VGH München: Recht auf Gestattung während des Dublin-Verfahrens

Der bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in einem Urteil am 21. Mai 2025 (Az. 19 B 24.1772) ein wegweisendes Urteil gefällt: In Dublin-Fällen erlischt demnach die Aufenthaltsgestattung entgegen dem Gesetzeswortlaut nicht mit der Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung, sondern der Aufenthalt gilt weiterhin als gestattet. Aufgrund von Unionsrecht (Art. 9 der Asylverfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU)) ist nämlich die Regelung des § 67 Abs. 1 Nr. 5 AsylG, wonach die Aufenthaltsgestattung bei Dublin-Fällen mit der Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG erlischt, unionsrechtswidrig und damit unanwendbar.


Factsheet: Umgang mit Wohnsitzauflagen bei Frauenhausaufenthalt

Der Flüchtlingsrat Niedersachsen hat ein Factsheet zum Thema „Umgang mit Wohnsitzauflagen bei Frauenhausaufenthalt“ verfasst. Dieses liefert Informationen für die Praxis zu rechtlichen Grundlagen von
Wohnsitzauflagen, Aufhebungen oder Änderungen der Wohnsitzauflage und aufenthalts- und sozialrechtlicher Zuständigkeit bei Frauenhausaufenthalten. Die Informationen sind überwiegend auf die rechtliche Situationen in anderen Bundesländern übertragbar.


Menschen auf die Straße zu setzen ist keine Lösung

Auch in Baden-Württemberg wird auf immer härtere Weise gegen Menschen im Dublin-Verfahren vorgegangen. Durch das totale Streichen jeglicher Leistungen – selbst der Unterbringung – sollen die Betroffenen dazu gezwungen werden, Deutschland zu verlassen. Seit Mai dieses Jahres bereitet das Ministerium der Justiz und für Migration dieser Praxis den Weg, welche allerdings reihenweise durch Sozialgerichte gestoppt wird. Nun fordert der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg die Landesregierung dazu auf, endlich einen Schlussstrich unter diese menschenunwürdige Praxis zu ziehen. Als Vorbild könnte Rheinland-Pfalz dienen.

Im Rahmen ihres „Sicherheitspakets“ hatte die Ampel-Regierung im Herbst 2024 die gesetzliche Möglichkeit geschaffen, Menschen völlig von Sozialleistungen auszuschließen, wenn für ihr Asylverfahren nach der Dublin-Verordnung ein anderer europäischer Staat zuständig ist. Durch die vollständige Streichung von Leistungen sollen die Betroffenen dazu gezwungen werden, Deutschland zu verlassen. Nur eine zweiwöchige Übergangsfrist und Ausnahmen bei besonderen Härtefällen sind vorgesehen. Besonders paradox: Die „freiwillige“ Ausreise, zu der die Betroffenen mit der Maßnahme gezwungen werden sollen, ist in der Dublin-Verordnung nicht einmal vorgesehen.

Bereits im Februar dieses Jahres war es in Baden-Württemberg in Folge der Änderung im Asylbewerberleistungsgesetz zu einem drastischen Fall gekommen. Eine junge Frau wurde durch die Stadt Baden-Baden bei Minustemperaturen auf die Straße gesetzt. Erst nach einer Eilentscheidung des Sozialgerichts Karlsruhe durfte sie zurück in ihre Unterkunft. Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg verurteilt diese menschenunwürdige Praxis aufs Schärfste: „Menschen auszuhungern und auf die Straße zu setzen sind einfach keine legitimen politischen Mittel“, so Meike Olszak vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg.

Im Mai 2025 wendete sich das baden-württembergische Ministerium für Justiz und Migration per Schreiben an die unteren Aufnahmebehörden im Bundesland: Menschen im Dublin-Verfahren soll die Aufenthaltsgestattung ungültig gestempelt und statt einer Duldung eine bis dato unbekannte „Dublin-Verfahrensbescheinigung“ ausgestellt werden. Damit wird den Behörden Tür und Tor geöffnet, die Regelung zum totalen Leistungsausschluss flächendeckend anzuwenden. Wenn Betroffene dagegen klagen, kommen Sozialgerichte im Eilverfahren allerdings wenig überraschend reihenweise zu dem Ergebnis, dass der totale Ausschluss von jeglicher Versorgung nicht rechtmäßig ist, sondern gegen verfassungs- und europarechtliche Grundsätze verstößt. Auch der UN-Sozialausschluss hat Deutschland inzwischen wegen Verstoß gegen soziale Menschenrechte gerügt.

