Die EU-Innenminister:innen haben sich heute in Brüssel laut Medienberichten sowohl auf einen freiwilligen Solidaritätsmechanismus für aus Seenot gerettete Menschen, als auch auf grundlegende Positionen zur Screeningverordnung und der Eurodac-Verordnung, der Datenbank zur Identifikation von Schutzsuchenden, geeinigt. Beide Rechtsakte sind Teil des umstrittenen Migrations- und Asylpakets, den die Europäische Kommission im September 2020 vorgestellt hat. Wie der französische Innenminister Gérald Darmanin bei Twitter verkündet, wurde zudem eine Einigung über die Schengen-Reform gefunden. Diese sieht verschärfte Grenzmaßnahmen vor, wenn es zu einer „Instrumentalisierung“ von Migration kommt.
PRO ASYL begrüßt zwar jeden Schritt, der es Schutzsuchenden ermöglicht, aus den schlechten Lebensbedingungen in Ersteinreiseländern wie Griechenland in andere Mitgliedstaaten zu kommen. Doch gleichzeitig macht dieser mühsam errungene Solidaritätsmechanismus, der auf freiwilliger Basis entweder Aufnahme oder finanzielle Unterstützung der Mitgliedstaaten vorsieht, die doppelten Standards bei der Aufnahme unterschiedlicher Schutzbedürftiger besonders deutlich.
„Während die EU bei der Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge gezeigt hat was möglich ist wenn der politische Wille da ist, macht die Einigung beim heutigen Rat der Innenminister:innen einmal mehr deutlich: von einer Gleichbehandlung aller Schutzsuchenden ist die EU weit entfernt. Anstatt allen die Möglichkeit einzuräumen, in dem Land ihrer Wahl Schutz zu suchen, muss für Geflüchtete, die nicht aus der Ukraine kommen, bereits eine mögliche Verteilung auf andere Mitgliedstaaten als die Ersteinreiseländer hart erkämpft werden. Eine Abschaffung des Dublin-Systems, um schutzsuchende Menschen zu ihren Communities reisen zu lassen und Mitgliedstaaten mit Außengrenzen zu entlasten? Fehlanzeige“, kommentiert Wiebke Judith, Leiterin des Teams Recht & Advocacy bei PRO ASYL.
Dass sich die Innenminister:innen gleichzeitig auf eine grundlegende Position zur vorgeschlagenen Screening-Verordnung geeinigt haben, könnte die Situation von Schutzsuchenden an den Außengrenzen zukünftig weiter verschärfen. Denn über die im Vorschlag enthaltene Fiktion der Nicht-Einreise könnte Haft zur Standardmaßnahme für Schutzsuchenden werden. Rechtsstaatliche Asylverfahren sind unter solchen Bedingungen an den Außengrenzen nicht möglich, wie PRO ASYL mehrfach angemahnt hat, seit die Reformvorschläge der Kommission für das Gemeinsame Europäische Asylsystem auf dem Tisch liegen.
Doch damit nicht genug. Die Innenminister:innen haben sich auch auf eine Reform des Schengener Grenzkodex geeinigt, durch die bei vermeintlicher Instrumentalisierung von fliehenden Menschen die Grenzsicherung verschärft werden soll und der Zugang zu Asyl an den Grenzen erschwert wird. „Der heutige Beschluss für eine Reform des Schengener Grenzkodex ist eine Steilvorlage für Mitgliedstaaten, die ihre illegalen Pushbacks europäisch legitimieren wollen. Anstatt diese menschenrechtswidrigen und oft brutalen Zurückweisungen auf den Tisch zu bringen, werden Mitgliedstaaten wie Polen, die weiterhin an der Grenze zu Belarus hart gegen Schutzsuchende vorgehen, in ihrer flüchtlingsfeindlichen Politik durch den heutigen Beschluss sogar unterstützt“, sagt Judith.
Auch wenn das Europäische Parlament bei den Verordnungen noch mitsprechen wird, so sind diese Vorstöße der EU-Innenminister*innen ein fatales Zeichen für den Schutz von Menschenrechten an Europas Außengrenzen. PRO ASYL fordert das Europäische Parlament dazu auf, sich solchen Verschärfungen zu widersetzen und die Entwürfe in dieser Form abzulehnen.
Beiträge
Sommertagung 2022
Informationen auf: Arabisch, Englisch, Ukrainisch und Dari
Herzliche Einladung zur ersten Präsenztagung in Stuttgart nach zweieinhalb Jahren coronabedingter Pause! Am Samstag, den 23. Juli 2022, findet unsere diesjährige Sommertagung statt. Wir haben ein äußerst spannendes und vielfältiges Programm auf die Beine gestellt. Der Hauptvortrag wird den Umgang mit Geflüchteten aus der Ukraine und aus anderen Ländern beleuchten und analysieren. In den Arbeitsgruppen können Sie wählen zwischen den Themen Ukraine, Afghanistan, Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz und Kinderschutz. Dazwischen wird es ausreichend Möglichkeiten zur Vernetzung und zum Austausch geben.
Die Tagung ist kostenlos und richtet sich in erster Linie an Ehrenamtliche in der Geflüchtetenarbeit.
Die Anmeldung ist geschlossen.
Ort: Bürgerräume West in der Bebelstraße 22, 70193 Stuttgart
Die Tagung findet im Rahmen des Projekts „Aktiv für Integration“ statt, unterstützt durch das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration aus Landesmitteln, die der Landtag Baden-Württemberg beschlossen hat. Eine Koförderung besteht durch die UNO-Flüchtlingshilfe und Deutsche Postcode Lotterie.
