Kritik an Bürokratiemonster Bezahlkarte bricht nicht ab

Seit Monaten kritisiert der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg die diskriminierende Bezahlkarte, mittels der geflüchtete Menschen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen sollen. Auch in Baden-Württemberg hat sich die Landesregierung für ein mit vielen Einschränkungen versehenes System entschieden. Nun treibt das Ministerium für Justiz und Migration die flächendeckende Einführung der Karte im gesamten Bundesland voran – zum Leidwesen aller direkt und indirekt Betroffener. Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg unterstützt Forderungen aus Städten und Landkreisen nach mehr lokalen Spielräumen bei der Einführung der Karte und fordert eine „Opt-Out-Regelung“ nach dem Vorbild anderer Bundesländer.

Bereits in der Vergangenheit hat der Flüchtlingsrat darauf hingewiesen, dass die Bezahlkarte für alle beteiligten Akteur*innen große praktische Schwierigkeiten mit sich bringt. Erste Erfahrungen mit dem diskriminierenden Bezahlkartensystem in Baden-Württemberg und in anderen Bundesländern zeigen, dass betroffene geflüchtete Menschen daran gehindert werden, ihre Bedarfe zu erfüllen, zum Beispiel, indem ihnen der Zugang zu günstigen Einkaufsmöglichkeiten versperrt wird. Ehren- und hauptamtliche Unterstützer*innen müssen ihre ohnehin begrenzten Ressourcen in die Lösung von Bezahlkartenproblemen stecken. Und auch in den lokalen Verwaltungen verursacht die Bezahlkarte einen deutlich erhöhten Arbeitsaufwand, zum Beispiel durch das Freischalten von Überweisungen, Anwendungsfehler oder Ermessensausübungen im Einzelfall. So rechnet beispielsweise die Verwaltung einer mittelgroßen baden-württembergischen Stadt damit, mindestens zwei neue Vollzeitstellen schaffen zu müssen, um den durch die Bezahlkarte verursachten Arbeitsaufwand bewältigen zu können. Statt Verwaltungen zu entlasten, ist die Karte zum Bürokratiemonster mutiert.

Der Flüchtlingsrat unterstützt Forderungen aus der Lokalpolitik und der Verwaltung, den Landkreisen und Städten Spielraum bei der Ausgabe von Leistungen an geflüchtete Menschen zu lassen. So hat zum Beispiel der Heidelberger Gemeinderat in einer Sitzung Anfang April 2025 beschlossen, dass sich der Heidelberger Oberbürgermeister bei der Landesregierung für eine sogenannte Opt-Out-Regelung einsetzen soll. Eine solche Regelung gibt es bereits in anderen Bundesländern, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz. Sie ermöglicht es Städten und Landkreisen Leistungen an geflüchtete Menschen auf sinnvollere Art als per Bezahlkarte zu erbringen. „In Heidelberg wollen wir keine Bezahlkarte. Alle in Frage kommenden Menschen haben ein Konto, auf das die ohnehin niedrigen Leistungen nach dem AsylbLG eingezahlt werden, ohne weitere Restriktionen. Und das ist gut so. Wir wollen keine rassistischen Einschränkungen, die gesellschaftliche Teilhabe verhindern. Und die zusätzliche Belastung der Sozialverwaltung würde alle von ihr Abhängigen treffen“, kommentiert Mia Lindemann vom Asylarbeitskreis Heidelberg.Wie vielerorts in Baden-Württemberg hatten in Heidelberg zivilgesellschaftliche Organisationen gegen die Einführung der Bezahlkarte protestiert und ihre Kritik an der Karte in einem Offenen Brief formuliert.

Seit Beginn der Diskussion zur Bezahlkarte übt der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg eine Grundsatzkritik an diesem abschreckungspolitischen Instrument. Politisches Ziel der Karte ist es, dafür zu sorgen, dass weniger Menschen nach Deutschland fliehen, wenn sie nicht mehr frei über Leistungen verfügen können. Damit ist die Karte ein Paradebeispiel für aktuelle Tendenzen einer menschenfeindlichen Migrationspolitik, die ihr beabsichtigtes Ziel nicht erreichen kann, aber Vorurteile, Fake News und rassistische Narrative gegenüber geflüchteten Menschen schürt. So kann realistischerweise nicht erwartet werden, dass auch nur eine Person weniger zur Flucht gezwungen wird, nur weil in Deutschland ein Bezahlkartensystem eingeführt wird. Stattdessen werden in der öffentlichen Debatte Märchen von Sozialleistungen als angeblichem Pull-Faktor sowie illegitimen Auslandsüberweisungen Geflüchteter weiterverbreitet – allen wissenschaftlichen Studien zum Trotz.


