Umfassende Analyse des Asylbewerberleistungsgesetzes

Seit 2015 werden Kürzungen im Asylbewerberleistungsrecht oft damit begründet, dass die Leistungesbezieher*innen geringere Bedarfe in ihrem Leben hätten als andere Menschen. Diese Annahme ist eine Behauptung, für die es keine Daten gibt, und dafür aber erhebliche Zweifel. Die Analyse schlüsselt die fehlenden und unzureichenden Begründungen auf und identifiziert sogar Mehrbedarfe statt geringere Bedarfe. Konkret geht es um Personen, die z.B. als Asylsuchende und Geduldete Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) erhalten.

Die Analyse basiert auf einer Stellungnahme, die für ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eingeholt wurde. Hierüber hat das BVerfG inzwischen im Sinne der Leistungsbezieher*innen entschieden. Bevor die „Bedarfsposten“, aus denen sich die Regelsätze zusammensetzen, detailliert analysiert werden, ordnet der Autor das AsylbLG historisch ein mit Schwerpunkt auf den Gesetzesänderungen seit 2015.



Online-Workshop: Who profits from the Chancen-Aufenthaltsrecht?

Under the Chancen-Aufenthaltsrechts people with a Duldung who have lived in Germany for five years are granted a temporary residence permit. The law offers a perspective for many refugees in Duldung. But there are still quite some obstacles to overcome in order to obtain a long-term right of residence. We will look into the criteria for the Chancen-Aufenthaltsrecht, possible pitfalls and practical tips. There will be enough room for questions.

Prerequisites: You live in Baden-Württemberg. You have a mobile phone / laptop / tablet with good internet. You need a microphone. Your phone/ laptop / tablet must be able to play music.

The workshop is primarily aimed at refugees and will be held in English. No registration is necessary. We meet on Zoom.

Speaker: Maren Schulz (Refugee Council Baden-Württemberg)

If you have any questions, please contact us through: info@fluechtlingsrat-bw.de

The workshop takes place within the framework of the project „Active for Refugees“ from the Refugee Council Baden-Württemberg. This project is supported by the Ministry of Justice and Migration with state funds approved by the Baden-Württemberg state parliament.


Online-Seminar: 1,5 Jahre auf Bewährung? – Das neue Chancenaufenthaltsrecht

Mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht will die Bundesregierung Ausländer*innen, die sich seit langem in Deutschland aufhalten, eine Bleibeperspektive ermöglichen. In dem Online-Seminar werden die Voraussetzungen des Chancenaufenthaltsrechts vorgestellt, mögliche Fallstricke benannt und praktische Tipps gegeben, wie die Chance im Einzelfall möglichst effektiv genutzt werden kann. Dabei besteht auch Raum für Fragen und Austausch.

Referent: Sebastian Röder, Mitarbeiter des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg

Die Veranstaltung richtet sich in erster Linie an ehrenamtlich Engagierte in der Geflüchtetenarbeit. Sie wird mit Zoom durchgeführt und ist kostenlos. Hinweise zum Datenschutz finden Sie hier. Die Teilnahme am Online-Seminar erfolgt am PC. Sie benötigen dazu einen gängigen Internetbrowser, eine stabile Internetverbindung und einen Kopfhörer bzw. Lautsprecher.

Sie erhalten die Zugangsdaten spätestens am Tag vor der Veranstaltung. Bitte beachten Sie: Für die Teilnahme an kostenlosen Online-Seminaren stellen wir keine Teilnahmebestätigungen aus. Von entsprechenden Anfragen bitten wir abzusehen.

AKTUELLER HINWEIS: Es ist keine Anmeldung zur Veranstaltung mehr möglich.

Die Veranstaltung findet im Rahmen des Projekts „Aktiv für Flüchtlinge“ statt, unterstützt durch das Ministerium der Justiz und für Migration aus Landesmitteln, die der Landtag Baden-Württemberg beschlossen hat.


VG KA: Keine Abschiebung von Kandidat*innen auf das Chancenaufenthaltsrecht

Das Verwaltungsgericht (VG) Karlsruhe hat mit Beschluss vom 18.11.2022 (19 K 3710/22) einem Eilantrag eines von Abschiebung bedrohten Gambiers stattgegeben und festgestellt:

„In Baden-Württemberg können sich Personen, die nach dem Gesetzesentwurf des § 104c AufenthG (BT-Drs. 20/3717) zu den Begünstigten des „Chancen-Aufenthaltsrechts“ zählen werden, auf eine Verwaltungspraxis berufen, nach der die Abschiebung derzeit regelmäßig ausgesetzt wird.