PROGRAMM
09:30 Uhr: Anmeldung und Ankommen
10:00 Uhr: Begrüßung (Lucia Braß, 1. Vorsitzende des Flüchtlingsrates)
10:15 Uhr: Hauptvortrag: Solidarität und Ungleichbehandlung: Geflüchtete aus der Ukraine und anderen Ländern
Wieder einmal sind tausende Menschen aufgrund eines gewaltsamen Konflikts gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Die Betroffenheit über den Krieg in der Ukraine und die Solidarität mit Ukrainer*innen ist groß. Deutschland hat weitreichende Maßnahmen ergriffen, um Geflüchtete schnell und unbürokratisch aus der Ukraine aufzunehmen. Währenddessen finden gewaltsame Konflikte in anderen Regionen der Welt weit weniger Beachtung. Geflüchtete aus diesen Ländern und auch flüchtende BIPoC aus der Ukraine erfahren geringere gesellschaftliche und politische Unterstützung. Sie erleben stattdessen höhere bürokratische Hürden und rassistische Sentiments. Was für soziale und politische Folgen hat dieser unterschiedliche Umgang mit Geflüchteten? Wie können wir Brücken schlagen und eine Zweiklassengesellschaft vermeiden? Diesen und weiteren Fragen wird Dr. Elisabeth Maué mit einem Schwerpunkt auf Bildung und Arbeit nachgehen.
Referentin: Dr. Elisabeth Maué (Universität Konstanz)
11:15 Uhr: Kaffeepause
11:30 Uhr: Arbeitsgruppen-Phase I
Wählen Sie eine Arbeitsgruppe aus den vier folgenden aus. Die Arbeitsgruppen Ukraine, Afghanistan und Gesundheitsschutz werden in der Arbeitsgruppen-Phase II wiederholt. Die Arbeitsgruppe zum Kinderschutz findet nur in der Arbeitsgruppen-Phase I statt.
Arbeitsgruppe 1: Flucht aus der Ukraine: Überblick über die rechtliche Situation
Seit Kriegsbeginn in der Ukraine fliehen tausende Menschen nach Europa und Deutschland. Die EU reagierte unter anderem mit dem Inkraftsetzen der Richtlinie über einen „Massenzustrom“. Ukrainer*innen können dadurch ohne Asylverfahren eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. In der Arbeitsgruppe wird es einen allgemeinen Überblick über die aufenthalts- und sozialrechtlichen Fragen geben, die sich aktuell für Geflüchtete aus der Ukraine stellen: Welche Rechte und Pflichten sind mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG verbunden? Wie sieht die Situation von Drittstaatsangehörige aus der Ukraine aus? In der AG können gemeinsam Fragen und Erfahrungen aus der Praxis diskutiert werden.
Referenten: Manfred Weidmann (Rechtsanwalt Tübingen, Mitglied des Sprecher*innenrats des Flüchtlingsrats BW) und Wolfgang Armbruster (Vizepräsident des Verwaltungsgerichts Sigmaringen a.D.)
Arbeitsgruppe 2: Hilferufe aus Afghanistan
Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat im August letzten Jahres international für großes Aufsehen gesorgt. Doch nach wenigen Wochen wurde kaum mehr darüber berichtet und Afghanistan verschwand aus der öffentlichen Wahrnehmung, obwohl sich die Lage vor Ort weiter zuspitzt. Die Aufnahme von gefährdeten Afghan*innen gestaltet sich kompliziert und Aufnahmeprogramme stehen noch aus während Tausende um ihr Leben fürchten. Sadiq Zartila wird über die Lage vor Ort berichten – wie Frauen, Hazara und Kinder ihrer Rechte beraubt werden, wie sich Widerstand gegen die Taliban formiert und wie groß die wirtschaftliche Not ist. Tarek Alaows wird über die begrenzten Ausreisemöglichkeiten für Gefährdete, Ortskräfte und Familienangehörige und über die politischen Pläne der Bundesregierung sprechen.
Referenten: Tareq Alaows (Luftbrücke Kabul) und Sadiq Zartila (Mitglied des Sprecher*innenrats Flüchtlingsrat Baden-Württemberg)
Arbeitsgruppe 3: Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz: Rechte haben, Recht bekommen
Deutschland verfügt im Arbeits- und Gesundheitsschutz über ein breites Rechtssystem. Doch selbst hier geborene und aufgewachsene Menschen stoßen auf Schwierigkeiten, diese Regelungen zu kennen und zu verstehen. Wesentlich schwerer haben es Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind und nun hier arbeiten. Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz bedeutet, dass Arbeitsgeber*innen langfristige Auswirkungen der Arbeit auf die Gesundheit ihrer Mitarbeiter*innen im Blick haben. Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Gesundheitsstörungen sollen vermieden werden. Deshalb ist es wichtig, die Fürsorgepflichten der Arbeitgeber*innen zu kennen, genauso wie die Regelungen zur täglichen Arbeitszeit, Pausen, Arbeitsmittel, erste Hilfe, Unfallvermeidung und so weiter.
Diese Arbeitsgruppe soll dazu beitragen, dass Geflüchtete ihre Rechte im Bereich Gesundheitsschutz in der Arbeitswelt kennen und einfordern können.