Konstanz: Podiumsdiskussion zur Migrationspolitik im neuen Koalitionsvertrag

Im Bundestagswahlkampf waren Migration und Asyl bereits zentrale Themen. Die neue Koalition von CDU/CSU und SPD beabsichtigt nun mit ihrem Koalitionsvertrag einen „konsequenten Kurs“ in der Migrationspolitik – vorgesehen sind inhaltliche Neuregelungen der Themen „Legale Zugangswege und Programme“, „Grenzschutz und Rückführung“, Integration und Teilhabe“, „Bleiberecht“ sowie „Staatsangehörigkeit und Leistungen“. Der Sprecherrat* der Ehrenamtlichen Helferkreise im Landkreis Konstanz lädt unmittelbar nach der Kanzlerwahl herzlich ein zur öffentlichen Podiumsdiskussion „Der neue Koalitionsvertrag – eine Wende in der deutschen Migrations- und Flüchtlingspolitik?“ mit

  • Dr. Anja Bartel (Co-Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg e.V.)
  • Dr. Ann-Veruschka Jurisch (FDP-Fachpolitikerin Migration, Mitglied des Kreistags Konstanz)
  • Prof. Dr. Daniel Thym (LL.M.(London), Universität Konstanz, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europa-und Völkerrecht, Leiter des Forschungszentrums Ausländer-und Asylrecht)

Moderiert wird die Veranstaltung von Manfred Hensler (Mitglied des Beirats von inSi e.V. und des Kreistags, Mitglied des Internationalen Ausschusses Stadt Konstanz).

Die Veranstaltung findet am Mittwoch, 7. Mai 2025 um 19 Uhr im Saal von „Hedicke‘s Terracotta“, Luisenstrasse 9, Konstanz (zentrale Lage, nahe dem Konstanzer Krankenhaus) statt.

Um Anmeldung unter kontakt@insi.team wird gebeten. Der Eintritt ist frei.


Geislingen an der Steige: Informationsabend Migration und Asyl – Begriffsklärungen

Die Amnesty International Ortsgruppe Geislingen an der Steige lädt zusammen mit dem Flüchtlingsrat Baden-Württemberg ein zu einem Informationsabend rund um das Thema Migration und Asyl. Ziel des Abends ist es, zu einer Versachlichung der aktuellen flüchtlingspolitischen Debatte beizutragen und aktuelle Entwicklungen gemeinsam zu besprechen.

Es diskutieren:

  • Anja Bartel, Flüchtlingsrat Baden-Württemberg
  • Matthias Waibl, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

Die Veranstaltung findet in der Rätschenmühle e.V. in Geislingen statt (Schlachthausstraße 22, 73312 Geislingen an der Steige). Der Eintritt ist frei. Eine Anmeldung ist nicht nötig.

Die Veranstaltung findet im Rahmen des Projekts „Aktiv für gesellschaftliche Teilhabe“ statt, unterstützt durch das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration aus Landesmitteln, die der Landtag Baden-Württemberg beschlossen hat.


Gemeinsamer Appell zum Parteitag der CDU

In einem eindringlichen Appell wenden sich 145 Bundes- und Landesorganisationen an die Teilnehmer*innen des heute in Berlin tagenden CDU-Parteitags. Die Unterzeichnenden fordern sie auf, sich zu ihren christlichen und demokratischen Werten zu bekennen sowie den Rechtsstaat und die Menschenrechte zu verteidigen.

Uns alle eint der Wunsch nach einem Leben in einer Gesellschaft, die uns schützt und unterstützt, in der wir beteiligt und respektiert werden. Diese grundlegenden Werte – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte – sind das Fundament unserer Gemeinschaft. Sie geben uns Stabilität, Sicherheit und Halt. Sie garantieren, dass unsere grundlegende Würde und unsere Freiheit gewahrt werden. Es ist die Aufgabe von uns allen, diese Werte zu bewahren und zu verteidigen.