Ein mit einer Ausweisung angeordnetes Einreise- und Aufenthaltsverbot ist nach Tilgung zugrunde liegender Straftaten aus dem Bundeszentralregister aufzuheben (Anschluss an VHG Baden-Württemberg, Urt. v. 21.11.2016 – 11 S 1656/16).“

Der Beschluss ist noch nicht rechtskräftig.

Geduldete, die in der Vergangenheit aufgrund von Straftaten verurteilt worden sind, sollten unbedingt eine Abfrage beim Bundeszentralregister machen. So können sie sich einen Überblick über noch nicht getilgte Straftaten verschaffen. In Einzelfällen mag eine vorzeitige Tilgung in Frage kommen – hierfür sollte ein*e Anwält*in zur Rate gezogen werden. Wann Straftaten getilgt werden (bzw. tilgungsreif sind), ergibt sich aus § 46 BRZG. Wichtig: Liegen mehrere Verurteilungen vor, werden alle Verurteilungen erst nach Ablauf der längsten Frist gleichzeitig getilgt. Nur sehr schwere Straftaten können nie getilgt werden.



„Zwangsverpartnerung“ im AsylbLG verletzt Grundrechte

Alleinstehende Asylbewerber*innen und Geduldete in Gemeinschaftsunterkünfte erhalten gekürzte Leistungen nach § 2 AsylbLG, da davon ausgegangen wird, dass sie dort in einer eheähnlichen Partnerschaft wohnen. Diese „Zwangsverpartnerung“ verletzt das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum.

Pro Asyl hat eine Stellungnahme in Auftrag gegeben, aus der hervorgeht, dass die Annahme einer eheähnlichen Lebenssituation in Sammelunterkünften realitätsfern ist und es hierfür keine empirischen Beweise gibt. Das Bundesverfassungsgericht hatte Pro Asyl und andere angefragt, eine Stellungnahme zu verfassen, da es Ende November über die Verfassungsmäßigkeit der Leistungskürzung für Alleinstehende in Gemeinschaftsunterkünften entscheiden wird.

Betroffene sollten noch schnellstens Klage gegen gekürzte Leistungen erheben!


Sie bekommen Asylbewerberleistungen? Dann jetzt noch klagen!

Geflüchtete in Duldung und Aufenthaltsgestattung erhalten Asylbewerleistungen (AsylbLG). Diese Leistungen werden vermutlich noch dieses Jahr vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) umfassend geprüft. Nach Einschätzung einschlägiger Sozialrechtler*innen ist derzeit nahezu jeder AsylbLG-Bescheid juristisch angreifbar (ggf. abgesehen von Analogleistungen bei Wohnungsunterbringung). Sie bekommen nur Leistungen nach Regelbedarfstufe 2, weil Sie als Alleinstehende*r in einer Gemeinschaftsunterkunft wohnen? Sie erhalten gekürzte Leistungen nach §1a AsylbLG? Sie bekommen ganz „normale“ undurchsichtige Leistungsbescheide nach § 3 AsylbLG? Sie erhalten Bargeldauszahlungen ohne schriftlichen Bescheid? Dann klagen Sie jetzt:

  • ggf. schriftlichen Bescheid anfordern und Widerspruch einlegen. Am besten mit Hilfe einer einschlägig kompetenten Anwält*in Klage einlegen (es gibt Prozesskostenhilfe!).
  • per Überprüfungsantrag bereits in der Vergangenheit erhaltene Leistungen erneut überprüfen lassen und dagegen auch Klage einreichen (gewährte Leistungen müssen dann bis zum 1.1. des Vorjahres korrigiert werden).

Wenn das BVerfG erst einmal entschieden hat, wird es wohl so sein, dass nur diejenigen mit laufenden Klage- oder Widerspruchsverfahren rückwirkend – also über das Datum der BVerfG-Entscheidung hinaus – korrigierte Leistungen bekommen. Wer Recht bekommt, hat übrigens auch Anspruch auf Verzinsung von Nachzahlungsansprüchen.

Wer erstmal selbst tätig werden möchte, kann sich in der Handreichung zum Asylbewerberleistungsgesetz – Praxishilfe des Flüchtlingsrates Brandenburg für die Beratung von Geflüchteten Hilfestellung holen.