Referent: Walter Lukas (Ehrenamtlicher Bildungsarbeiter von ver.di)
Arbeitsgruppe 4: Schutz vor Gewalt: Geflüchtete Kinder und Kinderschutz
Alle Kinder haben das Recht auf ein Leben in Würde, in dem sie sowohl ihre Potenziale frei entfalten können, als auch vor Gewalt, Vernachlässigung oder Missbrauch geschützt werden. Geflüchtete Kinder unterliegen einem besonderen Schutz, da sie besonders verletzlich sind. Ihre Lebensituation ist in vielerlei Hinsicht prekär. Beispielsweise leben sie häufig in beengten Wohnverhältnissen mit fehlender Privatsphäre, einer unsicheren Bleibeperspektive, haben Verluste von festen Bezugspersonen und mögliche Traumatisierungen im Heimatland oder auf der Flucht erlebt. Die Arbeitsgruppe möchte für Anzeichen von jeglicher Art von Gewalt sensibilisieren sowie Handlungs- und Unterstützungsmöglichkeiten aufzeigen.
Ihre Fragestellungen haben Platz und werden im gemeinsamen Gespräch erklärt.
Referent*in: Mitarbeiter*in des Kinderschutz-Zentrums Stuttgart (KISZ)
13.30 – 15.00 Uhr: Mittagspause (gegen Spende) und Markt der Möglichkeiten
Während der Mittagpause haben Sie die Möglichkeit, an verschiedenen Tischen mit Initiativen und Projekten aus ganz Baden-Württemberg ins Gespräch zu kommen, sich zu vernetzen, zu informieren und Ideen auszutauschen.
Möchten Sie selbst Ihre Initiative/Projekt an einem Tisch präsentieren? Dann schreiben Sie uns gerne an: schmid@fluechtlingsrat-bw.de
15:00 Uhr: Arbeitsgruppen-Phase II Wiederholung der Arbeitsgruppen 1, 2 und 3
Wählen Sie eine Arbeitsgruppe aus den Arbeitsgruppen 1 bis 3 aus. Diese werden aus der Arbeitsgruppen-Phase I wiederholt.
17:00 Uhr: Ende der Veranstaltung
Fachtag: Change of perspective – im Austausch mit und von Geflüchteten lernen
Die Zukunftswerkstatt Rückenwind e.V. veranstaltet im Rahmen ihres Projekts „Fugee Angels“ einen Fachtag zum Ankommen von Geflüchteten in Deutschland. Dieser findet am 24. Juni 2022 von 9:30 bis 15:00 Uhr in der Gemeindehalle Großaspach statt, die barrierefreie Räumlichkeiten bietet.
Durch Inputvorträge und den gemeinsamen Austausch können sich Teilnehmende wertvolles Wissen für die eigene Arbeit aneignen.Hierfür kommen sie an verschiedenen Thementischen mit Expert*innen sowie den „Fugee Angels“ zusammen, die sich als ehrenamtliche Sprach- und Kulturmittler*innen für andere Geflüchtete einsetzen.
- Tisch 1: Traumatisierung – Ursachen, Folgen und Aufarbeitung mit Prof. Norbert Grulke, Luisenklinik
- Tisch 2: All inclusive – Fugee Angels für Barrierefreiheit mit Prof. Thomas Meyer, DHBW Stuttgart
- Tisch 3: Rainbow refugees – Besonderer Schutzbedarf und Unterstützungsmöglichkeiten für LSBTIQ*-Geflüchtete mit Miriam Grupp, Initiative Elvan
- Tisch 4: „…und dann nehmen sie uns die Kinder weg!“ – Perspektiven geflüchteter Familien auf die Jugendhilfe mit Ingo Hettler, DHBW Stuttgart
- Tisch 5: „Setzen, sechs?“ Wie kommen Schüler*innen mit Fluchterfahrung in der Schule an? – eine Ideenwerkstatt mit Ingo Hettler, DHBW Stuttgart
- Tisch 6: Vorurteile durch Perspektivenwechsel abbauen – Erfahrungen aus der Geflüchtetenhilfe mit Jama Maqsudi, Deutsch-Afghanischer Flüchtlingshilfe Verein e.V.
Zur Veranstaltung sind alle interessierten Fachkräfte, die haupt- oder ehrenamtlich mit Menschen mit Fluchterfahrung arbeiten, herzlich eingeladen!
Um Anmeldung bis einschließlich 22. Juni 2022 wird gebeten: post@zwrev.de
Die Teilnahme ist kostenlos, für Verpflegung ist gesorgt.
Checkliste: Ärztliche Stellungnahmen und Atteste im Kontext von Abschiebungen
Geflüchtete, die erkrankt und von Abschiebungen bedroht sind, müssen stets aktuelle medizinische Atteste vorlegen. Diese bilden oftmals die Grundlage dafür, ob eine Abschiebung vollzogen werden kann oder nicht. Im Aufenthaltsgesetz hat der Gesetzgeber einige sehr spezielle Kriterien formuliert, welche diese Atteste beinhalten müssen. Deshalb hat der Arbeitskreis Flüchtlinge und Asyl der IPPNW (Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e.V.) eine Checkliste erstellt, die Ärzt*innen eine Hilfestellung bieten und die wichtigsten Fehler vermeiden helfen.