Die Stärke unserer Gesellschaft liegt in der Vielfalt: Unterschiedliche Ideen, Herkunftsgeschichten, Religionen, Weltanschauungen und Identitäten bereichern uns. Geflüchtete Menschen aus zahlreichen Regionen der Welt sind längst Teil unserer Gesellschaft geworden. Sie arbeiten hier, engagieren sich und ziehen ihre Kinder groß. Taten einzelner Personen, die uns fassungslos machen und in Entsetzen zurücklassen, wie der schreckliche Angriff von Aschaffenburg, dürfen niemals dazu führen, dass ganze Gruppen stigmatisiert, rassifiziert oder entrechtet werden.

Wir gehören zusammen: Ob geflüchtet, eingewandert oder hier geboren, wir sind alle Teil dieser Gesellschaft. Grund- und Menschenrechte gelten entweder für uns alle oder sie gelten gar nicht. Die Diskussionen über Verschärfungen des Staatsangehörigkeits-, Aufenthalts- und Asylrechts, die aktuell auch von der CDU maßgeblich vorangetrieben werden, bedrohen dieses Selbstverständnis. Polarisierende und grob rechtswidrige Forderungen nach Zurückweisungen von Schutzsuchenden an den deutschen Binnengrenzen, der Abschaffung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte, nach Rückführungen in Kriegs- und Krisengebiete und nach pauschalen Inhaftierungen aller vollziehbar ausreisepflichtigen Personen sind nicht dafür geeignet, aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen zu begegnen. Sie sorgen weder für mehr Sicherheit noch für zusätzlichen bezahlbaren Wohnraum, Kitaplätze oder gleiche Bildungschancen, geschweige denn für ein funktionierendes Gesundheitssystem, in dem auch psychische Erkrankungen angemessen versorgt werden. Was noch schlimmer ist: Durch ihre offensichtliche Rechtswidrigkeit schwächen sie unsere Verfassung und den Wert von europäischem und internationalem Recht.

Wir appellieren deswegen an die Vertreter*innen der CDU: Bekennen Sie sich zur menschenrechtlichen Brandmauer und stehen Sie mit uns ein für gesellschaftliches Miteinander, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte.

Bitte nehmen Sie auch im Wahlkampf Abstand von Rhetorik und Forderungen, die unsere Gesellschaft weiter spalten und die Menschen gegeneinander aufbringen. In verschiedenen EU Ländern sind die Folgen einer autoritären Politik zu beobachten. Dort wird ein „Wir gegen die Anderen“ Denken geschürt und Politik gegen queere Menschen, Migrant*innen, Arbeitslose und andere Minderheiten betrieben. Gewalt an den Grenzen – selbst gegen Kinder – ist bereits Normalität.

Gleichzeitig werden die Institutionen des Rechtsstaats untergraben, die Unabhängigkeit der Justiz angegriffen und die Arbeit von Anwält*innen und Journalist*innen behindert oder eingeschränkt. Als konservative, christlich-demokratische Partei muss die CDU hier gegenhalten und sich klar abgrenzen.

Wir haben die Wahl: Wollen wir ein offenes, vielfältiges und demokratisches Land bleiben, das die Rechte und Grundfreiheiten aller wahrt und das die Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit respektiert und schützt? Oder gehen wir zurück in eine düstere Zeit, in der Grund- und Menschenrechte nur noch für einige gelten und ganze Bevölkerungsteile zu Schuldigen für gesamtgesellschaftliche Missstände gemacht werden?

Politische Handlungsfähigkeit zeigt sich durch Gesetze und Maßnahmen, die realistisch, wertebasiert und rechtskonform sind. Das ist unsere Erwartung an die CDU – aktuell im Wahlkampf und besonders bei einer möglichen Regierungsverantwortung. Die unterzeichnenden Verbände und Organisationen fordern die Parteispitze der CDU sowie alle Teilnehmenden des Parteitags auf: Stehen Sie zu Ihren christlichen und demokratischen Werten und bewahren Sie Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zum Wohle aller Menschen in Deutschland. Stehen Sie für die menschenrechtliche Brandmauer ein – mit Worten und mit Taten.