Anwält*innen und weitere Informationen auf Englisch, Arabisch, Dari, Französisch, Somali, Italienisch, Türkisch und Tigrinya finden Sie bei Mit Recht zum Recht.

Beim BVerfG sind derzeit zwei AsylbLG-Verfahren anhängig: Dabei geht es zum Einen um die Herabstufung von Alleinstehenden in Gemeinschaftsunterkünften und zum Anderen um Berechnung und Konstruktion der Grundleistungen nach §3 AsylbLG a.F. Wir gehen davon aus, dass das BVerfG das Gesamtkonstrukt des AsylbLG umfassend überprüft.


Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan

Endlich gibt es ein Bundesaufnahmeprogramm (BAP) für Afghan*innen. Viel zu lange haben viel zu viele Menschen in höchster Gefahr in Afghanistan auf ein entsprechendes Aufnahmeprogramm der Bundesregierung gewartet. Das Aufnahmeprogramm soll noch im Oktober 2022 starten und pro Monat sollen 1000 Aufnahmezusagen für Personen in Afghanistan erteilt werden. Besonders gefährdete Personen sollen darüber aufgenommen werden. Das Auswahlsystem ist komplex. Es werden zivilgesellschaftliche Organisationen befugt, Menschen vorzuschlagen (meldeberechtigte Stellen). Betroffene selbst können sich nicht registrieren lassen. In der ersten Phase werden nur Fälle bearbeitet, die bereits meldeberechtigten Stellen vorliegen. Diese Eingaben werden dann digital vor- und aussortiert. Bereits in andere Länder geflüchtete Afghan*innen haben keinen Zugang zum Aufnahmeprogramm. Dies wird zurecht kritisiert.



Steigende Energiekosten – was tun?

Die Kosten für Energie und andere Dinge des täglichen Bedarfs steigen enorm. Das bringt vor allem Personen mit geringem Einkommen und/oder in Sozialleistungsbezug in äußerst schwierige Lagen. Schulden und Mahnungen bis hin zu drohender Sperrung von Strom oder Gas können die Folge sein. Besonders Geflüchtete leben oft mit sehr geringem Einkommen/Sozialleistungen und brauchen nun Unterstützung.

Die Internetseite www.energie-hilfe.org informiert über Möglichkeiten, sich die Heiz- und Betriebskosten vom Jobcenter/Sozialamt erstatten zu lassen. Sie stellt Musteranträge und jede Menge Informationen zur Verfügung. Besonders für Personen, die Grundsicherung beziehen, angestellt arbeiten oder selbstständig sind, Auszubildende und Schüler*innen oder die Rente, ALG I oder Krankengeld bekommen.

Fallen Geflüchtete unter § 2 Asylbewerberleistungsgesetz, sind die Informationen zu SGB II/SGB XII-Leistungsbezieher*innen und Arbeitnehmer*innen analog anwendbar. Personen, die unter §§ 3, 3a AsylbLG fallen, wenden sich bitte an eine Beratungsstelle oder den Flüchtlingsrat.


Ratgeber Ehrenamt mit traumatisierten Geflüchteten

Ehrenamtliche leisten Geflüchteten große Unterstützung, sich in Deutschland zurecht zu finden und anzukommen. Dies erfordert viel Hingabe, Zeit und Kraft. Denn es gibt viele Herausforderungen, die Geflüchtete in Deutschland zu meistern haben.

Der fachliche Ratgeber des Caritas Therapiezentrum für Menschen nach Folter und Flucht in Köln möchte Unterstützer*innen in ihrem Ehrenamt im Kontext Flucht und Trauma stärken. Er klärt über seelische Verletzung durch Krieg, Verfolgung und Flucht sowie Besonderheiten im Ehrenamt mit traumatisierten Geflüchteten auf. Auch geht es um Strategien der Selbstfürsorge und Unterstützungsangebote.



Pro Asyl: Was Deutschland zum Schutz geflüchteter Frauen und Mädchen tun muss

Anfang Oktober 2022 hat der Kontrollausschuss des Europarats GREVIO seinen ersten Bericht zur Umsetzung der Istanbul Konvention in Deutschland veröffentlicht. Darin bemängelt GREVIO etliche Umsetzungslücken, besonders im Hinblick auf Geflüchtete. Die Bundesregierung muss nun reagieren.