- Arbeitskreis Flüchtlinge und Asyl der IPPNW: Checkliste: Ärztliche Stellungnahmen und Atteste für von Abschiebung bedrohte Personen
Chancen-Aufenthaltsrecht darf nicht ausgehöhlt werden
PRO ASYL begrüßt es, dass Bundesinnenministerin Nancy Faeser einen Gesetzentwurf zum Chancen-Aufenthaltsrecht vorgelegt hat. Es steht allerdings zu befürchten, dass weniger geduldete Menschen in Deutschland davon profitieren, als es der Koalitionsvertrag vorsieht.
Endlich sollen Geduldete, die jahrelang Angst vor einer Abschiebung hatten, die Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten. Das betrifft sehr viele Männer, Frauen und Jugendliche: Über 200.000 Menschen leben in Deutschland mit einer prekären Duldung, haben damit keine feste Perspektive und können in vielen Fällen jederzeit abgeschoben werden. Circa 100.000 von ihnen sind bereits seit fünf Jahren oder länger in Deutschland und könnten somit vom geplanten Chancen-Aufenthaltsrecht profitieren. Dieses könnte für sie eine haltgebende Brücke sein, über die sie in ein gesichertes Bleiberecht kommen.
Doch Presseberichte lassen nun befürchten, dass im Bundesinnenministerium bei der Ausarbeitung der Gesetzesgrundlage so restriktiv vorgegangen wird, dass die Möglichkeit, mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht einer signifikanten Anzahl von Menschen aus der Duldung zu helfen, gefährdet wird. PRO ASYL kritisiert, dass Menschen, denen vorgeworfen wird, falsche Angaben zu ihrer Identität gemacht zu haben, laut Referentenentwurf aus dem BMI vom Chancen-Aufenthaltsrecht ausgenommen sein könnten.
„Aus der Praxis kriegen wir regelmäßig mit, wie schwierig sich Identitätsklärung und Passbeschaffung für viele Geflüchtete gestalten. Es ist deshalb wichtig, dass dies beim Chancen-Aufenthaltsrecht – das ja noch kein tatsächliches Bleiberecht darstellt – nicht zur Voraussetzung gemacht wird. Der Koalitionsvertrag sieht konkrete Voraussetzungen für das Chancen-Aufenthaltsrecht vor, von einem Ausschluss wegen angeblicher Täuschung bei Identität oder Staatsangehörigkeit ist dort aber nicht die Rede“, erklärt Wiebke Judith, rechtspolitische Referentin von PRO ASYL. „Es wäre fatal, wenn nun das Bundesinnenministerium nachträglich Voraussetzungen einführt, die erstens die Umsetzung verkomplizieren und zweitens Tür und Tor öffnen für eine besonders restriktive Handhabung durch die Ausländerbehörden. Hinzu kommt: Je mehr Kriterien geprüft werden müssen, desto höher ist der bürokratische Aufwand. Dabei sind die Ausländerbehörden jetzt schon überlastet mit der Registrierung von Geflüchteten aus der Ukraine“, so Judith.
Laut Koalitionsvertrag gibt es nur drei Voraussetzungen für das Chancen-Aufenthaltsrecht:
»Der bisherigen Praxis der Kettenduldungen setzen wir ein Chancen-Aufenthaltsrecht entgegen: Menschen, die am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland leben, nicht straffällig geworden sind und sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen, sollen eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten können, um in dieser Zeit die übrigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen (insbesondere Lebensunterhaltssicherung und Identitätsnachweis gemäß §§ 25 a und b AufenthG).« [Hervorhebungen hinzugefügt]
PRO ASYL fordert mit der Kampagne #RechtAufZukunft eine zügige Umsetzung der im Koalitionsvertrag beschlossenen Verbesserungen für geduldete Menschen.
„Schönau ’92 – Nicht vergessen“
Unter dem Motto „Schönau ’92 – Nicht vergessen“ findet auf Initiative des freien Radios bermuda.funk e.V. und DIDF Mannheim, am Samstag den 11. Juni eine Veranstaltung im NaturFreunde-Stadtheim Mannheim (Zum Herrenried 18, 68169 Mannheim – ÖPNV Haltestelle Sandgewann) statt: In Erinnerung an rassistische Gewalt gegen geflüchtete Menschen.
Am Pfingstwochenende 1992 entlud sich in Mannheim-Schönau aufgrund von Gerüchten nach einem „Vatertagsfest“ offen der Hass gegen die damals 200 in einer ehemaligen Kaserne untergebrachten Asylbewerber*innen. Die geflüchteten Menschen in der Landeserstaufnahmeeinrichtung wurden tagelang rassistisch beleidigt, bedroht und mit Gegenständen attackiert.
Mit einem zweistündigen Workshop-Angebot startet die Erinnerungsveranstaltung um 14 Uhr. Hier werden die Themen „Struktureller Rassismus“ und „Wie kann dem Alltagsrassismus Paroli geboten werden?“ diskutiert. Ein dritter Workshop ist mit Ibrahim Arslan geplant. Er überlebte die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992. Bei dem Anschlag verloren seine Großmutter Bahide Arslan, seine Schwester Yeliz Arslan und seine Cousine Ayşe Yılmaz ihr Leben. Er engagiert sich seit vielen Jahren in der Antirassismus-Arbeit, indem er als Politischer Bildungsreferent aus der Perspektive der Betroffenen berichtet.