Online-Akademie: Offene Grenzen und geregelte Migration – (k)ein Widerspruch!?

Heute ermöglicht der Schengen-Raum über 400 Millionen Menschen, frei zwischen Mitgliedstaaten zu reisen, ohne Grenzkontrollen zu durchlaufen – und das seit mehr als 24 Jahren. Nicht erst seit der Covid19-Pandemie kommen diese Regeln aber immer mehr unter Druck und Mitgliedstaaten veranlassen temporäre Grenzkontrollen, die aber immer wieder verlängert werden. In letzter Zeit werden offene Grenzen immer wieder infrage gestellt – mit dem Argument, dies würde helfen, die „illegale Migration“ zu verhindern.

Darüber möchten die Jungen Europäischen Föderalist*innen disktuieren und laden herzlich zu einer Online-Akademie am 06. Februar von 19.00 bis 20.30 Uhr ein. Hier wollen wir mit euch ins Gespräch kommen und von folgenden Expert*innen hören:

  • Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin der WU Wien
  • Sven Hüber, Stellv. Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei
  • Monzer Haider, Flüchtlingsrat Baden-Württemberg

Moderation: Moritz Hergl Stellv. Bundesvorsitzender der JEF Deutschland

Meldet euch unter diesem Link für die Veranstaltung an.


Drohende Abschiebung nach Afghanistan

Bundesregierung und Länder bereiten erneut eine Abschiebung nach Afghanistan vor – trotz eklatanter Menschenrechtsverletzungen im Taliban-Regime. In der Abschiebungshaft Pforzheim inhaftierte Männer, denen die Abschiebung droht, protestieren dagegen mit einem Hungerstreik. Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg verurteilt die Abschiebungspläne aufs Schärfste und appelliert an die Politik, menschenrechtliche Grundsätze auch in Zeiten des Bundestagswahlkampfs zu beherzigen.

Aktuell befinden sich sechs afghanische Männer in der Abschiebungshaft* Pforzheim. Sie sollen nach Afghanistan abgeschoben werden. Dagegen protestieren sie zusammen mit weiteren solidarischen Insassen mit einem Hungerstreik, der seit Montag, dem 13. Januar andauert. „Die meisten von uns standen entweder unter Verfolgung oder haben richtig Probleme mit der Terrororganisation Taliban gehabt und werden diese weiterhin haben und bei unserer Ankunft in Afghanistan werden wir sofort in Lebensgefahr kommen. Das können wir bestimmt nachweisen und von daher haben wir einen Hungerstreik angetreten, um nicht in Lebensgefahr, Folter oder weitere Gefangenschaft durch die Taliban zu kommen“, so die Hungerstreikenden.

„Angesichts der dramatischen Situation vor Ort sind Abschiebungen nach Afghanistan unverantwortlich“, so Sadiq Zartila, Vorstandsmitglied des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg. „Menschen, die nach Afghanistan abgeschoben werden, sind dort einer akuten Bedrohung von Leib und Leben ausgesetzt.“ So kam der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages erst im März 2024 zu dem Ergebnis, dass Abschiebungen nach Afghanistan aufgrund fehlender Sicherheit und einer prekären humanitären Lage vor Ort regelmäßig gegen die Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen. Laut der EMRK darf niemand abgeschoben werden, wenn dadurch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung drohen.

Für den Flüchtlingsrat Baden-Württemberg ist klar: Selbst, wenn Menschen Straftaten begangen haben, dürfen sie nicht nach Afghanistan abgeschoben werden. „Straftaten, die in Deutschland begangen worden sind, müssen auch im Rahmen des Rechtssystems hier bestraft werden“, so Zartila weiter. „Menschenrechte gelten für alle Menschen.“

Bereits Ende August 2024 hatte die Bundesregierung sämtliche dieser rechtlichen Grundsätze ignoriert. In Kooperation mit einigen Bundesländern sowie mit Unterstützung des für seine Menschenrechtsverletzungen berüchtigten katarischen Regimes wurde eine Abschiebung per Sammelcharter nach Afghanistan organisiert. Nachdem Abschiebungen nach Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban eigentlich ausgesetzt worden waren, hatte die Bundesregierung es in Kauf genommen, durch die Aufnahme zumindest indirekter Beziehungen einen wesentlichen Beitrag zur Normalisierung des Taliban-Regimes auf internationaler Bühne zu leisten. „Die terroristische Herrschaft der Taliban darf nicht mit weiteren Abschiebungen nach Afghanistan unterstützt werden“, so Zartila vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg.

Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg befürchtet, dass die Bundesregierung mit der Organisation einer erneuten Abschiebung nach Afghanistan im Kontext des Bundestagswahlkampfs migrationspolitische Härte demonstrieren will. Der Verein appelliert an alle Entscheidungsträger*innen, menschenrechtliche Grundsätze auch in Wahlkampfzeiten uneingeschränkt zu beherzigen und daraus die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen: Weitere Abschiebungen nach Afghanistan darf es nicht geben.

*Abschiebungshaft ist nicht gleichbedeutend mit Strafhaft. Durch Abschiebungshaft soll die Abschiebung der inhaftierten Person gesichert werden. Eine allgemeine Positionierung des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg zu Abschiebungen finden Sie in unserem entsprechenden Positionspapier.


Offener Brief zur Lage in Rojava

Liebe Freund*innen,

vielleicht beschäftigt euch die Situation in Syrien gerade ebenso wie uns. Vor allem die Situation der Menschen in Rojava bereitet große Sorge.

Einst galten die Kräfte der YPG und YPJ (Volks- und Frauenverteidigungseinheiten) als heroische Kämpfer*innen im Kampf gegen die IS-Terrormiliz, als wahre Verteidiger*innen der Freiheit und Sicherheit. Sie opferten ihr Leben, während die Welt im Westen oft in alltägliche Sorgen wie die Urlaubsplanung vertieft war. Die Stadt Kobane, die zum Symbol des Widerstandes wurde, leitete eine entscheidende Wendung im Kampf gegen den IS ein. Doch heute steht Kobane erneut an der Schwelle einer existenziellen Bedrohung, und mit ihr das Überleben einer ganzen Gesellschaft. Was die IS-Terroristen 2014 nicht fertigbrachten, versucht nun der türkische Staat zu beenden.

Die türkische Armee und ihre jihadistischen Verbündeten aus Syrien führen seit Jahren wiederholte Angriffe auf die Menschen in Rojava. Diese Angriffe sind keine neuen Ereignisse, sondern Teil eines schrecklichen Musters: Die Türkei und ihre jihadistischen Verbündeten führten bereits drei völkerrechtswidrigen Kriege gegen das Gebiet (2016, 2018 und 2019), der vierte begann Ende November 2024. Während viele Syrer*innen den Sturz von Assad feiern, konzentriert sich die Türkei darauf, zivile Infrastruktur, Wohngebiete und sogar Journalist*innen zu bombardieren, als wären dies legitime Kriegsziele. Es gibt keinerlei Hemmungen mehr. Gleichzeitig führt sie einen schrecklichen Krieg gegen die Natur und setzt Wasser als Waffe ein – eine Kollektivbestrafung der Menschen in Rojava, deren Region als Kornkammer Syriens gilt.

Die Region, die aufgrund der Kontrolle des Euphrats durch die Türkei systematisch unter Wasserknappheit leidet, steht vor einer existenziellen Krise. Der Euphrat ist die Lebensader für Millionen von Menschen, die mit ihm ihre Felder bewässern. Doch die türkische Regierung nutzt diese lebenswichtige Ressource als Druckmittel und zielt damit auf die Ernährungssicherheit der Menschen in Rojava. Seit einem Monat verschlechtert sich die Lage der zivilen Bevölkerung dramatisch. Der Tischrin-Staudamm, ein strategisch und wirtschaftlich wichtiger Bau am Euphrat, steht durch fortgesetzte türkische Angriffe kurz vor dem Kollaps – eine Katastrophe, die eine humanitäre Krise von unvorstellbarem Ausmaß für die Region bedeuten würde.

