Afghanistan-Abschiebung verschoben: Jetzt politische Konsequenzen ziehen!
Der für heute geplante bundesweite Sammelabschiebe-Charter nach Afghanistan wurde wegen Sicherheitsbedenken verschoben. Dies bestätigt die Kritik von PRO ASYL und den Landesflüchtlingsräten an den Abschiebungen nach Afghanistan, das laut Global Peace Index das unsicherste Land der Welt ist. Afghanistan befindet sich sicherheitstechnisch im freien Fall. Die prekäre Sicherheitslage hat sich durch den am 1. Mai begonnenen Abzug der NATO-Truppen weiter verschärft. Wie das Machtvakuum gefüllt wird, ist ungewiss. Eine Zunahme der Angriffe durch die Taliban und Versuche zur Machtübernahme sind zu erwarten. Darüber hinaus hat sich die wirtschaftliche Lage in Afghanistan auf Grund der Covid-19-Pandemie extrem verschlechtert, sodass Abgeschobenen ohne familiäres oder soziales Netzwerk die Verelendung droht. Trotzdem bleibe der Grundsatz des Innenministeriums zu Abschiebungen nach Afghanistan weiter unverändert, wie dpa berichtet. Dass der für Dienstag geplante Abschiebeflug nicht vollständig abgesagt, sondern lediglich verschoben wurde, ist vollkommen unangemessen.
PRO ASYL und die Landesflüchtlingsräte fordern:
1.) Die Bundesregierung und die Bundesländer müssen einen sofortigen und ausnahmslosen Abschiebestopp nach Afghanistan erlassen. Aus der prekären und völlig ungewissen Sicherheitslage sowie angesichts der desaströsen wirtschaftlichen Situation, die sich ebenfalls mit dem Truppenabzug weiter verschärfen wird, muss ein bundesweites Abschiebeverbot nach Afghanistan folgen, welches es bei der nächsten Innenministerkonferenz zu beschließen gilt. Bereits jetzt können und müssen die Bundesländer auch in eigener Verantwortung die Abschiebungen nach § 60 a) Abs. 1 AufenthG für sechs Monate ausnahmslos aussetzen.
Geflüchtete sind nach der Abschiebung aus Deutschland häufig auch in Afghanistan stigmatisiert. Viele Gerichte, darunter auch der Verwaltungsgerichtshof in Baden-Württemberg, haben festgestellt, dass ihnen eine Rückkehr ohne ein stabiles familiäres oder soziales Netzwerk in Afghanistan nicht zuzumuten ist.
2.) Das Auswärtige Amt muss die Lage und Verfolgungssituation umgehend neu bewerten, da die Lageberichte Grundlage für Asylentscheidungen des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sind. Bisher werden Asylanträge abgelehnt mit der Begründung, es gebe innerhalb des Landes sichere Gebiete, sogenannte innerstaatliche Fluchtalternativen. Doch nach dem Truppenabzug der NATO können auch Städte wie Kabul nicht länger als sicher gelten. Wie aus einem Spiegel-Artikel vom 29.04.2021 hervorgeht, schließen Außen- und Verteidigungsministerium selbst einen „Sturm auf Kabul“ durch aufständische Gruppen nicht mehr aus.
3.) Mit dem Truppenabzug muss allen afghanischen Ortskräften – Dolmetscher:innen, Fahrer:innen und sonstigen Mitarbeitenden der Bundeswehr, der Bundespolizei und anderer Organisationen – mit ihren Familienangehörigen schnell und unbürokratisch die Aufnahme im Bundesgebiet angeboten werden. Sie müssen eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland erhalten. Diese Menschen jetzt zurückzulassen, wäre für sie und ihre Familien lebensgefährlich.