Ab 17 Uhr gibt es eine zweistündige Pause zur gemeinsamen Erholung, zum lecker Essen, mit Musik, zum Gedankenaustausch. Danach findet von 19 bis 21 Uhr eine Talk- und Diskussionsveranstaltung zu den damaligen Ereignissen statt. Es diskutieren an diesem Abend Zeitzeugen, die die damaligen zivilgesellschaftlichen Proteste gegen die rassistischen Übergriffe aus unterschiedlichen Perspektiven miterlebt hatten. Die Diskussionsgäste sind Aktivistinnen, die die Proteste gegen die rassistischen Vorfälle mitgetragen haben, Menschen, die aus migrantischer Perspektive die Ereignisse bewerten, in der kirchlichen Flüchtlingsarbeit aktiv waren, die Ereignisse journalistisch begleitet haben. Oder auch als Anwalt die Anmelder der damals verbotenen Solidaritätsdemonstration beraten hatten.
Über drei Wochen war Mannheim im Mai 1992 als Folge dieser Ereignisse in einen Ausnahmezustand versetzt. Es machen einen Rückblick auf die antirassistischen Proteste gemacht, sowie auf die Reaktionen von Stadt und Politik. Eine Frage der Diskussion wird sein: „können in Zukunft rassistische Übergriffe verhindert werden?“
Die Ereignisse vor 30 Jahren müssen auch im Zusammenhang mit einer Welle von rassistischen Übergriffen und Anschlägen gesehen werden. Nach den Mordanschlägen in Mölln und den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992 wurde der sogenannte Asylkompromiss durch Regierung und Opposition beschlossen und das Asylrecht massiv eingeschränkt.
Veranstalter*innen: DIDF-Mannheim, bermuda.funk e.V., „Mannheim gegen Rechts“, Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, OAT Mannheim, Infoladen im JUZ-Mannheim, Stadtjugendring Mannheim
Weitere Informationen
Facebook Veranstaltung
Aufnahmeprogramm Afghanistan
Die Bundesregierung hatte nach der Übernahme der Taliban 2021 ein Aufnahmeprogramm für gefährdete Menschen in Afghanistan versprochen. Am 02.06.2022 gab der Haushaltsausschuss des Bundestags 25 Millionen Euro für ein Bundesaufnahmeprogramm frei.
Wie genau das Programm ausgestaltet werden soll und wie viele Personen darüber einreisen könnten, ist allerdings noch unklar. Befürchtet wird, dass statt der angestrebten 20.000 gefährdeten Afghan*innen nur ca. 5.000 einreisen könnten. Dies alles soll bis Ende August geklärt werden.
- Spiegel, 19.05.2022: Aufnahmeprogramm. 25 Millionen Euro für Afghanistan-Geflüchtete
Rechtsprechungs-Überblick zu den Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf Dublin-Überstellungen
Die Versorgung Schutzsuchender aus der Ukraine stellt die angrenzenden Staaten zurzeit vor große Herausforderungen. Das hat auch Auswirkungen auf Dublin-Verfahren von Personen, die in diese Länder überstellt werden sollen. Einige osteuropäische Staaten lehnen folglich die (Rück-)Übernahme von Personen ab, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens überstellt werden sollen. Ob Dublin-Bescheide deshalb rechtswidrig sind, ist unter Verwaltungsgerichten umstritten. Die Übersicht des Informationsverbunds Asyl & Migration stellt die derzeitige Sachlage und Rechtsprechung zu den einzelnen Ländern zusammen und gibt Hinweise für die Beratungspraxis.
- Informationsverbund Asyl & Migration, Juni 2022: Übersicht: Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf Dublin-Überstellungen
Griechisches Festland, Kreta und Rhodos: Seit 6 Monaten kein geregelter Zugang zum Asylsystem
Die Bedingungen, unter denen Geflüchtete in Griechenland leben, stehen immer wieder im Fokus der Öffentlichkeit. Dabei geht es meistens um die menschenunwürdigen Zustände in den Camps auf den ägäischen Inseln. Aber auch auf dem griechischen Festland sind die Herausforderungen, denen Geflüchtete begegnen, umfassend. Unser Mitglied des Sprecher*innenrates Mariella Lampe arbeitet derzeit mit der NGO Mobile Info Team in Thessaloniki und untersucht von dort aus die Lebensumstände der Menschen, die teilweise seit Jahren keinen Zugang ins griechische Asylsystem finden.
Seit einer Neuregelung im November 2021 besteht auf dem griechischen Festland, Rhodos und Kreta kein allgemein gültiger Zugang zum Asylsystem mehr. Schon vorher war dieser signifikant erschwert, da für die persönliche Antragstellung eine Vorab-Registrierung per Skype notwendig war. Diese funktionierte jedoch nur äußerst mangelhaft, was dazu führte, dass Asylsuchende im Schnitt 14 Monate auf einen Termin bei der zuständigen Behörde warten mussten.
Seit das Skype-System ausschließlich für Folgeanträge geöffnet ist, gibt es nur noch drei Ausnahmefälle, in denen Menschen außerhalb der griechischen “Hotspots”auf Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos Asyl beantragen können: wenn sie bereits bei der Polizei registriert sind und entsprechende Papiere (“police notes”) erhalten haben, indem sie eine Vulnerabilität nachweisen oder wenn sie sich selbst bei dem einzigen zuständigen “Reception and Identitfication Center” (RIC) im Norden Griechenlands, Fylakio, vorstellen.
