn ihnen in dem Mitgliedstaat die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der Grundrechtecharta der Europäischen Union bzw. des Artikels 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention drohe. Da in Griechenland Anerkannten eine solche Gefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, hat das OVG Bremen das BAMF nun verpflichtet, das Asylverfahren fortzuführen.

Etliche Obergerichte haben inzwischen festgestellt, dass Anerkannten in Griechenland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Das BAMF entscheidet zudem seit ca. zwei Jahren nicht mehr über Asylanträgen von Anerkannten in Griechenland.


Mehrsprachige Infoblätter: Medizinische Versorgung nach dem AsylbLG

Das Infoblatt soll Menschen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen, helfen, medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen. Selbst der Zugang zu medizinisch erforderlichen Behandlungen ist leider oftmals mit einigen Hürden versehen.

Die übersichtlichen Informationsblätter wurden vom Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt e.V. erstellt, richten sich an Geflüchtete und liegen auf Arabisch, Französisch, Deutsch, Englisch, Hindi, Persisch, Serbisch und Türkisch vor. Sie können kostenlos heruntergeladen werden.


Dokumentarfilm ROUTE 4 von Sea-Eye

Am 7. Dezember 2021 um 18.30 Uhr zeigt das Zebra-Kino in Kooperation mit der Seebrücke Konstanz, den Vereinen Save Me und Café Mondial und der Stabsstelle Konstanz International den Dokumentarfilm „ROUTE 4. A dreadful journey“. Der Film ist ein gemeinsames Projekt der Seenotrettungsorganisation Sea-Eye e. V. und der Produktionsfirma Boxfish über Menschen auf der Flucht und Seenotrettung. Vor Filmbeginn gibt Jürgen Weber von der Seebrücke Konstanz einen kurzen Einblick in die Arbeit von Sea-Eye und Seebrücke. Im Anschluss an den Film bietet eine Gesprächsrunde mit Dr. David Tchakoura, Leiter der Stabsstelle Konstanz International, sowie Vertreter*innen von Café Mondial, Save Me und Seebrücke die Möglichkeit über den Film, Fluchtursachen, Seenotrettung und Hilfe vor Ort zu diskutieren.

Der Eintritt ist frei. Kostenlose Tickets können über den Online-Vorverkauf des Zebra-Kino erworben werden. Es gilt 2G+.


Stellenausschreibung Netzwerk Pro Sinti & Roma

Die Anlaufstelle Pro Sinti & Roma sucht ab sofort Unterstützer*innen, die sich für 1 Jahr auf Honorarbasis für 10 Stunden/ Monat mit Interesse und Engagement in folgenden Tätigkeitsbereichen einbringen:

– Unterstützung der Leitung der Anlaufstelle Pro Sinti & Roma, sich politisch zu engagieren und unter anderem die Tätigkeitsfelder der Anlaufstelle bei Institutionen und Organisationen bekannt zu machen
– Unterstützung bei der Konzeption und Durchführung von Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen verschiedener Formate und Zielgruppen (Vorträge, Kulturveranstaltungen, antiziganismuskritische Bildungsarbeit)
– regelmäßige und aktive Teilnahme in Teambesprechungen / Netzwerktreffen (digital oder analog)

Wir erwarten:
– Engagement und Interesse für die Tätigkeitsfelder
– ausgeprägte Kommunikationskompetenz sowie Dialog- und Teamfähigkeit
– Wünschenswert wären Erfahrungen in der Durchführung und Moderation von Veranstaltungen

Wir bieten:
– abwechslungsreiche Tätigkeitsbereiche in positiver Arbeitsatmosphäre
– die Chance, Teil eines bestehenden vielfältigen Teams aus ehrenamtlich Engagierten zu werden

Haben Sie Interesse? Dann freuen wir uns über eine Bewerbung (inklusive Motivationsschreiben). Bei Nachfragen wenden Sie sich bitte an Kemal Ahmed (k.ahmed@ksew.de oder Telefonnummer 015163385224)


PRO ASYL zur EU-Kommission: Kotau vor den Asyl-Hardlinern

Presseerklärung

Die EU-Kommission hat Vorschläge zum Umgang mit Geflüchteten an den EU-Außengrenzen vorgelegt, denen der Rat zustimmen muss. Die EU-Kommission bietet Polen, Litauen und Lettland an, Schutzrechte von Asylsuchenden vorübergehend außer Kraft zu setzen.  PRO ASYL kritisiert das Brüsseler Notfallpaket als alarmierend für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.