4.) Die Bundesregierung muss jetzt den Familiennachzug aus Afghanistan zu ihren in Deutschland lebenden Angehörigen mit allen Mitteln beschleunigen und unterstützen. Hierzu muss ebenso wie für Ortskräfte ein schnelles, unbürokratisches Verfahren installiert werden. Für diese ist die Eröffnung zweier Büros in Kabul und Masar-e Sharif geplant, von wo aus die Aufnahme organisiert werden soll. Da die Visaabteilung der Botschaft in Kabul infolge eines Anschlags weiterhin geschlossen ist, müssen diese Büros auch für den Familiennachzug genutzt werden. Eine kurzfristige Aufstockung des Personals an den Botschaften in Islamabad oder Neu-Delhi – die derzeit für Visaanträge afghanischer Staatsangehöriger zuständig sind – ist notwendig. Angesichts der Zeitknappheit und der Gefahren, die den Antragstellenden bei der Reise dorthin drohen, reicht das jedoch nicht aus. Es kann schutzsuchenden Afghanen nicht zugemutet werden, monatelang in Neu-Delhi oder Islamabad auf Termine zur Visumsvergabe zu warten.
5.) Das BAMF muss seine Widerrufspraxis ändern. In jüngerer Zeit widerruft das BAMF in zahlreichen Fällen, in welchen noch vor wenigen Jahren jungen unbegleiteten Minderjährigen die Flüchtlingseigenschaft wegen (drohender) Zwangsrekrutierung durch die Taliban zugesprochen worden war, kurz nach Erreichen der Volljährigkeit den Flüchtlingsstatus. Das darf nicht länger gängige Praxis sein. Auch Abschiebungsverbote werden mit Erreichen der Volljährigkeit widerrufen, da das Bundesamt davon ausgeht, dass es jungen Männern möglich ist, ein Leben am Rande des Existenzminimums auch ohne familiäres oder soziales Netzwerk zu führen. Dies ist indessen – wie jüngst im oben genannten Urteil des VGH Baden-Württemberg deutlich aufgezeigt wurde – nicht der Fall. Widerrufe des BAMF müssen folglich unterbleiben.
6.) Ein gesichertes Bleiberecht muss es auch für jene Afghanen geben, die nur mit einer Duldung in Deutschland leben oder sich seit Jahren im Asylverfahren befinden. Kein Afghane, keine Afghanin in Deutschland darf in der jetzigen Lage zurückgeschickt werden – egal, ob sie erst vor wenigen Monaten angekommen sind oder seit Jahren hier leben. Die Folgen einer Duldung sind nicht nur ein Leben in ständiger Angst, Perspektivlosigkeit und Armut, sondern auch geringere Chancen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, in der Bildung und in der Entwicklung persönlicher Potenziale. Letztlich sind dies auch verpasste Chancen für die Gesellschaft, in der diese Menschen leben. Mit Blick auf die gemeinsame gesellschaftliche Zukunft ist es geboten, diesen Menschen jetzt eine Lebensperspektive zu eröffnen und ihnen die in einem solchen Fall anstelle von Kettenduldungen gesetzlich vorgesehenen Aufenthaltserlaubnisse zu erteilen.
Beiträge
Datenschutz soll für Geflüchtete weiter ausgehöhlt werden
Persönliche Daten von Bürgerinnen und Bürgern zu sammeln und sie dann in einer zentralen Datei zusammenzuführen, ist in Deutschland eigentlich ein Tabu. Das hat nicht zuletzt die Diskussion über eine zentrale Erfassung von anonymisierten Daten zu Corona-Infektionen gezeigt. Anders verhält es sich jedoch im Falle von Geflüchteten: Geht es nach der Bundesregierung, scheint der Datenschutz für Menschen ohne deutschen Pass nicht zu zählen. PRO ASYL, die Flüchtlingsräte und der Verein Digitalcourage fordern: Datenschutz muss auch für Geflüchtete sichergestellt werden. Der derzeit verhandelte Gesetzentwurf zum Ausländerzentralregister muss dringend überarbeitet werden.
Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters will die Bundesregierung zahlreiche Informationen über Geflüchtete zentralisiert erfassen und staatlichen Stellen zugänglich machen – inklusive der Erkenntnisse aus den Asylverfahren. Dazu zählen auch intime Details wie sexuelle Orientierung, Religionszugehörigkeit, politische Ansichten und Fluchtgeschichten. Das Ausländerzentralregister (AZR) kann schon jetzt von rund 16.000 Einrichtungen eingesehen werden. Dazu gehören unter anderem Sozialämter und Ausländerbehörden, Zolldienststellen und Jobcenter, Polizeibehörden, Staatsanwaltschaften sowie deutsche Auslandsvertretungen. Mehr als 150.000 Einzelnutzer*innen können laut Bundesinnenministerium auf das AZR als Informationsquelle zugreifen, ein großer Teil davon soll auch auf die Asylakten und ähnliches Zugriff erhalten. „Das ist eine brandgefährliche Entwicklung, die dem Missbrauch Tür und Tor öffnet. Zu viele greifen unkontrolliert auf Daten zu, es besteht die Gefahr, dass selbst die Herkunftsstaaten Informationen erhalten“, warnt Andrea Kothen, Referentin bei PRO ASYL, die eine ausführliche Stellungnahme zum Gesetzesvorhaben verfasst hat.