Die Brutalität der Angriffe ist in zahlreichen erschütternden Videos zu sehen, in denen türkische Drohnen einen zivilen Konvoi bombardieren, der sich friedlich gegen die türkische Bombardierung und für den Schutz ihrer lebenswichtigen Wasserquelle einsetzt. Der Schmerz und die Verzweiflung der Menschen in Rojava sind greifbar – und die Welt schaut zu, während die Gewalt weiter eskaliert. Dass Außenministerin Baerbock bei einem Besuch in Ankara kürzlich auch noch die Entwaffnung der Kurd:innen forderte, ist besonders perfide.

Syrien ist weit weg und das aktuelle Geschehen in Rojava ist im weltpolitischen Zirkus vermutlich eher eine Randnotiz.

Warum sollte uns das alles eigentlich interessieren?

Rojava, das kurdische Autonomiegebiet in Nordsyrien, ist besonders wegen seines einzigartigen politischen Systems, das auf den Prinzipien von Solidarität, direkter Demokratie, Gleichberechtigung und einer alternativen Ökonomie basiert. Die Bevölkerung organisiert sich in demokratischen Räten, die Entscheidungen auf lokaler Ebene treffen. Frauen spielen eine zentrale Rolle in der Gesellschaft, sowohl politisch als auch militärisch, was die Gleichberechtigung fördert. Die Ökonomie orientiert sich an einem kooperativen Modell, das auf Gemeineigentum, ökologischer Nachhaltigkeit und fairer Verteilung basiert. Dieses System stellt einen gelebten Gegenentwurf zu den meisten politischen Systemen der Welt dar.

Was in Rojava entstanden und gelebt wird, ist in mancher Hinsicht weit mehr als das, was wir uns in der westlichen Welt an Werten auf die Fahnen schreiben. Wenn sich nun Stimmen erheben, die rufen, dass in Nordsyrien „unsere“ Werte verteidigt werden, dass die Menschen Unterstützung und Schutz benötigen, die uns vor jihadistischem Terror beschützt haben, dann ist das nur zum Teil richtig.

Denn es geht vor allem um Menschenleben, um den Schutz von Zivilgesellschaft und die Existenz einer ganzen Gesellschaft. Und noch eines ist wichtig. Vielleicht der wichtigste Punkt überhaupt:

Wir alle brauchen Rojava! Es ist weit mehr als nur ein kleiner Landstrich. Es ist eines der letzten leuchtenden Symbole für eine Gesellschaftsordnung, die ein reales Projekt der Solidarität, Gerechtigkeit, Pluralität und Gleichheit lebt. Projekte wie Rojava zeigen, dass ein Leben jenseits kapitalistischer Verwertungslogiken möglich ist und die Alternative in unsicheren Zeiten nicht Rechtsruck heißen muss.

Damit hat der Schutz von Rojava außerordentliche Bedeutung für uns alle!

Die bisherigen Angriffe haben bereits zu vielen Verletzten, Toten und Vertreibung geführt. Deshalb würden wir uns freuen, wenn auch ihr auf die Situation der Menschen dort aufmerksam macht. Hier findet ihr weitere Informationen und auch die Möglichkeit zu spenden: Syrien – Nothilfe für Rojava – medico international.

Munzur und Joachim


Arbeitshilfe: Ältere geflüchtete Menschen

Das Ankommen in Deutschland ist für ältere Menschen mit besonderen Herausforderungen verbunden: Unterbringungseinrichtungen sind häufig nicht barrierefrei; das Schlange stehen vor Behörden ist körperlich anstrengend. Erst seit relativ kurzer Zeit versucht die Politik, die besondere Situation älterer geflüchteter Menschen nach ihrer Ankunft etwas besser zu berücksichtigen. Mit der Überarbeitung der EU-Aufnahmerichtlinie von 2013 wurde die Kategorie der „schutzbedürftigen Personen“ eingeführt, deren besonderen Bedürfnisse während des Asylverfahrens sowie bei der Unterbringung und Versorgung von den EU-Mitgliedstaaten berücksichtigt werden müssen. Hierzu zählen auch ältere geflüchtete Menschen. Ziel der vorliegenden Arbeitshilfe ist es, Menschen, die ältere Geflüchtete in Deutschland begleiten, mit konkreten Informationen zu deren besonderer rechtlichen Situation zu versorgen. Die Arbeitshilfe gliedert sich in zwei Teile. In einem ersten Teil werden Informationen vermittelt, die das Asylverfahren sowie die aufenthaltsrechtliche Situation der Geflüchteten betreffen. In einem zweiten Teil werden sozialrechtliche Dimensionen, wie Unterbringung, Sozialleistungen und Gesundheitsversorgung aufgegriffen.