„Wir fordern die baden-württembergische Landesregierung dazu auf, von dieser menschenverachtenden und rechtlich fragwürdigen Praxis Abstand zu nehmen“, so Anja Bartel vom Flüchtlingsrat. „Konkret sollte das Ministerium für Justiz und Migration die Aufnahmebehörden dazu auffordern, von der Anwendung des totalen Leistungsausschlusses für Menschen im Dublin-Verfahren abzusehen“, so Bartel weiter. Vorbild könnte eine entsprechende Regelung in Rheinland-Pfalz sein. Dort hat das zuständige Ministerium die Behörden angewiesen, sich ans Europarecht zu halten und betroffenen Personen bis zur tatsächlichen Ausreise ein Mindestmaß an Leistungen zu gewähren. „Die Regelung in Rheinland-Pfalz ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn Verwaltungen rechtswidrige Gesetze zur Anwendung bringen, gefährdet das unseren Rechtstaat“, so Meike Olszak abschließend.


Projekt „I know my rights“

Das Projekt „I know my rights“ hat das Ziel, junge geflüchtete Menschen in Baden-Württemberg, die zwischen 14 und 27 Jahre alt sind, dabei zu unterstützen, gleichberechtigt an der Gesellschaft teilzuhaben. Niedrigschwellig, mehrsprachig und diskriminierungskritisch werden der Zielgruppe im Rahmen des Projekts durch unterschiedliche Formate Informationen über das Asyl- und Aufenthaltsrecht vermittelt. Außerdem wird die Zielgruppe ermutigt, eigene Pläne umzusetzen.

Projektlaufzeit: 1. Juli 2025 bis 30. Juni 2028

Projektort: Baden-Württemberg (landesweit)

Überblick über die Angebote des Flüchtlingsrats im Rahmen des Projekts

Legal Power Hours und Beratung per Messenger-Dienst

Im Rahmen der Legal Power Hour-Workshops wird jungen geflüchteten Menschen Wissen zu asyl- und aufenthaltsrechtlichen Themen vermittelt (z.B. Bleiberechtsoptionen, Zugang zur Niederlassungserlaubnis, …). Dabei folgen wir einem innovativen Ansatz aus Mehrsprachigkeit, Niedrigschwelligkeit und kreativen Vermittlungsformaten. Über den Workshop hinaus gibt es für die Teilnehmenden die Möglichkeit, Beratung per Messenger-Dienst (z.B. WhatsApp, …) in Anspruch zu nehmen.

Empowerment-Workshops

In den Empowerment-Workshops berichten externe Referierende mit eigener Fluchtbiografie über eigene Erfahrungen in Deutschland und legen dabei unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte (z.B. Sport, politische Teilhabe, Intersektionalität, …).

Mehrsprachige Social Media Arbeit

Ergänzend sollen für die Zielgruppe relevante Informationen mehrsprachig in Sozialen Medien veröffentlicht werden. Dies geschieht durch unterschiedliche „Get it right“-Formate, z.B. über Instagram oder einen arabischsprachigen Telegram-Kanal.

Haben Sie Interesse an einem Workshop bei Ihnen vor Ort? Dann wenden Sie sich gern an: info@fluechtlingsrat-bw.de

Das Projekt wird gefördert durch die Deutsche Fernsehlotterie.


Fachinformation: § 22 AufenthG im Kontext der Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten

Der DRK-Suchdienstes hat eine Fachinformation zum Thema „Familiennachzug zu Schutzberechtigten – § 22 AufenthG im Kontext der Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten“ sowie eine „Vorlage Härtefallanzeige und Antrag gem. § 22 AufenthG im Kontext der Aussetzung Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten“ veröffentlich, welche ähnlich wie eine Checkliste aufgebaut ist.


Landesflüchtlingsräte fordern bundesweiten Abschiebestopp für Êzîd*innen in den Irak

Die Landesflüchtlingsräte appellieren an Bund und Länder, umgehend einen umfassenden Abschiebestopp für Êzîd*innen in den Irak zu verhängen. Die aktuelle Praxis setzt Überlebende des Genozids massiver Gefahr aus und lässt Betroffene in ständiger Unsicherheit leben – wie das Beispiel der Êzîdin Dlvin K. in Rheinland-Pfalz zeigt.

Am 9. September 2025 konnte die geplante Abschiebung der jungen êzîdischen Frau und ihres Bruders aus der Gewahrsamseinrichtung für Ausreisepflichtige (GfA) Ingelheim in letzter Minute gestoppt werden. Beide leiden unter schweren psychischen Traumata.