Dass derartige Befürchtungen von missbräuchlicher Verwendung dieser Daten nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigt der Fall eines ägyptischen Flüchtlings, den das ARD-Magazin FAKT aufgedeckt hat: Dessen AZR-Daten wurden von einem Mitarbeiter des Jobcenters abgerufen, um den Betroffenen Angst zu machen und ihn zu maßregeln. War ein solcher Zugriff auf die Daten Geflüchteter bisher einem begrenzten Personenkreis möglich, soll er künftig massiv ausgeweitet werden.
Gesetzentwurf missachtet das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung
In der neuen zentralen Dokumentenablage sollen beispielsweise die Asylbescheide des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die Entscheidungen der Gerichte sowie Identitätsdokumente automatisiert abrufbar sein. Eine nachvollziehbare Erklärung, worin das erhebliche öffentliche Interesse bestehen soll, sensible Informationen etwa über den Gesundheitszustand eines Geflüchteten einer ganzen Behördenriege zugänglich zu machen, bleibt die Bundesregierung schuldig.
Aber auch Mitarbeiter*innen der Ausländerbehörden könnten intime Daten – beispielsweise zur sexuellen Orientierung oder politischen Haltung von Betroffenen – der Asylakte entnehmen. Im Rahmen einer Kooperation bei der Passbeschaffung könnten diese persönlichen Informationen dann in die Hände der Behörden des Herkunftsstaates gelangen, ob missbräuchlich oder unbeabsichtigt. So droht nicht nur den Geflüchteten selbst Verfolgung, sondern auch ihren Angehörigen in der Heimat.
Diese Preisgabe sehr persönlicher Informationen an eine Vielzahl von Behörden greift erheblich in das Recht der Betroffenen auf den Schutz des Privatlebens (Art. 8 EMRK, Art.17 UN-Zivilpakt) und das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 GG) ein.
Datenschutzrechtlich ist der Gesetzentwurf vor allem deshalb inakzeptabel, weil wirksame Möglichkeiten der Betroffenen, die Kontrolle über ihre Daten zu wahren, nicht im Gesetzentwurf verankert sind. Auf die Rechtswidrigkeit der Regelungen haben deshalb das Netzwerk Datenschutzexpertise mit dem ehemaligen Schleswig-Holsteinischen Datenschutzbeauftragten Thilo Weichert, der Paritätische Wohlfahrtsverband und der Caritasverband hingewiesen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband sieht etwa einen Verstoß gegen die Datenschutzgrundverordnung und somit einen „Verstoß gegen höherrangiges Europarecht“.
Erklärtes Ziel des Gesetzentwurfs ist die Verwaltungsvereinfachung und –modernisierung. Das politische Ziel des Gesetzentwurfs steht aber schon im Koalitionsvertrag von 2018, in dem die Bundesregierung ihren Willen erklärt, das Ausländerzentralregister zu „ertüchtigen, um (…) allen relevanten Behörden unkomplizierten Zugriff zu ermöglichen und es auch zur besseren Steuerung der Rückführung und freiwilligen Ausreise einsetzen zu können“.
In den kommenden Wochen soll der Gesetzentwurf „zur Weiterentwicklung des Ausländerzentralregisters“ im Bundestag diskutiert und verabschiedet werden. PRO ASYL, die Flüchtlingsräte und der Verein Digitalcourage rufen die Bundestagsabgeordneten dazu auf, diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Denn welche Informationsflüsse im Zuge künftiger „Abschiebungskooperation“ mit den Herkunftsstaaten für legitim gehalten werden, ist nicht absehbar.