Die in Thessaloniki ansässige Nichtregierungsorganisation Mobile Info Team (MIT) hat in ihrem neusten Bericht “Blocked from the system” (www.mobileinfoteam.org/blockedfromthesystem) untersucht, inwieweit diese Zugänge zum Asylsystem funktionieren und die Situation der Menschen dokumentiert, die sich aus diesem Grund ohne Papiere in Griechenland aufhalten.
Die Auswertung von 144 Fällen aus der Datenbank der Rechtsberatung von MIT sowie 18 semi-strukturierten Interviews ergab, dass auch diese Wege ins griechische Asylsystem häufig nicht gangbar sind, selbst wenn die jeweiligen Kriterien erfüllt sind.
So ist es nach wie vor nicht nachvollziehbar, unter welchen Umständen die Polizei “police notes” ausgibt. In vielen Fällen haben Menschen, die sich an die Polizei gewendet haben, keine Papiere ausgehändigt bekommen. Dazu kommt die Angst, sich überhaupt an die Behörden zu wenden, da die Gefahr von gewaltsamen und illegalen Rückführungen in die Türkei besteht (sogenannte Pushbacks).
Zudem stellte es sich heraus, dass es äußerst schwierig ist, eine Vulnerabilität nachzuweisen. Zum einen liegt dies daran, dass Menschen ohne Papiere keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben und somit in der Regel keine Arztberichte erhalten können. Zum anderen ist unklar, welche Vulnerabilitäten eigentlich anerkannt werden und welchen Schweregrad diese aufweisen muessen.
Zu guter Letzt stellt die Alternative, sich selbst im RIC Fylakio zu registrieren, keinen gangbaren Weg dar: 71% der in Griechenland im letzten Jahr stattgefundenen Pushbacks spielte sich in der Region Evros ab, wo das RIC gelegen ist. Die Wahrscheinlichkeit, auf dem Weg dorthin festgenommen und illegal abgeschoben zu werden, ist demnach extrem hoch. MIT hat gemeinsam mit dem Border Violence Monitoring Network, dessen Mitglied die NGO ist, diverse Pushbacks im Zusammenhang mit dem RIC Fylakio dokumentiert. In einem besonders signifikanten Fall war ein kubanisches Paar betroffen, welches sich selbstständig zum RIC begeben hatte, dort gedemütigt und dann ohne gesetzliche Grundlage in die Türkei zurückgeführt wurde – ohne dort jemals gewesen zu sein.
Die von MIT durchgeführten Interviews zeigen außerdem die äußerst schwierigen Lebensumstände, die Geflüchtete und Migrant*innen ohne Papiere in Griechenland erdulden müssen. 80% der befragten Personen hatten Obdachlosigkeit erlebt oder waren darauf angewiesen, dass Bekannte oder auch Fremde sie umsonst bei sich wohnen ließen. 60% berichteten von ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen mit Arbeitszeiten von bis zu 12 Stunden für 20 bis 25 Euro am Tag. Daraus resultierend scheint es wenig überraschend, dass 60% der Befragten angaben, unter körperlichen oder mentalen Einschränkungen zu leiden, ohne eine entsprechende Unterstützung erhalten zu können.
Absurd: Ukrainische Familie bekommt keinen Schutz, weil sie am Tag der Invasion im Urlaub war
Nachtrag: Wenige Tage nachdem die untenstehende Meldung veröffentlicht und von zahlreichen Medien aufgegriffen wurde, hat das Justizministerium klargestellt, dass die Familie O. nun doch den vorübergehenden Schutz erhalten kann. Die lokalen Behörden wurden angewiesen, Fiktionsbescheinigungen mit Beschäftigungserlaubnis auszustellen und Sozialleistungen zu bewilligen.
Darüber, dass eine großzügige und möglichst unkomplizierte Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine in der aktuellen Situation geboten ist, gibt es einen breiten Konsens aller relevanten gesellschaftlichen und politischen Akteur*innen. Die Landesflüchtlingsräte und Pro Asyl haben kürzlich kritisiert, dass die Solidarität und Hilfsbereitschaft nicht allen Geflüchteten aus der Ukraine zugute kommt, und dabei vor allem auf den Umgang mit Personen ohne ukrainische Staatsangehörigkeit hingewiesen. Doch auch für Ukrainer*innen läuft keinesfalls immer alles glatt, wie ein aktueller und besonders absurder Fall verdeutlicht, der von ehrenamtlichen Unterstützer*innen an den Flüchtlingsrat herangetragen wurde.
Sie berichten, dass die Ausländerbehörde des Landkreises Karlsruhe einer ukrainischen Familie das humanitäre Aufenthaltsrecht nach § 24 AufenthG und auch jegliche Sozialleistungen verweigert, weil diese zum Zeitpunkt der Invasion ihres Heimatlandes durch die russischen Streitkräfte zufällig im Urlaub in Ägypten war. Die über Polen eingereiste Großmutter der Familie erhielt problemlos den vorübergehenden Schutz nach § 24 AufenthG. Der Rest der Familie wird aufgefordert, Asylanträge zu stellen – obwohl die politisch Verantwortlichen von Bund und Ländern beteuern, dass Menschen aus der Ukraine keine Asylanträge in Deutschland stellen müssen. Im Gegensatz dazu hat eine andere ukrainische Familie, die im gleichen Hotel in Ägypten Urlaub gemacht hat, zum gleichen Zeitpunkt nach Deutschland eingereist ist und in Mannheim bei Unterstützer*innen aufgenommen wurde, von den dortigen Behörden Fiktionsbescheinigungen erhalten und wurde in den Leistungsbezug aufgenommen.