Als Vertragsstaat der Istanbul Konvention hat Deutschland sich verpflichtet, Frauen umfassend vor häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt zu schützen. Das ist verbindlich und gilt ausnahmslos – auch für geflüchtete Frauen, auch für Frauen ohne Aufenthaltsrecht. Nun weist der Kontrollausschuss GREVIO an vielen Stellen auf die Situation asylsuchender Frauen und anderer marginalisierter Gruppen hin, die nicht im gleichen Maße von Gewaltschutzmaßnahmen profitieren können. Darüber hinaus fordert GREVIO im Bericht »Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Erster Bericht des Expertenausschusses (GREVIO) zur Umsetzung der Übereinkommens des Europarats vom 11. Mai 2011 (Istanbul-Konvention)« in Deutschland auch spezifische Maßnahmen im Asylbereich. Die Kritik des Kontrollausschusses des Europarats deckt sich in vielen Punkten mit dem, was zivilgesellschaftliche Organisationen seit langem bemängeln.

Damit hat die Bundesregierung vom Europarat mit Blick auf Geflüchtete einige Hausaufgaben erhalten:

  • Sichere Unterbringung: Die Unterbringung vieler asylsuchender Frauen ist laut GREVIO »nicht dazu geeignet, ihnen ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln«. (358)* Die Unterkünfte böten auch nicht die Bedingungen, unter denen Frauen und Mädchen, die vor geschlechtsspezifischer Verfolgung geflohen sind, ihre Erlebnisse verarbeiten könnten, um sie im Rahmen einer Asylanhörung vorzubringen. GREVIO fordert die deutschen Behörden dazu auf, sicherzustellen, dass alle asylsuchenden Frauen und Mädchen eine angemessene und sichere Unterbringung erhalten, unter anderem durch Umsetzung standardisierter Gewaltschutzkonzepte (»Protokolle«).
    Die Forderung nach flächendeckenden, verbindlichen Gewaltschutzstandards in den Unterkünften für Geflüchtete teilen viele zivilgesellschaftliche Organisationen. PRO ASYL hat gemeinsam mit einigen Flüchtlingsräten im Schattenbericht von Juli 2021 darüber hinaus analysiert, dass die Unterbringung in so genannten Gemeinschaftsunterkünften dem Gewaltschutz von Frauen generell zuwider läuft und die Unterbringung in normalen Wohnungen das Ziel sein muss.
  • Zugang zu Hilfe und Fachdiensten: Das Hilfesystem – von der Fachberatung bis zur Traumatherapie – ist allgemein durch den Mangel an Plätzen und Finanzierung gekennzeichnet. GREVIO fordert einen Ausbau des Hilfesystems. Der Ausschuss weist auf die Belastungen gerade asylsuchender Frauen hin, die im Herkunftsland und auf der Flucht häufig dramatische Gewalterfahrungen gemacht haben, und thematisiert ihren eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsdiensten: »GREVIO ist der Ansicht, dass mehr getan werden muss, um die Barrieren beim Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen für Frauen mit Behinderungen und Asylbewerberinnen zu beseitigen.« (150) Es gebe »zahlreiche Beispiele, in denen Frauen und Mädchen keinen oder nur schwer Zugang zu spezialisierten Unterstützungsdiensten für Erfahrungen mit sexueller Gewalt, häuslicher Gewalt und anderer geschlechtsspezifischer Gewalt haben. (…) Es ist dringend erforderlich, dass ihr Zugang zu Dienstleistungen landesweit und in jedem Asylbewerberheim und jeder Unterkunft sichergestellt wird.« (161)
  • Identifizierung und Versorgung von Frauen mit Gewalterfahrung: Die Praxis in Deutschland gleicht einem Flickenteppich – landesweit standardisierte Leitlinien für die Identifizierung vulnerabler Geflüchteter gibt es nicht. Sie werden bei ihrer Ankunft auch nicht routinemäßig auf Traumata oder Langzeitfolgen von Erfahrungen mit geschlechtsspezifischer Gewalt untersucht. GREVIO »appelliert nachdrücklich« an die deutschen Behörden, »standardisierte Versorgungswege zu implementieren, die die Identifizierung (…), das Screening, die Diagnose, die Behandlung, die Dokumentation von Verletzungen und die Überweisung an die entsprechenden spezialisierten Unterstützungsdienste umfassen.« (150)