Natalie Lochmann vom Flüchtlingsrat Rheinland-Pfalz erklärt dazu: „Die geplante Abschiebung von Dlvin K. musste buchstäblich in letzter Minute gestoppt werden. Der Fall zeigt, wie schnell selbst besonders schutzbedürftige Menschen von Rückführung bedroht sind. Es braucht einen klaren bundesweiten Abschiebestopp, um solche traumatisierenden Situationen künftig zu verhindern.

Obwohl die Gefährdungslage für Êzîd*innen im Nordirak durch bewaffnete Konflikte, mangelnden Schutz und fehlende Infrastruktur weiterhin dramatisch ist, finden Abschiebungen immer noch statt – oftmals trotz schwerer individueller Traumata und fehlender Perspektiven für ein menschenwürdiges Leben.

Es bedarf entschlossener politischer Lösungen. Die Entscheidungsträger*innen in den Innenministerien von Bund und Ländern sind jetzt in der Pflicht, endgültig einen Abschiebestopp auszusprechen und umzusetzen. Nur so können Menschenrechte gewahrt und das Leid der Betroffenen beendet werden“, so Timmo Scherenberg vom hessischen Flüchtlingsrat.

Die Landesflüchtlingsräte fordern:

  • Einen sofortigen bundesweiten Abschiebestopp für Êzîd*innen in den Irak
  • Rechtssicherheit für Überlebende des Genozids und eine dauerhafte Bleibeperspektive
  • Humanitäres und verantwortungsvolles Handeln von Bund, Ländern und Behörden


Online-Talk: Integrationsbegriff revisited!

Der „Kompetenz Kommunale Integrationsarbeit“-Online-Talk ist ein interaktives Dialogformat des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ). Unter dem Motto „Wissenschaft trifft Praxis“ kommen hier in regelmäßigen Abständen Expert*innen aus Wissenschaft und kommunaler Integrationsarbeit ins Gespräch, um aktuelle Studien und Forschungsergebnisse zu Themen wie Integration und Demokratie gemeinsam zu beleuchten und für die Praxis nutzbar zu machen.

In der Ausgabe des Online-Talks am 27. Oktober stellt Anja Bartel das Positionspapier des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg zum Integrationsbegriff vor.

Weitere Informationen, den Link zur Teilnahme sowie das Anmeldeformular finden Sie auf der Homepage der Universität Konstanz.


PRO ASYL und Landesflüchtlingsräte fordern Abschiebungsstopp für Afghanistan

PRO ASYL und die Flüchtlingsräte der Länder fordern die Bundesregierung auf, jegliche weitere direkte oder indirekte Gespräche mit der afghanischen Regierung sofort einzustellen und einen förmlichen Abschiebungsstopp für das Land Afghanistan zu verhängen.

Obwohl in Afghanistan die Taliban seit fast vier Jahren mit eiserner Hand ihre eigene Bevölkerung unterdrücken, will die deutsche Bundesregierung den Kontakt zu ihnen suchen, um Abschiebungen in das Land zu ermöglichen.

„Der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs wirft ein Schlaglicht darauf, was in Afghanistan täglich passiert und was die Bundesregierung ignorieren will: Schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Abschiebungen in ein Land, in dem Frauen aus der Öffentlichkeit verbannt sind und in dem es zu öffentlichen Auspeitschungen und Hinrichtungen kommt, sind eindeutig völkerrechtswidrig“, so Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.

„Die Europäische Menschenrechtskonvention sichert allen Menschen, die sich in Europa aufhalten, das Recht auf eine menschenwürdige Behandlung zu. Niemand darf in ein Land abgeschoben werden, deren oberste Repräsentanten wegen ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit´ vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IstGH) angeklagt sind. Jeglicher Kontakt mit den Taliban ist für sie ein weiterer Schritt in Richtung internationale Anerkennung“, mahnt Kai Weber vom Flüchtlingsrat Niedersachsen.

Hintergrund

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat am 08.07.2025 Haftbefehle gegen Taliban-Chef Hebatullah Achundsada und den Obersten Richter und Justizminister des Regimes, Abdul Hakim Hakkani, erlassen. Es lägen „hinreichende Verdachtsmomente“ vor, dass beide persönlich für „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in Afghanistan verantwortlich seien.