Seán McGinley, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg sagt zu diesem Fall: „Es ist offensichtlich absurd, dieser Familie den vorübergehenden Schutz vorzuenthalten mit der Begründung, sie seien über den „Drittstaat“ Ägypten eingereist. Erwarten die hiesigen Behörden ernsthaft, dass diese Familie dorthin zurückkehrt, nur weil sie zufällig gerade im Urlaub war, als der Krieg ausbrach? Ganz offensichtlich ist diese Familie in eine Regelungslücke gefallen, die schleunigst von den politisch Verantwortlichen zu schließen ist. Noch absurder wird die Situation, wenn man sich vor Augen führt, dass die Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums zu § 24 AufenthG explizit einen Anspruch auf Schutz in Deutschland vorsehen, wenn die betroffenen Ukrainer*innen zum Zeitpunkt der Invasion der Ukraine in einem anderen Staat der Europäischen Union im Urlaub waren oder wenn ein einzelne Familienmitglieder vorübergehend außer Landes war. Wo ist der grundsätzliche Unterschied bei einer Familie, die zusammen in einem Nicht-EU-Staat im Urlaub war? Kann es sein, dass die Wahl des Urlaubslandes darüber entscheidet, ob man Schutz erhält, wenn im Heimatland ein Krieg ausbricht? Die politisch Verantwortlichen auf Landes- und Bundesebene müssen schnellstmöglich klarstellen, dass der vorübergehende Schutz für alle gilt, die zum Zeitpunkt der russischen Invasion ihren Wohnsitz in der Ukraine hatten – auch wenn sie aus welchem Grund auch immer vorübergehend außer Landes waren. Die Verweigerung jeglicher Sozialleistungen ist im Übrigen eindeutig rechtswidrig und verstößt unter anderem gegen die Vorgaben des Justizministeriums, aus denen hervorgeht, dass selbst bei Personen, bei denen unklar ist, ob sie einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG haben, ein Schutzgesuch in jedem Fall einen Leistungsanspruch auslöst. Auch hier fordern wir die zuständigen Behörden auf, sofort Abhilfe zu schaffen und der Familie die ihnen zustehenden Leistungen rückwirkend zum Tag der ersten Vorsprache auszuzahlen.“
Im Folgenden dokumentieren wir den offenen Brief der Unterstützer*innen an verschiedene Entscheidungsträger*innen.
Offener Brief der Unterstützer*innen der Familie O. an Bundesinnenministerin Faeser, Ministerpräsident Kretschmann und Justizministerin Gentges
Wir sind tief besorgt und beschämt über die Art und Weise, wie von den Behörden hier in Karlsruhe mit einer ukrainischen Flüchtlingsfamilie umgegangen wird, die aus der ständigen Bombenangriffen ausgesetzten Stadt Charkiw in der Ostukraine stammt. Wir bitten dringend um Ihre Hilfe, damit das Leid dieser Familie, die ihre Heimat verloren hat und ständig Nachrichten neuer Zerstörungen erhält, nicht weiterhin unnötigerweise durch Unsicherheit und Angst vor Abschiebung noch weiter vergrößert wird. Der Familie wird die Fiktionsbescheinigung verweigert, sie wird zur Ausreise gedrängt und gleichzeitig von einer anderen Behörde aufgefordert, einen Asylantrag zu stellen. Das alles steht im krassen Widerspruch z B zu der Kommunikation des BAMF über den Umgang mit Flüchtlingen aus der Ukraine.
Der Situation stellt sich im Einzelnen wie folgt dar: Die Familie O. (Vater, Mutter, Sohn) war im Februar 2022 im Urlaub in Ägypten, als der Krieg in ihrer Heimat ausbrach. Sie konnte nicht in ihre Heimatstadt Charkiw zurück, es gab ja auch keine Rückflüge mehr. Wir, die Familie R., lernten sie in Ägypten in unserem Urlaub kennen. Wir organisierten in unserer Heimat Bad Schönborn eine private Spendensammlung, von der wir den verlängerten Aufenthalt der Familie im Hotel und die Flugtickets nach Frankfurt bezahlten. Am 04.03. landeten wir gemeinsam in Frankfurt und verbrachten das Wochenende in unserer privaten Wohnung. Wir kümmerten uns um die vielen Angelegenheiten, die jetzt zu regeln waren. Wir, die Familie V., boten ihnen ab dem 07.03. unsere Gästezimmer als vorübergehende Unterkunft an. Am 08.03. war die Mutter von Frau O. nach ihrer langen Flucht über Warschau in Mannheim angekommen, sodass die O.s nun zu viert bei uns wohnten. Wir, die Familie M., richteten in unserem Haus in Wochenend- und Nachtarbeit eine Wohnung her, in die die Familie O. am 01.04. einziehen konnte. Seit dieser Zeit sind wir Nachbarn und kümmern uns um die Familie. Alle Anträge sind gestellt, die Registrierung ist erfolgt, der Sohn geht in die Schule und in den Sportverein und die Erwachsenen haben Arbeit in Aussicht. Parallel dazu arbeitet Herr O. ehrenamtlich im Rathaus der Gemeinde Bad Schönborn, um die Hauptamtlichen dabei zu unterstützen, den vielen ukrainischen Flüchtlingen das Ankommen zu erleichtern. „Wir können und werden Ihnen helfen!“, haben Sie, Frau Faeser, allen Flüchtlingen versprochen, und in Bad Schönborn sind wir bemüht, Ihr Versprechen in die Tat umzusetzen. Das ist wie überall in Deutschland ganz selbstverständlich und das ist auch gut so.