Weiterführende Informationen:
Pro Asyl: Zum Missbrauch freigegeben? Asylakten ins Ausländerzentralregister
Online-Seminar: Rechtliche Herausforderungen für binationale Familien und Paare
Wenn Paare und Familien aus unterschiedlichen Ländern kommen, bringt dies oft eine Vielzahl an rechtlichen Unklarheiten mit sich. Denn rund um die Themen Eheschließung und Geburt kommen viele verschiedene Rechtsgebiete unterschiedlicher Länder zur Anwendung. In dem Online-Seminar werden verschiedene Problemstellungen und Schwierigkeiten aufgezeigt, vor denen Geflüchtete stehen, und Lösungsansätze besprochen.
Referentin und Referent: Swenja Gerhard und Heinz Schulz (Verband binationaler Familien und Partnerschaften)
Die Infoveranstaltung richtet sich in erster Linie an ehrenamtlich Engagierte in der Flüchtlingsarbeit. Sie wird mit Zoom durchgeführt und die Teilnehmenden erhalten die Zugangsdaten nach Anmeldung einen Tag vor dem Seminar. Datenschutzhinweise für das online-Seminar via „Zoom“ finden Sie hier. Eine Anmeldung ist am Tag der Veranstaltung nicht mehr möglich. Gerne können Teilnehmende Fragen an die Referentin und den Referenten bei der Anmeldung angeben, diese werden gesammelt eine Woche vor dem Seminar an die beiden weitergeleitet.
Das Online-Seminar findet im Rahmen des Projekts „Aktiv für Flüchtlinge“ statt, gefördert vom Land Baden-Württemberg, Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration mit Unterstützung der UNO Flüchtlingshilfe und der Deutschen Postcode-Lotterie.
Das Recht auf Akteneinsicht bei der Behörde
Viele Fragen rund um asyl- und aufenthaltsrechtliche Verfahren können über Akteneinsicht bei der zuständigen Behörde beantwortet werden. Dabei mag für manch eine*n überraschend sein, dass das Recht auf Akteneinsicht nicht nur von Rechtsanwält*innen geltend gemacht werden kann. Grund genug, sich im nachfolgenden Beitrag etwas näher mit dem Recht auf Akteneinsicht zu beschäftigen. Der Artikel soll zugleich Ermutigung sein, von diesem so wichtigen Recht zukünftig selbstbewusster und selbstverständlicher Gebrauch zu machen, als es bislang zu beobachten ist.
Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe 3/2020 des Rundbriefes des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg. Dieser erscheint dreimal im Jahr in gedruckter Form und kann kostenfrei über die Website des Flüchtlingsrats bestellt werden. Wenn Sie Mitglied des Flüchtlingsrats sind, bekommen Sie den Rundbrief immer direkt nach dem Erscheinen per Post zugeschickt.
- Sebastian Röder, in Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, Rundbrief „perspektive“ 3/2020: Das Recht auf Akteneinsicht bei der Behörde
Digitale Fachtagung: Resettlement – ein Instrument des Flüchtlingsschutzes und der Solidarität
Der UNHCR, der Deutsche Caritasverband, die Caritasstelle im Grenzdurchgangslager Friedland und die Diakonie Deutschland laden zu einer digitalen Fachtagung Resettlement ein, die zwischen dem 5. Mai und dem 11. Mai 2021 in Form von drei Online-Veranstaltungen stattfindet. Das Programm findet sich hier. Eine Anmeldung bis zum 3. Mai ist hier möglich.
Interview „Der Pakt bedeutet kein Mehr an Europa“
Anfang September 2020 zerstörte ein Brand das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Zum Zeitpunkt der Katastrophe lebten über 12.000 Geflüchtete in dem Lager, obwohl es ursprünglich für gerade mal 2.800 Personen ausgelegt war. Unter anderem als Reaktion auf den Brand legte die EU-Kommission einen Reformvorschlag für die europäische Flüchtlingspolitik vor, den »New Pact on Migration and Asylum«. Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg hat mit Karl Kopp, Leiter der Europa-Abteilung von Pro Asyl, über die Situation der Geflüchteten in Griechenland und die europäische Flüchtlingspolitik gesprochen.