Nicht erst die Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshof trugen der Gewaltherrschaft der Taliban Rechnung, auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 04.10.2024 bestätigte, dass die Taliban Frauen* systematisch verfolgen – ihre Situation hat sich seither nicht verbessert, sondern weiter verschlechtert. Es darf auf keinen Fall eine konsularische oder diplomatische Anerkennung für die Taliban geben, auch nicht, um Straftäter*innen abzuschieben.

Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag vorgesehen, Abschiebungen nach Afghanistan – beginnend mit Straftätern – forcieren zu wollen. Abschiebungen nach Afghanistan würden jedoch gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung) verstoßen. Das Folterverbot ist absolut und umfasst auch Straftäter*innen (siehe hier für weitere Ausführungen).

Nach derzeit vorliegenden Informationen plant die Bundesregierung erneut eine Abschiebung in Zusammenarbeit mit den Behörden in Katar. Bundesinnenminister Dobrindt fordert gar direkte Verhandlungen mit den Taliban. Aber auch eine über Bande organisierte Abschiebung ist nicht ohne Kooperation mit dem islamistischen Regime der Taliban möglich.

Afghanistan ist überdies von Armut, Hunger und Vertreibung gezeichnet. 2024 benötigten laut UN fast 24 Mio. Menschen humanitäre Hilfe. 12 Mio. waren von Ernährungsunsicherheit betroffen, fast 3 Mio. Kinder unterernährt (Amnesty Report 2024/25). Aufgrund der Einstellung amerikanischer Hilfsgelder sind viele Hilfsprogramme in Afghanistan drastisch unterfinanziert, zum Beispiel müssen hunderte Gesundheitsklinken schließen. Die humanitäre Katastrophe droht sich noch auszuweiten, da Pakistan und Iran im vergangenen Jahr ca. 1.5 Millionen Menschen nach Afghanistan abgeschoben haben und auch aktuell verstärkt abschieben.

Nachtrag

Am 18.07.2025 fand die seit der Machtübernahme der Taliban zweite Abschiebung von Deutschland nach Afghanistan statt. „Abschiebungen nach Afghanistan sind ein eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht, denn die Taliban herrschen dort mit brutaler Gewalt wie Auspeitschungen und Hinrichtungen für Verstöße gegen ihre Sittenregeln. Zudem ist auch die humanitäre Situation in dem Land katastrophal. Die Europäische Menschenrechtskonvention verbietet Abschiebungen, wenn Folter oder unmenschliche Behandlung drohen. Das ist in Afghanistan der Fall“, kommentiert Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.


Kritik an Bürokratiemonster Bezahlkarte bricht nicht ab

Seit Monaten kritisiert der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg die diskriminierende Bezahlkarte, mittels der geflüchtete Menschen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen sollen. Auch in Baden-Württemberg hat sich die Landesregierung für ein mit vielen Einschränkungen versehenes System entschieden. Nun treibt das Ministerium für Justiz und Migration die flächendeckende Einführung der Karte im gesamten Bundesland voran – zum Leidwesen aller direkt und indirekt Betroffener. Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg unterstützt Forderungen aus Städten und Landkreisen nach mehr lokalen Spielräumen bei der Einführung der Karte und fordert eine „Opt-Out-Regelung“ nach dem Vorbild anderer Bundesländer.

Bereits in der Vergangenheit hat der Flüchtlingsrat darauf hingewiesen, dass die Bezahlkarte für alle beteiligten Akteur*innen große praktische Schwierigkeiten mit sich bringt. Erste Erfahrungen mit dem diskriminierenden Bezahlkartensystem in Baden-Württemberg und in anderen Bundesländern zeigen, dass betroffene geflüchtete Menschen daran gehindert werden, ihre Bedarfe zu erfüllen, zum Beispiel, indem ihnen der Zugang zu günstigen Einkaufsmöglichkeiten versperrt wird. Ehren- und hauptamtliche Unterstützer*innen müssen ihre ohnehin begrenzten Ressourcen in die Lösung von Bezahlkartenproblemen stecken. Und auch in den lokalen Verwaltungen verursacht die Bezahlkarte einen deutlich erhöhten Arbeitsaufwand, zum Beispiel durch das Freischalten von Überweisungen, Anwendungsfehler oder Ermessensausübungen im Einzelfall. So rechnet beispielsweise die Verwaltung einer mittelgroßen baden-württembergischen Stadt damit, mindestens zwei neue Vollzeitstellen schaffen zu müssen, um den durch die Bezahlkarte verursachten Arbeitsaufwand bewältigen zu können. Statt Verwaltungen zu entlasten, ist die Karte zum Bürokratiemonster mutiert.