Was hoffentlich nicht selbstverständlich ist, ist die aktuelle Situation der O.s: Derzeit bekommt die Familie keine Leistungen nach dem AsylbLG, die Fiktionsbescheinigung wird nicht ausgestellt ohne dass dies schriftlich begründet wird oder ein offizieller Bescheid erstellt wird und der Familie wurde bedeutet, dass sie wieder ausreisen müsse, da sie über das „sichere Drittland Ägypten“ eingereist sei. Bei der Registrierung der Familie im Landratsamt in Karlsruhe am 29.03. wurde von einer netten Kollegin gesagt: „Es ist alles in Ordnung!“ Leider ist nichts in Ordnung: O.s bekommen kein Geld, es gibt noch keinen gültigen Mietvertrag mit der Gemeinde (was das geringste Problem ist) – und zu allem Überfluss erreicht die Familie am 20.05. ein offizielles Schreiben des Landratsamtes mit der Aufforderung, einen Asylantrag zu stellen, im krassen Widerspruch zur Darstellung auf der Website des BAMF.
Können Sie verstehen, dass die Familie tief verunsichert ist? Sie erlebt die Verwaltung in Deutschland oft von ihrer bürokratischen und abweisenden Seite. Und wir ehrenamtlichen Unterstützer sind enttäuscht über die Unfähigkeit der Verwaltung, die Angelegenheiten der Flüchtlinge schnell und vernünftig zu regeln. Warum kann in Behörden nicht gelten, was für uns selbstverständlich ist: „Wir können und werden Ihnen helfen!“? Warum gibt es bis heute keine Fiktionsbescheinigung, obwohl Sie, liebe Frau Faeser, in Ihrem Video versprochen haben: „Nach Registrierung können Sie sofort in Deutschland arbeiten.“? Warum wird im Landratsamt Karlsruhe auf ein „sicheres Drittland Ägypten“ verwiesen, wenn im Landratsamt Mannheim ein Ehepaar, das ebenfalls durch die Vermittlung von uns, der Familie R., aus Ägypten (gleiches Hotel) zunächst in Bad Schönborn und dann in Mannheim untergekommen ist, eine Fiktionsbescheinigung erhält? Warum gelingt es in Polen, 3,4 Mio. Ukrainer aufzunehmen und wir in Deutschland scheinen mit 650.000 Menschen schon überfordert?
Wir schämen uns für unser Land und für all das, was die Familie O. hier von Behörden erlebt. Wir sind fassungslos über die bürokratischen Hürden in vielen Behörden. Wir sind verärgert darüber, wie schwer es ist, Verantwortliche ans Telefon zu bekommen, Antworten auf E-Mails zu erhalten, um dann auf andere Behörden verwiesen zu werden, die dann ebenfalls nicht erreichbar sind.
Wir erwarten von den Behörden und Verwaltungen, dass sie Kompetenz, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit an den Tag legen. Es liegt durchaus nahe, anzunehmen, dass all diese Fehlleistungen nicht den einzelnen ausführenden Beamten im Landratsamt, Ausländeramt , Integrationsstelle etc. anzulasten sind. Wir vermuten eher, dass diese Kollegen, die sicher auch helfen wollen, wo immer es geht, es mit irreführenden oder widersprüchlichen Vorgaben übergeordneter Stellen zu tun haben. Daher bitten wir Sie, hier dringend tätig zu werden.
Unsere Befürchtung ist, dass das Ergehen der Familie O. in Bad Schönborn kein Einzelfall ist. Die Familie hat alles richtig gemacht: Sie hat sich um Arbeit bemüht, hat eine Wohnung und hat Arbeit in Aussicht. Wir haben mit vielen anderen dazu beigetragen, dass das möglich ist. Warum gibt es für diese Familie kein Geld, keine Fiktionsbescheinigung, keine Sprachkurse, sondern stattdessen die behördliche Aussage zum „sicheren Drittstaat Ägypten“ (die als Drohung der Abschiebung empfunden wird) und die amtliche Aufforderung, beim BAMF einen Asylantrag zu stellen?
Eine Familie, deren Heimatstadt zerbombt ist, die sich Sorgen um das Leben der Freunde und Verwandten in der Ukraine macht, ist zu uns nach Deutschland gekommen. Viele Menschen haben viel investiert, damit sie hier zunächst bleiben können. Und heute bekommen sie weder staatliche finanzielle Unterstützung noch können sie die Arbeit aufnehmen, die sie sich gesucht haben und es wird ihnen sogar gesagt, dass sie Deutschland Ende Mai wieder verlassen müssen.
Verstehen Sie unsere Empörung? Wir bitten Sie alle – im Bund, in Baden-Württemberg und im Landratsamt Karlsruhe, dafür zu sorgen, dass die Familie O. ihre Fiktionsbescheinigung bekommt und dass das ihnen zugesagte Geld zügig überwiesen wird. Und wir bitten Sie, dafür zu sorgen, dass dieser Fall ein Einzelfall bleibt und dass wir unser Versprechen tatsächlich einhalten, das wir den ukrainischen Geflüchteten gegeben haben.
Herzliche Grüße
Familie R. Familie V. Familie M.