Gestern hat die Europäische Kommission in Brüssel ein Notfallmaßnahmenpaket zur Situation an der europäischen Grenze zu Belarus vorgestellt. „Die Vorschläge der EU-Kommission sind ein Kotau vor den Regierungen, die systematisch Unionsrecht verletzen“, kommentiert  Karl Kopp, Leiter der Europa-Abteilung von PRO ASYL. „Nach Monaten des Schweigens zu den eklatanten Völkerrechtsbrüchen im Grenzgebiet der EU-Mitgliedsstaaten Polen, Litauen und Lettland bietet Brüssel den drei Grenzstaaten nun ein schäbiges Abwehrpaket an. Anstatt auf die Einhaltung von europäischem Recht zu pochen, eigentlich die Kernaufgabe der Kommission, schlägt sie vor, die Schutzrechte von Asylsuchenden ‚vorübergehend‘ außer Kraft zu setzen. Die Vorschläge zeigen, dass die Hardliner in Europa mittlerweile die Brüsseler Agenda bestimmen.“

Asylrecht ausgesetzt – Grenzverfahren unter Haftbedingungen

Die vorgestellten Maßnahmen sollen Lettland, Litauen und Polen die Möglichkeit geben, in zentralen Punkten von der EU-Asylgesetzgebung abzuweichen. Vorgesehen ist die Aussetzung des Asylrechts für vier Wochen, indem in dieser Zeit keine Asylanträge registriert werden müssen. Insbesondere soll es den Mitgliedsstaaten möglich sein, Grenzverfahren für Asylsuchende von vier Wochen auf bis zu vier Monate auszuweiten. PRO ASYL geht davon aus, dass solche Verfahren unter Haftbedingungen durchgeführt werden. Die Unterbringungsstandards sollen auf das absolute Minimum reduziert werden. Die Maßnahmen sollen zunächst auf sechs Monate befristet sein, können aber verlängert werden.

EU-Parlament ohne Mitentscheidungsrecht

Die EU-Kommission stützt das temporäre „Abwehrpaket“ auf Artikel 78 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Dieser sieht Notfallkompetenzen für den Rat außerhalb des regulären europäischen Gesetzgebungsverfahrens vor. Anders als im regulären Verfahren bleibt das Europäische Parlament außen vor – dabei werden dort aktuell ähnliche Vorschläge im Rahmen des Pacts on Asylum und Migration diskutiert und zum Teil vehement abgelehnt.

Begründet werden die Maßnahmen damit, dass eine Einhaltung der regulären Regeln angesichts des Konflikts mit Belarus nicht möglich wäre. „Es ist ein alarmierendes Signal für die Rechtsstaatlichkeit in Europa, wenn grundlegende Menschenrechte in vermeintlichen Krisensituationen massiv eingeschränkt werden und das EU-Parlament kein Mitentscheidungsrecht hat“, erklärt Karl Kopp. „Die Situation an der Ostgrenze ist für die notleidenden Geflüchteten dramatisch. Würde sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten an Völker- und Unionsrecht halten, wäre die humanitäre Katastrophe im Grenzgebiet zu Belarus beendet.“

Insbesondere an der polnisch-belarussischen Grenze ist es zu systematischen, völker- und europarechtswidrigen Zurückweisungen – Pushbacks – gekommen. Männer, Frauen und Kinder sind regelmäßig von polnischen Grenzbeamten gewaltsam über die Grenze nach Belarus gebracht worden, ihr Schutzgesuch wurde ignoriert.