Stella Hofmann und Lucia Grandinetti, in Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, Rundbrief „perspektive“ 3/2020: Interview „Der Pakt bedeutet kein Mehr an Europa“
Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe 3/2020 des Rundbriefes des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg. Dieser erscheint dreimal im Jahr in gedruckter Form und kann kostenfrei über die Website des Flüchtlingsrats bestellt werden. Wenn Sie Mitglied des Flüchtlingsrats sind, bekommen Sie den Rundbrief immer direkt nach dem Erscheinen per Post zugeschickt
Dänemarks Asylpolitik ist kein Vorbild: Syrien ist nicht sicher!
Dänemarks Migrationsbehörde hat mittlerweile über 100 syrischen Geflüchteten den Schutztitel entzogen. Grundlage ist die falsche Behauptung, die Region Damaskus sei sicher. Dänische Recherchen offenbaren jetzt, dass die dänischen Lageberichte, die diese Behauptung stützen sollten, auf Manipulationen oder Fehlinterpretationen beruhen. Zeitgleich zeigen Berichte der ZEIT und der WELT, dass auch die Bundesregierung auf dubiosen Wegen Abschiebungen syrischer Staatsangehöriger vorbereitet.
Vor dem Hintergrund warnen die Landesflüchtlingsräte, PRO ASYL, medico international, die Kampagne #SyriaNotSafe und Adopt a Revolution eindringlich vor Abschiebungen nach Syrien. Wie alle Lageberichte des Auswärtigen Amtes der letzten Jahre betonen, gibt es keine sicheren Gebiete in Syrien: Landesweit kommt es zu willkürlichen Inhaftierungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen. Ob Dänemark oder Deutschland: Es gilt die Europäische Menschenrechtskonvention. Sie verbietet Abschiebungen in Staaten, in denen Folter oder entwürdigende Behandlung droht.
Dänemark: Manipulierte oder fehlinterpretierte Lageberichte
Dänemarks Regierung begründet den Entzug der Schutztitel mit zwei Syrien-Lageberichten von Februar 2019 und Oktober 2020. Mittlerweile haben sich alle der darin namentlich als Quellen angeführten unabhängigen Syrien-Analyst*innen von den Schlussfolgerungen distanziert, die die Behörden aus den Berichten ziehen. Acht der Analyst*innen haben sich mit einer öffentlichen Erklärung an die dänischen Behörden gewandt und fordern die Regierung auf, ihre Entscheidung zu revidieren. Auch der Dänische Flüchtlingsrat, der einen der Berichte mitverantwortet, kritisiert die Entscheidung der Regierung.
Nach Angaben des dänischen Flüchtlingsrats droht aktuell 250 syrischen Geflüchteten der Entzug ihres Aufenthaltstitels. Die Betroffenen sollen durch die Unterbringung in Ausreisezentren sowie Arbeits- und Ausbildungsverbote zur Ausreise genötigt werden. Die Maßnahme trennt Familien und zwingt bereits integrierte Geflüchtete, ihre Arbeit, ihr Studium oder ihre Schulausbildung aufzugeben. Von Abschiebungen sehen die dänischen Behörden ab, da Dänemark davor zurückschreckt, die nötigen Kontakte zum Assad-Regime aufzunehmen.
Deutschland: Dubiose Abschiebepläne des Innenministeriums
Nach Berichten der ZEIT und der WELT prüft das Bundesinnenministerium aktuell Möglichkeiten, syrische Staatsangehörige abzuschieben oder zur Ausreise zu drängen. Auch wenn bislang nur von Abschiebungen von Straftätern oder sogenannten „Gefährdern“ die Rede ist, drohen schwere Menschenrechtsverletzungen sowie ein intendierter Tabubruch: Nach Abschiebungen von Straftätern oder „Gefährdern“ drohen mittel- oder langfristig auch Abschiebungen anderer Gruppen.
Nach Recherchen der ZEIT plant die Bundesregierung derzeit keine Abschiebungen in vom Assad-Regime kontrollierte Regionen oder in den von dschihadistischen Milizen dominierten Nordwesten. Es gebe jedoch Sondierungen von Abschiebungen in den kurdisch geprägten Nordosten. Auch die „kurdischen Gebiete im Nordirak und in der Türkei“ würden in Betracht gezogen.