Diese Arbeitshilfe wurde im Rahmen des Projekts „Perspektive durch Partizipation“ erstellt, gefördert durch die Aktion Mensch.


Pro Asyl: Kritik am Gesetzesentwurf zur GEAS-Umsetzung

PRO ASYL kritisiert den am heutigen Mittwoch beschlossenen Gesetzentwurf zur Umsetzung der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) scharf. Der Entwurf überschreitet die von der Europäischen Union geforderten Mindeststandards erheblich, entrechtet Geflüchtete massiv und verhindert faire Asylverfahren.

„Die Bundesregierung hat mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verpasst, die Menschenrechte zu achten und rechtsstaatliche Standards zu wahren. Der Entwurf beinhaltet die größten Asylrechtsverschärfungen seit Jahrzehnten, es droht Haft von Familien und Kindern – wie weit soll die Entrechtung von schutzsuchenden Menschen noch gehen?“, kritisiert Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher von PRO ASYL.

PRO ASYL fordert: „Die Bundesregierung muss den Gesetzentwurf im Lichte der Menschenrechte überarbeiten, die von der EU gewährten Ermessensspielräume im Sinne des Schutzes von Asylsuchenden nutzen sowie faire und rechtsstaatliche Verfahren unter menschenwürdigen Bedingungen gewährleisten.“

Freiheitsbeschränkungen und neue Haftformen

Obwohl die EU-Vorgaben bereits eine deutliche Verschärfung der Asylpraxis vorsehen, geht der deutsche Gesetzentwurf noch weiter und führt unter dem Deckmantel der GEAS-Umsetzung neue Möglichkeiten der Freiheitsbeschränkung und De-facto-Inhaftierung von Schutzsuchenden ein.

Es drohen geschlossene Zentren, wie es sie bisher in Deutschland noch nicht gibt: Die Flüchtlinge dürfen diese nicht verlassen, teilweise nur, weil sie aus einem bestimmten Herkunftsland kommen. Besonders besorgniserregend ist, dass durch diese Maßnahmen auch Kinder während ihres Asylverfahrens eingesperrt werden könnten.

Schutzsuchende sollen durch Maßnahmen wie die sogenannte Asylverfahrenshaft massiven Freiheitsbeschränkungen unterworfen werden, die mit internationalen Menschenrechtsstandards nicht vereinbar sind. „Diese Haftformen sind unverhältnismäßig und psychisch extrem belastend. Sie erhöhen das Risiko von Suizidversuchen. Ein faires Asylverfahren ist so kaum möglich, da Betroffene unter diesen Bedingungen oft nicht in der Lage sind, ihre Fluchtgründe umfassend darzulegen“, sagt Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher von PRO ASYL.

PRO ASYL lehnt geschlossene Zentren und die Asylverfahrenshaft entschieden ab und fordert die Bundesregierung auf, menschenrechtliche Standards zu wahren.

Ausweitung der „sicheren Staaten“-Konzepte

Mit dem Gesetzentwurf sollen zudem die Konzepte „sicherer Herkunftsstaaten“ und „sicherer Drittstaaten“ massiv ausgeweitet werden, was durch die Vorgaben aus Brüssel nicht zwingend geboten ist.

PRO ASYL sieht in der Ausweitung der „sicheren Staaten“-Konzepte eine unverhältnismäßige Einschränkung des Rechts auf ein faires Asylverfahren. Die Einstufung eines Landes als „sicher“ muss einer gründlichen menschenrechtlichen Prüfung unterzogen werden, die durch die geplanten Änderungen nicht mehr gewährleistet ist. Statt der angestrebten Harmonisierung droht ein Labyrinth paralleler Verfahren zur Einstufung als „sicher“, wobei die strengeren Vorgaben des Grundgesetzes unterlaufen werden können.