Der Flüchtlingsrat unterstützt Forderungen aus der Lokalpolitik und der Verwaltung, den Landkreisen und Städten Spielraum bei der Ausgabe von Leistungen an geflüchtete Menschen zu lassen. So hat zum Beispiel der Heidelberger Gemeinderat in einer Sitzung Anfang April 2025 beschlossen, dass sich der Heidelberger Oberbürgermeister bei der Landesregierung für eine sogenannte Opt-Out-Regelung einsetzen soll. Eine solche Regelung gibt es bereits in anderen Bundesländern, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz. Sie ermöglicht es Städten und Landkreisen Leistungen an geflüchtete Menschen auf sinnvollere Art als per Bezahlkarte zu erbringen. „In Heidelberg wollen wir keine Bezahlkarte. Alle in Frage kommenden Menschen haben ein Konto, auf das die ohnehin niedrigen Leistungen nach dem AsylbLG eingezahlt werden, ohne weitere Restriktionen. Und das ist gut so. Wir wollen keine rassistischen Einschränkungen, die gesellschaftliche Teilhabe verhindern. Und die zusätzliche Belastung der Sozialverwaltung würde alle von ihr Abhängigen treffen“, kommentiert Mia Lindemann vom Asylarbeitskreis Heidelberg.Wie vielerorts in Baden-Württemberg hatten in Heidelberg zivilgesellschaftliche Organisationen gegen die Einführung der Bezahlkarte protestiert und ihre Kritik an der Karte in einem Offenen Brief formuliert.

Seit Beginn der Diskussion zur Bezahlkarte übt der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg eine Grundsatzkritik an diesem abschreckungspolitischen Instrument. Politisches Ziel der Karte ist es, dafür zu sorgen, dass weniger Menschen nach Deutschland fliehen, wenn sie nicht mehr frei über Leistungen verfügen können. Damit ist die Karte ein Paradebeispiel für aktuelle Tendenzen einer menschenfeindlichen Migrationspolitik, die ihr beabsichtigtes Ziel nicht erreichen kann, aber Vorurteile, Fake News und rassistische Narrative gegenüber geflüchteten Menschen schürt. So kann realistischerweise nicht erwartet werden, dass auch nur eine Person weniger zur Flucht gezwungen wird, nur weil in Deutschland ein Bezahlkartensystem eingeführt wird. Stattdessen werden in der öffentlichen Debatte Märchen von Sozialleistungen als angeblichem Pull-Faktor sowie illegitimen Auslandsüberweisungen Geflüchteter weiterverbreitet – allen wissenschaftlichen Studien zum Trotz.


Konstanz: Podiumsdiskussion zur Migrationspolitik im neuen Koalitionsvertrag

Im Bundestagswahlkampf waren Migration und Asyl bereits zentrale Themen. Die neue Koalition von CDU/CSU und SPD beabsichtigt nun mit ihrem Koalitionsvertrag einen „konsequenten Kurs“ in der Migrationspolitik – vorgesehen sind inhaltliche Neuregelungen der Themen „Legale Zugangswege und Programme“, „Grenzschutz und Rückführung“, Integration und Teilhabe“, „Bleiberecht“ sowie „Staatsangehörigkeit und Leistungen“. Der Sprecherrat* der Ehrenamtlichen Helferkreise im Landkreis Konstanz lädt unmittelbar nach der Kanzlerwahl herzlich ein zur öffentlichen Podiumsdiskussion „Der neue Koalitionsvertrag – eine Wende in der deutschen Migrations- und Flüchtlingspolitik?“ mit

  • Dr. Anja Bartel (Co-Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg e.V.)
  • Dr. Ann-Veruschka Jurisch (FDP-Fachpolitikerin Migration, Mitglied des Kreistags Konstanz)
  • Prof. Dr. Daniel Thym (LL.M.(London), Universität Konstanz, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europa-und Völkerrecht, Leiter des Forschungszentrums Ausländer-und Asylrecht)

Moderiert wird die Veranstaltung von Manfred Hensler (Mitglied des Beirats von inSi e.V. und des Kreistags, Mitglied des Internationalen Ausschusses Stadt Konstanz).

Die Veranstaltung findet am Mittwoch, 7. Mai 2025 um 19 Uhr im Saal von „Hedicke‘s Terracotta“, Luisenstrasse 9, Konstanz (zentrale Lage, nahe dem Konstanzer Krankenhaus) statt.

Um Anmeldung unter kontakt@insi.team wird gebeten. Der Eintritt ist frei.