Das Asylrecht steht zur Disposition

Was die EU-Kommission macht, ist eine toxische Kombination aus dem Modell Griechenland und dem Model Ungarn. In Griechenland hat die Kommission die Aussetzung des Asylrechts akzeptiert und der Regierung eine carte blanche für brutale Grenzabwehr gewährt. Ungarn hat  Transitzonen eingerichtet, in denen Schutzsuchende rechtswidrig inhaftiert und pauschal abgeschoben werden, ohne dass ihr Schutzgesuch im Einzelnen geprüft wird. Im Falle von Ungarn kam es im Dezember 2020 zu einer Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg.

Im Verfahren hat die EU-Kommission noch klipp und klar festgestellt: „Überdies sei der Fall, dass eine große Zahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz beantrage, vom Unionsgesetzgeber berücksichtigt worden.“ Das bedeutet: Das geltende Recht reicht aus. Diese Feststellung der EU-Kommission im Ungarn- Verfahren gilt heute genauso an der EU-Ostgrenze.

Der Brüsseler Versuch, nun Europarechtsbrecher zu „resozialisieren“, indem man Schutzstandards aushöhlt und bei eklatanten Völkerrechtsbrüchen tatenlos bleibt, ist fatal. Die Beschwichtigungstaktik der Kommission gegenüber Polen ist nicht nur verfehlt, sie funktioniert auch nicht – laut Medienberichten hat Polen das Paket bereits abgelehnt, weil das Land überhaupt keine Asylanträge mehr annehmen will.

Bewährungsprobe für die Ampel-Koalition

Der Vorschlag der Kommission muss nach Anhörung – nicht Mitsprache – des Europäischen Parlaments vom Rat mit Mehrheitsbeschluss angenommen werden. Der nächste Rat der Innenminister*innen  tagt am 9. Dezember 2021 – und wäre damit einer der ersten Termine eines neu besetzten deutschen Innenministeriums. Im Koalitionsvertrag steht: „Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden.“ Die Abstimmung über den Vorschlag der Kommission wird ein erster Stresstest sein, wie ernsthaft sie für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Europa eintritt.


Umfassende Bleiberechtsregelungen sind erforderlich!

PRO ASYL, die Landesflüchtlingsräte und „Jugendliche ohne Grenzen“ fordern anlässlich der Innenministerkonferenz vom 1. bis 3. Dezember einen umfassenden Abschiebestopp sowie die sofortige Fortsetzung der Aufnahme Schutzsuchender aus Afghanistan.

Aufgrund der grassierenden Pandemie müssen die Innenminister*innen auf ihrer Konferenz einen generellen Abschiebestopp verhängen. Abschiebungen während der Pandemie sind unverantwortlich und gefährden Menschenleben. Insbesondere nach Syrien, Afghanistan und Äthiopien kann wegen der anhaltend katastrophalen politischen und wirtschaftlichen Lage nicht abgeschoben werden – in diesen Ländern herrschen Krieg und Terror.

Bleiberechtsregelungen umsetzen

Die Ampel-Koalition hat erfreulicherweise beschlossen, eine Bleiberechtsregelung zu schaffen. Das neue „Chancen-Aufenthaltsrecht“ will „Menschen, die am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland leben, nicht straffällig geworden sind und sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen“ eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe ermöglichen, „um in dieser Zeit die übrigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen“ (Seite 138 Koalitionsvertrag). Aber: „Wir befürchten eine Abschieberitis einzelner Ausländerbehörden und Bundesländer, die ungeachtet der Pandemie und der kommenden Regelungen Fakten schaffen, wo immer möglich. Dazu darf es nicht kommen“, sagt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL. „Deshalb sollten sich die Länder auf der Innenministerkonferenz auf eine Vorgriffsregelung einigen, die dafür sorgt, dass niemand abgeschoben wird, bevor die neue Bleiberechtsregelung in Kraft tritt.“ Die Menschenrechtsorganisationen appellieren an Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius und an Joachim Stamp, stellvertretender Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, ihre Kolleg*innen von einer solchen Vorgriffsregelung zu überzeugen. Beide haben den Koalitionsvertrag mitausgearbeitet.