    Aus dieser Aufforderung folgt: Sämtliche beteiligten Behörden sind hier gemeinsam in der Pflicht, geflüchtete Frauen mit ihren Gewalterfahrungen nicht nur zu identifizieren, sondern auch alle notwendigen Unterstützungsleistungen (wie etwa Psychotherapie, medizinische Behandlung, Fachberatung) sicherzustellen. Eine alleinige Verlagerung der Identifizierungsprozesse in die Hände von Nichtregierungsorganisationen, etwa im Rahmen der von der Bundesregierung geplanten unabhängigen Asylverfahrensberatung, ist nicht ausreichend.
  • Behördenübergreifende Unterstützungsstrukturen: Gute Projekte der behördlichen Zusammenarbeit gibt es. Sie beziehen sich laut GREVIO aber fast ausschließlich auf häusliche Gewalt, weniger auf sexuelle Gewalt, Zwangsheirat, Femizide und andere von der Istanbul Konvention erfasste Gewaltformen. GREVIO kritisiert insbesondere das Fehlen geeigneter Unterstützungsstrukturen für geflüchtete Frauen in den Erstaufnahmeeinrichtungen: »Und schließlich gibt es überhaupt keine behördenübergreifende Zusammenarbeit, wenn es um asylsuchende Frauen in Aufnahmezentren geht.« (131) Manchen Gruppen bräuchten zudem einen »proaktivere(n) Ansatz, um sie über ihre Rechte und darüber zu informieren, wo sie Hilfe finden können (…) beispielsweise durch Informationspakete für neu angekommene asylsuchende Frauen und Migrantinnen.« (140)
  • Kritik an Wohnsitzauflagen und mangelndem Zugang zu Schutzräumen: Viele asylsuchende Frauen dürfen ihren Wohnort nicht ohne Weiteres verlassen. »Ernsthaft besorgt« zeigt sich GREVIO deshalb beim Thema Frauenhäuser und moniert »strukturelle Hindernisse« aufgrund komplexer Finanzierungsanforderungen verbunden mit strengen Wohnsitzauflagen.« (172) Nur in wenigen Bundesländern funktioniert die Aufnahme. (173) GREVIO fordert die deutschen Behörden auf, Zahl und Verteilung der Schutzräume für Opfer häuslicher Gewalt zu erhöhen, so dass auch »asylsuchende Frauen und solche mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus – kostenlosen Zugang zu speziellen Schutzräumen für häusliche Gewalt haben«. (177) GREVIO appelliert außerdem nachdrücklich, in den Unterkünften die Anwendung des Gewaltschutzgesetzes sicherzustellen. (326) Nach diesem Gesetz können zum Beispiel gerichtliche Schutzanordnungen Frauen helfen, Gewalttäter aus dem sozialen Umfeld fernzuhalten.
  • Bessere Ausbildung von BAMF-Sachbearbeiterinnen und Dolmetscherinnen: Die Istanbul Konvention sichert Frauen »geschlechtersensible Asylverfahren« GREVIO moniert, dass die Sachbearbeiter*innen des BAMF nicht ausreichend ausgebildet seien, »um Verdachtsfälle von geschlechtsspezifischer Gewalt und Verfolgung zu erkennen und darauf zu reagieren«. Zwar habe das BAMF Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung. GREVIO kritisiert aber, »dass das Ausbildungsniveau der Sonderbeauftragten nicht für alle Beamten verpflichtend ist«. (101, 102) Überdies gebe es immer wieder Berichte über ungeschulte Dolmetscher*innen oder solche, die ihre eigene kulturelle Interpretation der vom Antragsteller vorgetragenen Fakten übernehmen. Daher sieht GREVIO »die Verpflichtung, bereits bei der Erstbefragung eine angemessene Verdolmetschung durch zugelassene Dolmetscher desselben Geschlechts sicherzustellen, die über fundierte Kenntnisse der Besonderheiten und Sensibilitäten im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Verfolgung verfügen«. (358) Deutschland solle sicherstellen, »dass alle an den Asylverfahren beteiligten Personen (Befrager, Dolmetscher, Rechtsanwälte) eine angemessene Schulung über geschlechtsspezifische Verfolgung und geschlechtsspezifische Gewalt erhalten«. Außerdem fordert GREVIO die systematische und umfassende Information von asylsuchenden Frauen über ihre Rechte und mögliche Asylgründe. (362)
  • Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung: GREVIO weist auf die Kritik an der Anerkennungspraxis des Bundesamtes zur geschlechtsspezifischen Verfolgung hin. Zwar kann eine Verfolgungshandlung, die allein an das Geschlecht anknüpft, laut Asylgesetz zu einer Anerkennung führen, in der Praxis des BAMF reicht dieser Umstand jedoch regelmäßig nicht aus. Zudem wird geschlechtsspezifische Verfolgung im familiären Umfeld oft als unpolitisch und damit als nicht asylrelevant eingestuft. GREVIO nimmt Bezug auf das so genannte Non Refoulement- Gebot, das – neben der GFK – auch in der Istanbul-Konvention enthalten ist: Verfolgte Menschen dürfen nicht in Länder abgeschoben werden, in denen ihr Schutz nicht gewährleistet ist. Das Versagen bei der Durchführung systematischer Gefährdungsbeurteilungen könne, so GREVIO, »zu Abschiebungen führen (…) und somit einen Verstoß gegen die Verpflichtung zur Nichtzurückweisung darstell(en)«. (372)
  • Unabhängiges Aufenthaltsrecht: Mit Blick auf etwaige Partnerschaftsgewalt appelliert GREVIO »nachdrücklich« an die deutschen Behörden, »allen Frauen in Deutschland (…) die Möglichkeit zu geben, eine eigenständige Aufenthaltserlaubnis zu beantragen«. Deutlicher wird GREVIO an dieser Stelle nicht – möglicherweise deshalb, weil die alte Bundesregierung bei der Ratifizierung der Konvention Vorbehalte gegen Art. 59 Abs. 2 und 3 IK eingelegt hat, die mit diesem Thema in Zusammenhang gebracht werden können. Tatsächlich sind etliche geflüchtete Frauen von der Aufenthaltserlaubnis ihres Mannes abhängig – bei einer Trennung droht der Absturz der Frauen in die rechtliche und soziale Bodenlosigkeit. Die im Aufenthaltsgesetz verankerte Härtefallregelung funktioniert in der Praxis nicht gut. Eine Regelung, die allen Frauen nach einer gewissen Zeit ein vom Mann unabhängiges Aufenthaltsrecht einräumt, wäre ein großer Fortschritt. Außerdem hinaus sollte die Bundesregierung endlich auch ihre Vorbehalte gegen Istanbul Konvention fallenlassen.
  • Ausbau der Datenerfassung zur Gewalt gegen Frauen. Mit der von der Bundesregierung geplanten Einrichtung einer Monitoringstelle beim Deutschen Institut für Menschenrechte ist künftig hoffentlich ein deutlich besserer Einblick in die Datenlage zur Gewalt gegen Frauen zu erwarten – wenn denn die Daten von den jeweiligen Behörden zur Verfügung gestellt werden: Im Asylverfahren beispielsweise wird vom BAMF bislang nur eine einzige Zahl veröffentlicht: die der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund geschlechtsspezifischer Verfolgung. Unbekannt ist etwa, wie viele Frauen und Mädchen subsidiären Schutz oder Abschiebungsverbote aufgrund von geschlechtsspezifischer Gewalt erhalten, und wie viele trotz solcher Erfahrungen abgelehnt werden. Für das BAMF ergibt sich aus dem Bericht von GREVIO künftig die Aufgabe, »ein Datenerfassungssystem einzuführen, das die Registrierung und den Ausgang von Asylanträgen ermöglicht, die aufgrund von geschlechtsspezifischer Verfolgung gestellt werden« (12).

Das Vertragsstaatenkomitee der Istanbul Konvention wird voraussichtlich im Dezember 2022 auf der Grundlage des GREVIO-Berichts Empfehlungen an Deutschland verabschieden. Dann erhält die deutsche Regierung eine Frist von drei Jahren zur Umsetzung.

Die Bundesregierung selbst hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, die Istanbul Konvention »vorbehaltlos und wirksam« umsetzen zu wollen. Die von GREVIO geforderte und von der Bundesregierung versprochene Koordinierungsstelle wie auch eine Monitoringstelle sind erfreulicherweise inzwischen auf dem Weg. Wenn die Bundesregierung es ernst meint mit dem Gewaltschutz von Frauen, hat sie allerdings noch eine Menge mehr zu tun.

*Die Zitate stammen aus der deutschen Übersetzung des BMFSFJ, in Klammern jeweils die laufende Ziffer im Text, hier 358.