Die Landesflüchtlingsräte, PRO ASYL, medico international, die Kampagne #SyriaNotSafe und Adopt a Revolution kritisieren das Vorgehen scharf. Offensichtlich drohen weitere, dem Wahlkampf geschuldete dubiose Deals mit Akteuren wie der Türkei, die in Syrien völkerrechtswidrig agiert – und möglicherweise auch mit der kurdischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien, die jedoch bislang von der Bundesregierung überhaupt nicht anerkannt wird. Bei Abschiebungen in von ihr kontrollierte Gebiete müsste die Bundesregierung mit ihr zusammenarbeiten. Statt solcher rechtlich und außenpolitisch fragwürdigen Bemühungen müssen die Behörden mit syrischen Straftätern und „Gefährdern“ in Deutschland auf der Grundlage rechtsstaatlicher Prinzipien verfahren.
Wie sehr das populistische Ziel, unbedingt nach Syrien abzuschieben, zu Lasten rechtsstaatlicher Prinzipien geht, zeigt auch der Sachverhalt, dass das Bundesinnenministerium laut dem Bericht der WELT plant, syrische Häftlinge mit dem Versprechen einer Haftzeitverkürzung zur Ausreise zu bewegen.
Statt schmutzige Rücknahmedeals einzufädeln, muss die Bundesregierung endlich akzeptieren, dass Syrien-Abschiebungen bis auf Weiteres nicht möglich sind. Erst im März hat das Europäische Parlament die EU-Mitgliedstaaten in einer Resolution daran erinnert, „dass Syrien kein sicheres Land für eine Rückkehr ist“ und alle EU-Mitgliedstaaten aufgefordert, „von einer Verlagerung der nationalen Politik in Richtung der Aberkennung des Schutzstatus für bestimmte Kategorien von Syrern abzusehen und diesen Trend umzukehren, wenn sie eine solche Politik bereits verfolgt haben.“
OVG Niedersachsen: Keine Überstellung von Anerkannten nach Griechenland
Geflüchtete, die in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft bekommen haben, dürfen nicht rücküberstellt werden. Dort drohe ihnen ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh, weil sie unter menschenrechtwidrigen Bedingungen leben müssten. So seien sie von Obdachlosigkeit bedroht und erhielten keinen Zugang zu elementaren Leistungen sowie zu anderweitiger Unterstützung. Dies entschied das Oberverwaltungsgericht Niedersachsen. Das Urteil liegt noch nicht vor, so geht es aber aus der Pressemitteilung hervor.
Zuletzt hatte auch das OVG Nordrhein-Westfalen festgestellt, dass Anerkannten in Griechenland Menschenrechtsverletzungen drohen. Deshalb sollten sich auch Asylsuchende in Baden-Württemberg mit einer Anerkennung in Griechenland gut beraten lassen und sich trotz aller Unsicherheiten versuchen, zu integrieren. Übrigens entscheidet das BAMF bereits seit über einem Jahr nicht mehr über Asylanträge von dieser Gruppe von Geflüchteten.
- OVG Niedersachsen, April 2021: In Griechenland anerkannte Flüchtlinge dürfen derzeit nicht dorthin rücküberstellt werden
Gutachten belegt Kindeswohlgefährdung nach rechtswidriger Abschiebung
Neue Entwicklungen im Fall Dana und Edi: Niemand ist sorgeberechtigt, kein Schulbesuch möglich
Im Fall der beiden im Dezember aus einer Jugendhilfeeinrichtung im Landkreis Böblingen nach Albanien abgeschobenen Kinder Dana und Edi liegt nun ein Gutachten vor, welches das Ausmaß der entstandenen Kindeswohlgefährdung deutlich macht. Eine Sozialarbeiterin und Juristin von der Organisation International Social Service hat die Kinder besucht, um sich über ihre Situation zu informieren.
Die Gutachterin bestätigt, dass Edi kein Albanisch spricht, und sich nur mit ihr verständigen konnte, weil seine Schwester gedolmetscht hat. Dana kann zwar albanisch sprechen, aber nicht schreiben. Ein Schulbesuch ist für beide Kinder daher aktuell unmöglich. Die vorhandenen Verwandten sind nicht in der Lage, sich um die Kinder zu kümmern, da sie selbst für ihren Lebensunterhalt auf die Unterstützung von im Ausland lebenden Verwandten angewiesen sind. Die Großeltern der Kinder sind zudem gesundheitlich zu sehr angeschlagen, um sich dauerhaft um die Kinder zu kümmern. Aktuell leben die Kinder in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung, zusammen mit ihrem 24-jährigen Halbbruder und dessen hochschwangere Frau.