Menschenrechte müssen Priorität haben

Bereits im Juli 2024 hatte PRO ASYL gemeinsam mit 25 Organisationen Vorschläge für eine menschenrechtskonforme Umsetzung der GEAS-Reform unterbreitet. Im Oktober reichte PRO ASYL zudem eine umfassende Stellungnahme zum Referentenentwurf beim Bundesinnenministerium ein, die verfassungsrechtliche und menschenrechtliche Probleme benennt.


Offener Brief an baden-württembergische Landesregierung

Es muss endlich Schluss damit sein, Sicherheitspolitik auf dem Rücken geflüchteter Menschen zu machen. Das fordern der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, die Seebrücke Baden-Württemberg, die AWO Württemberg, der Internationale Bund Süd und der Paritätische Baden-Württemberg in einem offenen Brief an die Landesregierung. Damit beziehen die Organisationen gemeinsam Stellung zur aktuellen Debatte, in der Flucht und Migration permanent als Sicherheitsrisiko dargestellt werden. Hiervon zeugen auch die im Bund und in Baden-Württemberg geschnürten „Sicherheitspakete“ sowie der jüngste baden-württembergische Bundesratsantrag vom 17. Oktober, mit dem sich die Landesregierung für eine Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten sowie weitere Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien einsetzt.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann, sehr geehrte Mitglieder der Landesregierung,

wir wenden uns an Sie im Zustand großer Besorgnis. Unter dem Eindruck der Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg sowie des Anschlags von Solingen wurden übereilt „Sicherheitspakete“ auf Bundesebene und auch hier in Baden-Württemberg geschnürt. Hierbei liefert sich die Politik einen Überbietungswettkampf um die vermeintlich effizientesten Maßnahmen zur Abwehr geflüchteter Menschen. Statt den Fokus auf die Bekämpfung von Rechtsextremismus und Islamismus zu legen, setzen Sie sich für Kürzungen von Sozialleistungen Geflüchteter, mehr Abschiebungen und Grenzkontrollen ein. Dadurch werden Flucht und Migration ausschließlich als Problem, sogar als Sicherheitsrisiko, dargestellt.

Besorgt beobachten wir außerdem, wie die harte Gangart in der Migrationspolitik rechtliche Grundsätze ignoriert. Fakt ist, dass die Verstetigung von Grenzkontrollen europarechtswidrig ist und die Europäische Menschenrechtskonvention Abschiebungen verbietet, wenn Betroffene dadurch in Lebensgefahr geraten. Es ist beschämend, dass seitens der politischen Entscheidungsträger*innen rechtliche Errungenschaften in Frage gestellt werden, nur, weil dies gerade politisch opportun erscheint.

Die aktuelle Diskussion gefährdet die Solidarität in der Gesellschaft massiv und führt zu Spaltung. Geflüchtete werden stigmatisiert und auch länger in Deutschland lebende Migrant*innen fühlen sich nicht mehr sicher. Sie erleben im Alltag stetig mehr Rassismus und machen sich zunehmend existentielle Sorgen um Ihre Zukunft in Deutschland. Manche Menschen überlegen sogar, auszuwandern. Ihre Sicherheit und die gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen dieser Entwicklung werden in der aktuellen Debatte völlig ausgeblendet.

Es darf nicht länger der Anschein erweckt werden, dass sicherheitspolitische Interessen durch eine restriktivere Migrationspolitik gewahrt werden könnten. Stattdessen sollte der Fokus auf der Stärkung demokratischer Strukturen, der Teilhabemöglichkeiten aller Menschen sowie der Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts liegen. Wir möchten in einer Gesellschaft leben, in der rechtstaatliche Grundsätze hochgehalten werden – insbesondere in Zeiten, in denen unsere Demokratie gefährdet ist. Niemand darf aufgrund seiner Herkunft als Sicherheitsrisiko abgestempelt werden. Die Würde eines jeden Menschen muss im Mittelpunkt des politischen Diskurses stehen.

Für einen persönlichen Austausch stehen wir gerne zur Verfügung.

Im Einsatz für ein solidarisches Miteinander

der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, die Seebrücke Baden-Württemberg, die AWO Württemberg, der Internationale Bund Süd und der Paritätische Baden-Württemberg