Abschiebestopp nach Afghanistan, Syrien und Äthiopien

Gemeinsam mit den Landesflüchtlingsräten und „Jugendliche ohne Grenzen“ appelliert PRO ASYL anlässlich der IMK an die Länder, parteiübergreifend die Realitäten in Afghanistan, Syrien und Äthiopien anzuerkennen. Es ist angesichts der Machtübernahme der Taliban unerlässlich, dass die Innenminister*innen einen Abschiebestopp für Afghanistan erlassen. „Es reicht nicht aus, dass Abschiebungen nach Afghanistan derzeit lediglich ausgesetzt sind. Es ist unabsehbar, wie lange die Taliban an der Macht sein werden und ihre als „verwestlich“ geltenden Landsleute, die nach Afghanistan abgeschoben werden, bei einer Rückkehr verfolgen“, betont Seán McGinley vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg. Die Menschenrechtsorganisationen fordern einen offiziellen Abschiebestopp im Sinne von § 60a Abs. 1 AufenthG, um Ausreisepflichtigen Sicherheit zu vermitteln.

„Die rund 30.000 afghanischen Staatsangehörigen, die hier leben und die in früheren Asylverfahren keinen Schutz zugesprochen bekommen haben, brauchen jetzt ein gesichertes Bleiberecht“, ergänzt Jassin Akhlaqi von „Jugendliche ohne Grenzen“. „Nur mit einer langfristigen Perspektive können diese Menschen, unter denen viele junge Männer und Frauen sind, in Ruhe Arbeit finden, studieren oder eine Ausbildung absolvieren ohne die ständige Angst und Ungewissheit, die mit einer drohenden Abschiebung einhergehen.“

Auch die Lage in Syrien ist weiterhin dramatisch, wie Berichte von Menschenrechtsorganisationen verdeutlichen. Amnesty International hat zahlreiche Fälle von Männern, Frauen und Kindern dokumentiert, die nach einer Rückkehr nach Syrien schwerste Menschenrechtsverletzungen durch den syrischen Geheimdienst erfuhren. Auch Human Rights Watch legt dar, dass Syrer*innen, die in ihre Heimat zurückkehren (müssen), willkürlich inhaftiert, gefoltert oder vergewaltigt werden. Es widerspricht dem Völkerrecht, in solche Staaten abzuschieben. Das zeigt eindeutig, dass das Auslaufen des Abschiebestopps für Syrien im letzten Jahr falsch war und ein solcher Stopp menschenrechtlich geboten ist.

In Äthiopien droht der Konflikt in Tigray das ganze Land in einen Bürgerkrieg zu stürzen; die Kampfhandlungen weiten sich auf immer mehr Provinzen aus, und Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. Dennoch schiebt Deutschland weiterhin Menschen in das Bürgerkriegsland ab. Allein in Bayern und Hessen leben derzeit knapp 3000 ausreisepflichtige Äthiopier*innen. Die Innenminister*innen müssen dringend auch für Äthiopien einen Abschiebestopp beschließen.

Aufnahme aus Afghanistan fortsetzen

Es ist zu begrüßen, dass die künftige Regierung Bundesaufnahmeprogramme für besonders gefährdete Afghan*innen vorsieht. In Gefahr sind auch Afghan*innen mit familiären Bindungen nach Deutschland. Es ist unverständlich, dass bisher ein großer Teil der Bundesländer nicht bereit ist, ein Landesaufnahmeprogramm zu realisieren, um diesen Familienangehörigen von in Deutschland lebenden Afghan*innen Schutz zu bieten.

PRO ASYL, Landesflüchtlingsräte und Jugendliche ohne Grenzen fordern: Die im Koalitionsvertrag beschlossenen Gesetzesänderungen müssen jetzt in einem 100 Tage-Programm gesetzlich auf den Weg gebracht werden, ebenso eine Fortsetzung der Aufnahme besonders schutzbedürftiger Afghan*innen und ihrer Familien.

Weitere Forderungen von PRO ASYL finden Sie hier; eine Stellungnahme zur IMK, die unter anderem von Jugendliche ohne Grenzen und den Flüchtlingsräten getragen wird, hier.