Die Gutachterin erläutert, dass aktuell niemand das Sorgerecht für die Kinder innehat, so dass es keine Möglichkeit gibt, in ihrem Namen irgendwelche Rechtsgeschäfte wie etwa die Beantragung von Sozialleistungen zu tätigen. Eine staatliche Inobhutnahme, die nach albanischen Recht in solchen Fällen vorgesehen ist, würde zu einer Trennung der Kinder führen, da sie in unterschiedliche Heime kommen würden. Dies wäre nach Überzeugung der Gutachterin keine geeignete Lösung, denn nach allem, was die beiden in den letzten Jahren durchgemacht haben, ist für beide das jeweils andere Geschwisterteil die einzige wirkliche Bezugsperson, die sie haben.
Zusammenfassend bezeichnet die Gutachterin die Situation als „problematisch“ – die Kinder seien durch die Abschiebung traumatisiert, fühlen sich in ihrer aktuellen Umgebung fremd und können ihr Recht auf Bildung nicht in Anspruch nehmen, zudem ist keine sorgeberechtigte Person in der Nähe.
Die Verantwortlichen in der Jugendhilfeeinrichtung Waldhaus, wo die Kinder bis zur Abschiebung gelebt haben, nehmen diese neuen Information tief besorgt zur Kenntnis: „Wir machen uns weiterhin große Sorgen um Dana und Edi. Je länger die beiden in dieser unsicheren Situation sind, desto größer die negativen Auswirkungen auf ihre Entwicklung. Beispielsweise fehlt beiden nun schon vier Monate Schulbildung. Wir alle, auch die Jugendlichen in den Wohngruppen, hoffen weiterhin darauf, dass Dana und Edi zurück kehren können“, so Cordula Breining, Koordinatorin für unbegleitete Minderjährige im Waldhaus.
Im Februar hatte das Verwaltungsgericht Stuttgart den Eilantrag auf Rückholung der Kinder abgelehnt, obwohl die Abschiebung „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ rechtswidrig war. Begründet wurde diese Entscheidung damit, dass die eingetretene Kindeswohlgefährdung nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden sei. „Dieses Gutachten bestätigt die wesentlichen Umstände, die die Kinder bereits seit ihrer Abschiebung geschildert haben. Es wird deutlich, dass durch das rechtswidrige Verhalten von Behörden des Landes Baden-Württemberg eines Kindeswohlgefährdung eingetreten ist und fortbesteht“, stellt Seán McGinley vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg fest. Er fordert die neue Landesregierung auf, sich um eine Rückholung der Kinder zu kümmern, die Umstände der rechtswidrigen Abschiebung aufzuklären und Maßnahmen dafür zu treffen, dass sich ein solcher Fall nie wiederholen kann.
Die Petition zur Rückholung der Kinder hat mittlerweile über 8000 Unterschriften und kann noch unterschrieben werden:
https://www.openpetition.de/petition/unterzeichner/herr-strobl-holen-sie-die-beiden-elternlosen-abgeschobenen-kinder-nach-leonberg-zurueck
Studie: Arbeitsfelder der Ankunft
In Deutschland arbeiten viele Migrant*innen in den Bereichen Gastrononomie, Hotel, Haushalts- und Gebäudereinigung sowie in zunehmendem Maße auch in der Pflege.
Das von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Forschungsprojekt „Arbeitsfelder der Ankunft. Kompetenzentwicklung in durch Migration geprägten Arbeitsfeldern“ der Universität Kassel beschäftigt sich mit der Frage, wie Migrant*innen die Arbeit in Deutschland erleben und wie sie diese Arbeit darüber hinaus mitgestalten.
Ziel des Forschungsprojektes ist ein besseres Verständnis, wie sich sowohl die Kompetenzen als auch die Teilhabemöglichkeiten der in diesen Arbeitsbereichen beschäftigten Migrant*innen entwickeln.
Zu diesem Zwecke werden Interviewpartner*innen mit Beschäftigten aus diesen Bereichen gesucht.
Interviews können auf Deutsch, Englisch, Spanisch, Arabisch und Türkisch durchgeführt werden.
Weitere Informationen und Kontaktmöglichkeiten finden Sie hier.